Lackenhäuser/Neureichenau/Waldkirchen/Wegscheid. Vier Jugendliche hatten Anfang Juli in der Neureichenauer Jugendhilfeeinrichtung „Freedom“ unter Alkoholeinfluss randaliert, zwei davon leisteten massiven Widerstand gegen die Polizeibeamten, die bei dem Einsatz verletzt wurden. Nur ein paar Tage später kam es dort zu einem weiteren Zwischenfall, bei dem Polizisten erneut beleidigt und angegriffen worden sind. Unschöne Vorfälle, wie auch Dr. Volker Barth und Andreas Meisinger von der für die Jugendhilfe-Einrichtung zuständigen Fachklinik Schlehreut im Hog’n-Interview beteuern.
Doch sie möchten genauso die Hintergründe für jene Vorfälle schildern und ganz generell über die Freedom-Einrichtungen im Landkreis Freyung-Grafenau und deren Bewohner berichten. Dr. Volker Barth, Geschäftsführer und Klinikleiter, hat das Freedom-Konzept einst entworfen, als er 1992 nach Bayern kam, um die Fachklinik bei Wegscheid zu übernehmen. Die meisten Jugendlichen in den Einrichtungen in Lackenhäuser, Schachtlau bei Neureichenau (beides Aufnahmehäuser) und Waldkirchen (Stadtwohngruppe) kommen überwiegend aus den Nachbarlandkreisen sowie ganz Bayern in den Bayerischen Wald. Dabei handelt es sich um Heranwachsende im Alter zwischen zwölf und 21 Jahren, die aus allen Gesellschaftsschichten stammen: aus Ärzte-Haushalten genauso wie aus Hartz-IV-Haushalten. Aktuell sind ca. 50 Jugendliche untergebracht, die von ebenso vielen pädagogischen Fachkräften betreut werden.
Knast oder Therapie
Welche Gründe gibt es für die jüngst recht gewaltsam verlaufenden Vorfälle, bei denen Freedom-Jugendliche Polizisten bzw. Jugendhilfe-Mitarbeiter verletzt hatten?
Barth: Wir als Gesellschaft haben es „hingekriegt“, Jugendliche so wenig zu erziehen, dass diese irgendwann in stationären Jugendhilfe-Einrichtungen untergebracht werden müssen. Wir als stationäre Jugendeinrichtung versuchen sie dann wieder auf einen geraden Weg zu führen, was jedoch nicht bei allen hundertprozentig klappt. Die Frage ist: Wer hat da versagt? Wir als Gesellschaft natürlich, aber insbesondere auch die Eltern. Die Kinder haben keine Strukturen erhalten, haben keine Zuwendung, keine Beziehung erlebt. Die Kindergärten und Schulen sind oftmals überfordert.
Was passiert mit den zuletzt auffällig gewordenen Jugendlichen nun?
Barth: Diejenigen, die Gewalt gegen Polizisten bzw. Mitarbeiter angewandt hatten, haben wir entlassen. Mehr können wir hier nicht tun. Unser Wunsch wäre es – und da sind wir mit der Polizei auf einer Linie -, dass immer relativ schnell Konsequenzen erfolgen. Das Beste aus fachlicher Sicht wäre es, wenn jemand, der mit Gewalt gegen Polizeibeamte vorgeht, sofort die Konsequenzen seines Handelns zu spüren bekäme. Das heißt: Der Jugendrichter verurteilt denjenigen etwa unmittelbar zu einer Arreststrafe.
Aber das passiert leider viel zu selten – da werden vielmehr mehrere Monate andauernde Verfahren eingeleitet. Für einen Jugendlichen kommt ein Zeitraum von mehreren Monaten jedoch häufig einer Ewigkeit gleich. Bis es also zu einer Verurteilung kommt – meistens Sozialstunden oder Jugendarrest -, ist das alles bereits wieder aus den Köpfen heraus. Für den Jugendlichen ist somit nur ein „Riesenspaß“ gewesen, der für ihn keine unmittelbaren Konsequenzen nach sich zieht. Da läuft etwas schief. Denn wir sagen: Die Konsequenz muss ganz direkt erfolgen, dann lernen die Jugendlichen auch etwas daraus – sowohl im Positiven als auch im Negativen.
Meisinger: Die Jugendlichen wurden schon häufig aufgegeben – von der Gesellschaft, von den Eltern, den Schulen etc. Bei uns erhalten sie nun nochmals eine Möglichkeit, die viele auch nutzen. Man darf dabei nicht vergessen: Sie kommen in einem Zwangskontext zu uns. Das heißt: Sie kommen zu uns, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollen – aber sie müssen, weil ihre Eltern bestimmen können, wo sich die Jugendlichen aufhalten. Oder weil sie sonst ins Gefängnis müssten. Knast oder Therapie. Mit einer Therapie haben sie nochmals die Möglichkeit, einen gewissen Schaden abzuwenden.
Wenn ich straffällig werde, müssen die mich rauswerfen
Die Jugendlichen, die zu uns kommen, waren teils über einen längeren Zeitraum nicht mehr in der Schule, hingen auf der Straße rum, haben gekifft oder härtere Drogen genommen, haben geklaut oder andere Straftaten begangen. Da dauert es verständlicherweise eine gewisse Zeit in unserer Einrichtung, bis da ein erstes Umdenken stattfinden kann. Deshalb ist auch die Beziehungsarbeit ein großes Thema. Die Betreuer sollen eine Beziehung zu den Jugendlichen aufbauen – diese ist in den ersten Wochen noch nicht gegeben. Häufig sind es dann auch diejenigen Jugendlichen, die erst ein paar Wochen oder Monate bei uns sind, die versuchen auf eine bestimmte Weise wieder rauszukommen. Nach dem Motto: Wenn ich straffällig werde, müssen die mich rauswerfen.
Barth: Sie kennen teilweise gar keine andere Art sich mit Problemen auseinanderzusetzen. In den Elternhäusern waren sie fast ausschließlich mit Gewalt konfrontiert. Als Opfer von Gewalt. Die Erwachsenenwelt besteht dann zwangsläufig aus Feindbildern wie die Polizei. Auch die Jugendämter, auch wir als Jugendhilfeeinrichtung gehören dazu. Da dauert es lange, bis so etwas wie Vertrauen entsteht. Von den Jugendlichen, die zuletzt polizeilich auffällig geworden sind, war keiner länger als ein paar Monate bei uns.
Wie sind diese Jugendlichen an den Alkohol gekommen?
Barth: Wir haben keine hochgefährlichen Jugendlichen hier – die werden in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht. Wir sind keine geschlossene Einrichtung. Das Gewaltmonopol hat in Deutschland die Polizei. Wenn also unsere Jugendlichen gehen wollen, können wir versuchen sie zum Bleiben zu überreden. Wir können sagen: Ihr dürft nicht gehen – wenn sie aber trotzdem gehen, müssen wir die Polizei anrufen, die dann die Jugendlichen zurückbringen.
Meisinger: Die Jugendlichen gehen außer Haus und besorgen sich den Alkohol, etwa in Supermärkten, an der Tankstelle. Da werden auch längere Fußmärsche in Kauf genommen – oder sie trampen. Es gibt immer Wege, sich Alkohol zu beschaffen.
Man kann da keinen Schalter ad hoc umlegen
Waren diese gewaltsamen Auseinandersetzungen Einzelfälle oder passieren diese in den Freedom-Einrichtungen häufiger?
Barth: Gewalt gegen Polizei bzw. gegen Mitarbeiter ist in unserer Einrichtung die Ausnahme – und ein absolutes No-Go.
Welche Strategien gibt es, um solche Extremfälle künftig zu vermeiden?
Barth: Sie müssen davon ausgehen, dass alle Jugendlichen, die zu uns kommen, keine frommen Lämmer sind. Sie haben alle ihre Geschichte. Man bietet ihnen zum einen Strukturen, zum anderen auch Beziehungen an. Diese Vorgehensweise funktioniert in der Regel sehr gut. Unsere Mitarbeiter sind oftmals die ersten Erwachsenen, die den Jugendlichen eine verlässliche Beziehung anbieten. Verlässlich in beide Richtungen. Die ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie es wert sind, mit ihnen zu arbeiten. Das funktioniert, aber das braucht eben auch Zeit.
Wie gesagt: Wenn die Jugendlichen zu uns kommen, sind sie erst einmal auf Krawall gebürstet. Sie sind aggressiv und wollen nicht hier sein. Sie befinden sich gezwungenermaßen plötzlich in einem strukturierten Umfeld, in dem sie morgens aufstehen und in die Schule gehen müssen, in dem sie im Haushalt mithelfen und zu bestimmten Veranstaltungen gehen müssen. Sie merken dann auch allmählich, dass es einen anderen Teil der Hausgemeinschaft gibt, der schon länger da ist und nicht auf Randale aus ist. Diese gehen dann auch auf sie zu, versuchen die Verweigerer mitzunehmen, etwa nach getaner Pflicht an den See zum Schwimmen. Und wenn die Jugendlichen das einmal erleben, dass so eine Einrichtung nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile bietet, wenn sie realisieren, dass sie ernst genommen werden mit ihren Ecken und Kanten, dann entsteht etwas Neues. Sie machen dann auch ihre Schulabschlüsse – heuer haben wir zehn bis zwölf – ebenso ihre Berufsabschlüsse. Fakt ist: Sie brauchen eine gewisse Zeit der Eingewöhnung und Strukturierung – man kann da keinen Schalter ad hoc umlegen.
Es gibt weniger Ängste als Vorurteile
Gibt es im Umfeld der Freedom-Einrichtungen Ängste in der Bevölkerung?
Barth: Ich denke, es gibt weniger Ängste als Vorurteile. Diejenigen, die Kontakt mit unseren Jugendlichen haben, die in Schulen gehen, Praktika mit ihnen machen oder sie ausbilden, die unsere Jugendlichen kennen, die sehen das etwas realistischer. Ansonsten ist es wie in der Durchschnittsbevölkerung auch. Einige sagen: Die Sache ist notwendig, die machen gute Arbeit. Andere sagen: Muss das unbedingt bei uns in der Nähe sein?
Meisinger: In Waldkirchen etwa haben uns die Nachbarn im vergangenen Jahr besucht. Das hat gepasst. Viele Waldkirchener wissen dennoch nicht, dass es eine Jugendhilfe-Einrichtung dieser Art in ihrer Stadt überhaupt gibt.
Dann hoffen wir, dass sich dies bald ändert. Ihnen weiterhin alles Gute.
Interview: Stephan Hörhammer