Bischofsreut. Was haben ein beschaulicher Edeka-Laden in einem Bayerwald-Dorf, ein Geophysiker aus Essen und ein rundlicher Diktator aus Pjöngjang gemeinsam? Erstmal nur wenig. Doch eigentlich sehr viel. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirken mag, ist der Sulzberg bei Bischofsreut ein zentraler Punkt für kontinentale, geopolitische Erwägungen. Hier befindet sich nämlich eine sogenannte seismische Primärstation, die wichtigste in ganz Mitteleuropa, betrieben von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover. Und wenn der Stalinist mit dem Haferlschnitt auf der koreanischen Halbinsel wieder mal mit etwas Plutonium hantiert, ist die Messstation am Sulzberg eine der ersten, die davon Wind bekommt…

Daten, Zahlen und Graphen, aber alles andere als trockene Materie: Christian Bönnemann mit seiner Kollegin, der Seimsologin Dr. Stefanie Donner. Foto: Bönnemann/BGR
Seit Mitte der 1980er Jahre befindet sich nahe der bayerisch-böhmischen Grenze die sogenannte GERESS-Anlage (GERman Experimental Seismic System), eine von 50 seismischen Primärstationen weltweit, die während des Kalten Krieges Kernwaffentests des kommunistischen Gegenübers erkennen sollte und heute zu den wichtigsten und empfindlichsten Messeinrichtungen in ganz Mitteleuropa zählt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde GERESS – einst mit Hilfe der USA ins Leben gerufen – 1997 in die Hände der BGR überführt.
„Eine Vorhersage von Erdbeben funktioniert nicht“
Wenn nun in Nordkorea, wie zuletzt im September 2017, ein Atomwaffentest durchgeführt wird, dauert es gerade einmal zwölf Minuten bis die seismischen Signale der Detonation im Bayerischen Wald wahrgenommen werden können. In diesem Fall vergleichbar mit einem Erdbeben der Stärke 5,2. Und dann geht alles ganz schnell, wie Christian Bönnemann, Leiter des Seismologischen Zentralobservatoriums der BGR erklärt. „Innerhalb weniger Stunden“, so der Geophysiker, erfolgt eine Bewertung der Ereignisse. Diese leite man umgehend an die Bundesregierung sowie an das Auswärtige Amt weiter. Im Ernstfall auch an den UN-Sicherheitsrat.

Kaum zu sehen, befinden sich im Dickicht des Waldes am Bischofsreuter Sulzberg 25 Messstationen des BGR. Foto: Bönnemann/BGR
Am Sulzberg nahe Bischofsreut befinden sich in einem Radius von zwei Kilometern ringförmig angeordnete Seismometerstationen, sieben Meter unter der Erdoberfläche. Diese ultrasensiblen Messstationen, 25 an der Zahl, spüren selbst die kleinste Regung im Erdinnern auf: wie etwa Erdbeben, aber eben auch illegale Atomwaffentests.
Eigentlich ist Bönnemanns Behörde in Hannover zunächst einmal für die Erdbebenüberwachung zuständig. Er und seine 25 Mitarbeiter machen sich dabei ein Bild über die Gefährdungslage und schätzen etwaige Risiken ab. Diese sind in Deutschland vergleichsweise gering: Durchschnittlich ein Mal pro Jahr ereignet sich hierzulande ein Erdbeben, das über die Stärke 4,5 auf der Richterskala hinausgeht.
„Eine Vorhersage von Erdbeben funktioniert nicht – und wird sie auch nie“, betont Bönnemann. Er und sein Team können jedoch Normen für erdbebensicheres Bauen vorgeben – und zumindest kurzfristige Warnungen aussprechen. Bevor die Erde richtig bebt, erklärt der Seismologe, sind sogenannte Kompressionswellen messbar. Danach bleiben einige Sekunden Zeit, um die Bevölkerung zu warnen und um etwa U-Bahnen und Schnellzüge zu stoppen, Gasleitungen zu schließen. Im Ernstfall kann die Arbeit der BGR also Leben retten.
„Jeder kann sich ein Bild von der Lage verschaffen“
Neben der Überwachung und der Forschung zu menschengemachten Erdbeben, etwa durch Bergbauaktivitäten, besteht Bönnemanns zweite wichtige Aufgabe darin, die Einhaltung des Kernwaffenteststopp-Vertrags (CTBT) zu überwachen. Dieser soll allen Nationen jede Art von Kernwaffentests – egal zu welchen Zwecken – verbieten.

Sieben Meter unter der Erde werden die seismischen Aktivitäten gemessen – seien sie noch so gering. Foto: Bönnemann/BGR
Zwar wurde der 1996 von der UN initiierte CTBT nach wie vor nicht von allen Ländern unterzeichnet oder ratifiziert – vor allem wichtige Global Player wie China oder die USA sind hier noch säumig -, dennoch habe die Arbeit des BGR Bönnemann zufolge abschreckende Wirkung. Er und sein Team sorgen für Transparenz, „jeder kann sich somit ein Bild von der Lage verschaffen“. Dass die USA nun aus dem INF-Vertrag mit Russland, der ein Verbot von nuklearen Mittelstreckenraketen festschreibt, sowie dem Atom-Abkommen mit dem Iran aussteigen will, sei nicht gerade beruhigend. Aus seiner persönlichen Sicht sehe er – in einer Welt multipolarer Machtkonstellationen mit diversen potenziellen Konfliktherden – wieder eine verstärkte „Gefährdung“.
Doch wie erkennt Bönnemann nun eigentlich, ob es sich um ein Erdbeben oder um einen illegalen Atomwaffentest handelt? „Das sieht man sofort“, erläutert der Seismologe – und zwar am Wellenbild. Während bei einem Erdbeben am Bildschirm eher eine Art „Wellensalat“ auszumachen sei, ist bei einem Atomwaffentest ein plötzlicher Ausschlag, eine „plötzliche Kraft“ erkennbar. Außerdem können Bönnemann und Kollegen auf ein globales Netz an Messstationen zurückgreifen – auch auf jene, die radioaktive Stoffe messen. Spätestens dann ist relativ schnell klar, was Sache, wer der Übeltäter ist.
Kristallingestein und viel Ruhe
Dass man sich mit Bischofsreut ein besonders ruhiges Fleckchen in der Bundesrepublik ausgesucht hat, ist kein Zufall. Einerseits bestehe der Sulzberg größtenteils aus Kristallingestein, was für derartige Erhebungen besonders gut geeignet sei. Andererseits habe die Entscheidung für den Bayerwald-Standort mit der Abwesenheit potenzieller Störfaktoren (Infrastruktur, Industrie oder Autobahnen) zu tun, die es den Forschern ermöglicht, sich ein klares Bild von den seismischen Aktivitäten zu verschaffen.

Christian Bönnemann uns sein Team bei der Arbeit: Rund vier Wochen pro Jahr sind die Forscher am Sulzberg zugegen. Foto: Bönnemann/BGR
Bönnemann selbst, in Essen geboren und gerade 60 geworden, konnte sich schon zu Schulzeiten für Mathe und Physik begeistern. Und ebenso „für die große, weite Welt“. Als er dann von „einem Fach namens Geophysik“ hörte, war die Entscheidung für ein Studium an der Ruhr-Universität Bochum schnell gefallen. Seine Arbeit, so erklärt er, könne trotz viel trockener Materie in Form von Zahlen und Graphen dennoch emotional bewegend sein. Er erinnere sich beispielsweise noch genau an die Katastrophe im japanischen Fukushima. „Entsetzt und betroffen“ seien er und sein Team damals gewesen. Was auf Bönnemanns Bildschirm – relativ nüchtern – als Graph erscheint, kann am anderen Ende der Welt hunderte, ja tausende von Menschenleben bedeuten. Seiner Forschung sowie der Überwachung des Kernwaffenteststopp-Vertrags liege damit immer auch die Motivation zu Grunde, „Menschen zu retten“.
Kim Jong-Un und der Supermarktbetreiber von Bischofsreut

Nur ein kleiner Hinweis darauf, dass der Sulzberg für geopolitische Überlegungen weit wichtiger ist, als man vielleicht denken mag. Foto: Bönnemann/BGR
Dabei wird der BGR das Leben nicht immer leicht gemacht. Zwar sei es mittlerweile nur noch Nordkorea, das regelmäßig Nuklearwaffen testet (und dies alles andere als „heimlich“, sondern mit möglichst viel medialem Tamtam). Auf Bönnenmann und seine Kollegen warten jedoch neue Herausforderungen: Testexplosionen werden etwa heutzutage mit wesentlich kleineren Mengen Sprengstoff durchgeführt – möglichst geräuschlos also – oder finden mit Hilfe von Hochleistungscomputern gleich ganz im Virtuellen statt. Von sogenannten numerischen Simulationen spreche man dann. Für solche Tests, wie Bönnemann erklärt, fehle dem Regenten von der koreanischen Halbinsel aber noch das technische Know-how.
Rund vier Wochen im Jahr sind BGR-Mitarbeiter und zuweilen auch der Leiter des Seismologischen Zentralobservatoriums in Bischofsreut zugegen. „Sehr gern“ seien sie hier in der Ecke. Und die restlichen 48 Wochen? Da schaut Thomas Madl nach dem Rechten. Dieser betreibt in Bischofsreut einen Edeka-Laden und ist so etwas wie der seismologische Hausmeister der Messeinrichtung am Sulzberg. Er nimmt Wartungen und kleinere Reparaturen vor, steigt regelmäßig in die sieben Meter tiefen Schächte hinab und kontrolliert, ob dort alles in geordneten Bahnen läuft.
- Seismologische Station_Bischofsreut
- Thomas Madl
- Seismologische Station_Bischofsreut
- Seismologische Station_Bischofsreut
- Seismologische Station_Bischofsreut
- Seismologische Station_Bischofsreut
Ob Kim Jong-Un weiß, dass es nicht nur Donald Trump oder Angela Merkel, sondern ein Supermarktbetreiber aus dem Bayerischen Wald ist, der versucht ihm das Leben schwer zu machen…? Wohl kaum. Aber wie so oft versteckt sich der Teufel im Detail. Oder eben in Bischofsreut.
Johannes Greß