Ringelai. Ein selbstbestimmtes Leben führen trotz Behinderung – das möchte Denise Degenhart. Die 22-Jährige hat spinale Muskelatrophie. „Mein zentrales Nervensystem gibt nicht genügend Befehle an die Muskeln weiter“, erklärt sie. Die Folge: Immer mehr Muskelzellen sterben ab – und sie kann sich im Laufe der Zeit immer weniger bewegen. Trotzdem möchte Denise selbst bestimmen, wie ihr Alltag abläuft, wann sie etwas unternimmt. Sie möchte so frei wie möglich sein. Und dafür sucht sie nun Assistenten.
„Ich geh‘ gern auf Konzerte und ins Stadion zu Fußballspielen“, erzählt Denise. „Und ich geh‘ gern shoppen.“ Dass sie nicht auf ihren eigenen Beinen in die Geschäfte gehen kann, vergisst man fast, wenn sie mit leuchtenden Augen von ihren Hobbys berichtet. Im Gespräch mit Denise wird schon nach wenigen Augenblick klar: Hier sitzt vor einem eine junge Frau im Rollstuhl, deren Krankheit sie nach und nach unbeweglicher macht – die sich dadurch aber so wenig wie möglich einschränken lassen möchte.
„Ich bin für jeden Schmarrn zu haben“
„Wer mein Assistent werden möchte, muss lebensfroh sein und flexibel“, sagt Denise und lacht. „Aber auch verantwortungsbewusst“, ergänzt sie. Er müsse offen sein für einen engen Kontakt mit ihr. „Ich glaub‘, ich bin recht unkompliziert“, denkt sie über sich selbst. „Und für jeden Schmarrn zu haben.“
Wer für Denise arbeiten will, sollte auch Hunde mögen – so wie auch die 22-Jährige, die einen Terrier besitzt („Kuschelhund“) und gerade einen jungen Labrador in Eigenregie zu ihrem Assistenz-Hund ausbildet. Der Vierbeiner soll unter anderem lernen sich bemerkbar zu machen, wenn sie mit dem Rollstuhl gegen ein Regal im Supermarkt stoßen könnte. Denn Denise kann ihren Kopf nicht mehr bewegen, was ihr Gesichtsfeld entsprechend einschränkt. Ihr Hund unterstützt sie dabei, sich im Rollstuhl ohne fremde Hilfe freier zu bewegen. Im Alltag braucht sie jedoch auch bei vielen anderen Dingen Beistand.
Derzeit hat Denise, die in einer Einliegerwohnung in ihrem Elternhaus bei Ringelai wohnt, eine persönliche Assistentin, die allerdings nur sechzehn Stunden pro Woche bei ihr ist. Den Rest der Zeit sind es ihre Eltern, die immer in der Nähe sind und sich um sie und ihre Bedürfnisse kümmern.
Erst vor Kurzem hat Denise die Bewilligung erhalten, auch an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr Assistenten zu beschäftigen. Sie ist daher auf der Suche nach Menschen, die ihr ein vorwiegend selbstbestimmtes Leben ermöglichen. „Ich möchte für meine Eltern jetzt einfach mal Tochter sein und nicht immer jemand, der Hilfe braucht“, sagt sie. Ihr sei wichtig, trotz ihrer Einschränkungen das Leben eines Erwachsenen führen zu können.
Das Persönliche muss stimmen, Pflege lässt sich erlernen
Ihr Facebook-Aufruf hat bisher nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Und das, obwohl jeder Denise‘ Assistent werden könnte, denn: Sie sucht nicht nach ausgebildeten Pflegekräften. „Man verbringt so viel Zeit miteinander, da ist es wichtig, dass das Persönliche passt“, sagt sie. „Ich suche jemanden, der meine Hände und Füße ersetzt.“ Alles weitere, was die Pflege betrifft, könne jeder schnell erlernen.
Auch bei ihrer bisher einzigen Assistentin Carola war dies so: Die gelernte Diätassistentin wollte sich beruflich verändern und hat berufsbegleitend soziale Arbeit studiert. Weil sie im selben Dorf wohnt wie Denise, hat sie erfahren, dass die junge Frau jemanden sucht, der sie im Alltag begleitet.
„Sie weiß, wann sie etwas braucht“, sagt Carola. Und sie kenne sich mit den meisten Dingen, die sie aufgrund ihrer Erkrankung benötigt, selbst gut aus – sei es in Sachen Beatmung, künstlicher Ernährung, Inhaliergerät oder Werteüberwachung. „Ich sehe aber den Knopf nicht, wo man die Maschinen einschaltet“, sagt Denise und schmunzelt. Und selbst betätigen kann sie ihn auch nicht.
Unlängst zählte das Fotografieren zu ihren Hobbys. Die Kamera zu halten und den Auslöser zu drücken – dazu war sie bis vor wenigen Monaten noch in der Lage. Trotz Handicap hat sie so vieles geschafft: den Schulabschluss, die Ausbildung zur Bürokauffrau sowie die Anstellung als Webmaster-Job am Landratsamt Freyung-Grafenau. Denise überlässt ihr Leben nicht der spinalen Muskelatrophie. Sie selbst entscheidet, was sie machen will – und findet zumeist einen Weg, diesen zu absolvieren. Bis vor drei Jahren sei ihre Krankheit „recht stabil“ verlaufen, sagt die 22-Jährige. Seither gebe es vermehrte Schübe, die sie zunehmend einschränken, ihr das Atmen erschweren. Und die sie abhängiger machen von Menschen, die ihr zur Hand gehen.
Denise hat sich die Kostenübernahme erkämpft
Dass Denise nun rund um die Uhr von persönlichen Assistenten betreut werden kann, hat sie dem so genannten Teilhabegesetz zu verdanken. Seit zwei Jahren soll das Gesetz behinderten Menschen ermöglichen, gleichberechtigt am Leben teilnehmen zu können. Dabei werden Hilfsleistungen an den individuellen Bedarf angepasst. Für Denise bedeutet das, dass ab sofort 4,5 Assistenzstellen über ihr so genanntes persönliches Budget bezahlt werden. Ein persönlicher Assistent mache sie flexibler, sie müsse Aktivitäten nicht Monate im Voraus planen, nicht nach jemandem Ausschau halten, der sie beispielsweise auf ein Grillfest oder ein Konzert begleitet.
Ein Nachteil des Teilhabegesetzes: Betroffene müssen jede einzelne Leistung beantragen – und die Behörden entscheiden, ob der Bedarf dafür gegeben ist. Bis die Versorgung durch Assistenten – rund um die Uhr und sieben Tage die Woche – bei Denise genehmigt war, verging viel Zeit. Einer der Knackpunkte: Die Behörden wollten Denise nicht 24, sondern nur 18 Stunden tägliche Betreuung bewilligen. Sechs Stunden wurden als Schlafenszeit gerechnet. Dass ein persönlicher Assistent aber auch in dieser Tagesphase in Denise‘ Nähe bleiben, sie eventuell umlagern oder im Krankheitsfall auch ihre Atmung überwachen muss, sei erst nach längerem Hin und Her berücksichtigt worden.
Die Verzögerung der vollen Kostenübernahme war ein Grund dafür, dass der erste Facebook-Aufruf, den sie bereits vor einem halben Jahr startete und der mehr als eintausend Mal geteilt wurde, bislang nicht von Erfolg gekrönt war. „Damals hätte ich mehrere gefunden“, sagt Denise. Diese Bewerber seien jedoch wieder abgesprungen, als es nicht – wie ursprünglich geplant – im April mit der Betreuung losgehen konnte.
„Dann entdeckt man immer Wege“
In wenigen Tagen geht Denise offiziell in Früh-Rente. „Die Arbeit ist körperlich zu anstrengend geworden“, sagt sie. Nun wolle sie ihre Kraft in all die Dinge stecken, die sie nach wie vor machen kann – und will. Sie möchte so frei und flexibel wie nur irgendwie möglich leben. Es gibt kaum etwas, das die 22-Jährige sich von ihrer Krankheit verbieten lässt: „Man darf sich im Kopf nicht so einschränken, dann entdeckt man immer Wege“, gibt sie sich kämpferisch.
Sabine Simon
Wer gerne Denise‘ Assistent werden möchte, kann sich direkt per Email bei ihr melden: degenhart.denise@web.de