Passau/Haidmühle/Damaskus. Nisreen Abo Khamis und Mahmout Allahham sind Palästinenser. In ihren derzeitigen Pässen ist in der Rubrik Staatsangehörigkeit der Begriff „staatenlos“ vermerkt. Bevor sie 2015 vor dem Krieg in Syrien flohen, lebten sie in Damaskus, der syrischen Hauptstadt. Sie landeten schließlich in Haidmühle nahe der bayerisch-tschechischen Grenze. Nach vier Jahren in Deutschland können sich die Familienangehörigen nicht mehr vorstellen, von hier weg zu gehen, wie sie beim Besuch des Onlinemagazins da Hog’n berichten.
„Mama, bitte sprich deutsch mit mir!“ Wenn Nisreen mit ihrem jüngsten Sohn Mohammad arabisch redet, versteht er sie nicht immer, erzählt sie. Der Siebenjährige ist mittlerweile länger in Deutschland zu Hause als in Syrien. Im Kindergarten und in der Schule hat er perfekt Deutsch gelernt – auch mit seinen beiden Brüdern Wael (11) und Khalil (10) unterhält er sich auf Deutsch.
„Ich war mein ganzes Leben in Damaskus, vierzig Jahre lang“
Jeden Samstag besuchen die drei Buben jetzt einen Arabischkurs. „Daheim hören die Jungs kein Hocharabisch“, erklärt Nisreen. Sie und ihr Mann sprechen einen arabischen Dialekt. Ihr jüngster Sohn hat nie die arabische Schrift erlernt, seine Brüder haben in Damaskus nur kurze Zeit die (Vor-)Schule besucht. Die Eltern möchten trotzdem, dass sie ihre Muttersprache sprechen und schreiben können. „Mohammad kann sich sonst nicht mal mit seiner Oma unterhalten“, sagt Nisreen.
Ob sie ihre Muttersprache allerdings jemals wieder in Syrien sprechen werden, weiß die Familie nicht. Sie alle fühlen sich in Deutschland wohl. Mutter Nisreen kann sich nicht vorstellen, irgendwann einmal nach Damaskus zurückzukehren: „Syrien ist nicht meine Heimat“, sagt die 36-Jährige. Nisreen hat nur zehn Jahre in Damaskus gelebt, davor in Saudi-Arabien. Für ihren Mann Mahmout ist die Situation nicht so einfach. „Ich war mein ganzes Leben in Damaskus, vierzig Jahre lang“, sagt er. Für ihn ist Syrien nach wie vor Heimat. Aber er betont: „Wenn meine Familie in Deutschland bleiben will, bleibe ich natürlich auch!“ Die Kinder sind sich ohnehin sicher: Sie wollen hier ihr Leben verbringen.
„Anfangs dachte ich: Das sind Ausländer wie ich.“
Dass sie Syrien einmal verlassen würden, hätten sie nicht gedacht, erinnert sich Nisreen. Bevor der Krieg ausbrach, waren sie sehr zufrieden dort. 2004 lernen sich Nisreen und Mahmout in Damaskus kennen. Zufällig. Ihre Ehe ist nicht arrangiert, sie darf ihn bereits vor der Hochzeit treffen. 2005 heiraten die beiden. Nisreen sagt, ihr Vater sei sehr modern eingestellt – und habe sie auch dementsprechend erzogen.
Sie hat Abitur gemacht und danach arabische Sprache und Literatur studiert. „Mein Vater hat immer gesagt: Das Lernen ist unsere Versicherung.“ Als Palästinenser gelten sie als staatenlos – die Familie wusste immer, dass sie aus Syrien wie auch dem Rest der Welt jederzeit vertrieben werden kann. „Wir hatten in Syrien eine Daueraufenthaltserlaubnis“, sagt Nisreen. „Die Angst war immer da, plötzlich gehen zu müssen.“ Vor dem Krieg hatten sie sich in dem vorderasiatischen Staat zu keinem Zeitpunkt als Außenseiter gefühlt – erst als der bis heute andauernde Konflikt ausbrach, sei es plötzlich ein Thema gewesen, dass sie Palästinenser sind.
Aufgewachsen ist Nisreen in Saudi-Arabien. Während es in Syrien durchaus unterschiedliche Meinungen darüber gebe, ob eine Frau ein Kopftuch tragen muss, sei dies in Saudi-Arabien für alle Mädchen ab dem Alter von sieben Jahren verpflichtend. Deshalb trage sie es auch heute noch. „Kopftuch bin ich einfach gewohnt“, sagt sie. Ohne fühle sie sich irgendwie seltsam. Aber das habe nichts mit Religion oder Zwang zu tun. „Hier in Bayern tragen ältere Frauen auch oft ein Tuch“, sagt Nisreen und lacht. „Anfangs dachte ich: Das sind Ausländer wie ich.“
Religion ist für Nisreen etwas Privates
Nisreen beschreibt sich selbst als gläubigen Menschen. Eine Moschee besucht sie aber eher selten. „Religion ist für mich etwas, das ich im Privaten mache, nicht in der Öffentlichkeit“, sagt sie. „Ich lege den Koran nicht so streng aus wie viele andere.“ Ihren Kindern beantworte sie Fragen zum Islam, ansonsten gestalte sich deren Erziehung wenig religiös: „Sie fragen manchmal und ich erzähle ihnen vom Koran.“ In der Schule besuchen sie den Ethik-Unterricht.
Familie Allahham wohnt seit zwei Jahren in Passau. Nach ihrer Flucht mit dem Flugzeug aus Syrien, vor vier Jahren, brachte man sie zunächst in Haidmühle unter. In dem Bayerwald-Dorf hatte es allen gut gefallen – vor allem, weil der dortige Helferkreis sie sehr unterstützt habe, wie Nisreen betont. Sie wollten allerdings so schnell wie möglich Deutsch lernen und arbeiten gehen. In Haidmühle bekamen sie privaten Deutschunterricht, die Sprachkurse für die höheren Niveaus (B1 und B2) fanden allerdings nur in Passau statt. Deshalb beschlossen sie, dorthin zu ziehen, wo sie auch ohne Auto alles erreichen konnten.
Die Sprache möglichst schnell zu erlernen, war ihnen wichtig. Beide sind sich sicher: Sprache ist das entscheidende Element, um in einem fremden Land akzeptiert zu werden. Seit sie sich sicher verständigen können, sind sie bisher noch nie auf jemanden gestoßen, der ihnen das Gefühl gegeben hätte, in Deutschland unerwünscht zu sein.
Syrien zu verlassen, das war für Familie Allahham alles andere als leicht. Vater Mahmout hatte überlegt, ein Flüchtlingsschiff zu besteigen und seine Familie dann nach Europa nachzuholen. „Alleine habe ich ihn aber nicht gehen lassen“, erzählt Nisreen. Sie wusste, dass es lange dauern würde, bis er sie und die Kinder nachholen dürfte, wenn er es bis nach Europa schafft. Allein mit drei Kindern im Krieg zurückbleiben – das konnte sie sich nicht vorstellen.
Wenige Meter von Nisreen entfernt fallen Schüsse
Familie Allahham lebte inmitten eines umkämpften Gebietes. Mahmout arbeitete als Pharma-Assistent, Nisreen war Arabisch-Lehrerin. Bombenangriffe gab es ganz in ihrer Nähe. „Wir haben im Flur geschlafen, weil das der sicherste Ort in der Wohnung war“, berichtet Nisreen. Wie viel Glück sie hatten, ist ihr heute überaus bewusst: „An einem Morgen, als ich zur Arbeit gegangen bin, haben sie die Frau erschossen, die wenige Meter vor mir lief“, erinnert sich die 36-Jährige. Sie habe die Hände gehoben und zitternd gewartet, bis jemand rief, sie könne gehen.
Wie nah die Gefahr war, wussten sie auch, als Kämpfer des sog. Islamischen Staates (IS) Mahmout aufforderten, für sie zu arbeiten. Immer wieder habe er SMS-Nachrichten erhalten. Er war zu jener Zeit als Laborant beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR beschäftigt. Seine Kenntnisse und Fertigkeiten waren im Krieg gefragt. Er wollte aber weder der Regierung noch den Rebellen helfen – Mahmout wollte unabhängig bleiben. „Die Kinder waren zu dieser Zeit schon nicht mehr in der Schule“, erzählt Nisreen. Der Weg dorthin war zu gefährlich. Mahmout kämpfte sich jeden Tag durch zwanzig bis dreißig Checkpoints.
Und dann folgte ein Anruf – mitten in der Nacht
Als die Situation immer schwieriger wurde, wandte sich Mahmout per Email an etliche europäische Botschaften. Er wollte mit seiner Familie fliehen. Ihr jüngster Sohn Mohammad war damals drei Jahre alt. Mahmouts Geschwister lebten bereits in Norwegen, Nisreens Familienanghörige in Dubai.
Der Familienvater hatte Glück: Die deutsche Botschaft im Libanon antwortete ihm auf sein Schreiben. Er musste eine weitere Email schicken, diesmal an eine Adresse des Auswärtigen Amtes. Mahmout sollte das Leben seiner Familie in Damaskus schildern, ihre Situation erklären und die Frage beantworten, warum sie Syrien verlassen wollten. Und dann folgte ein Anruf – mitten in der Nacht: „Wir sollten sofort Fotos von uns und unseren Pässen per Email senden“, erinnert sich Nisreen. „Sie brauchten am nächsten Tag schon alle Informationen.“ Doch in jener Nacht gab es in ihrem Haus keinen Strom…
Sabine Simon
Wie Familie Allahham es letztendlich geschafft hatte, nach Deutschland zu kommen und wie ihr Leben in Passau heute aussieht, davon erzählen Mahmout und Nisreen in zweiten Teil ihrer Flüchtlingsgeschichte.