Bayerischer Wald. Was in vielen Staaten der arabischen Welt mit Hoffnung, Aufbruch, Demokratisierung und Wohlstand verbunden war, endete in Syrien in einer Katastrophe. Vor acht Jahren, im März 2011, brach in Folge des Arabischen Frühlings ein Bürgerkrieg aus, der Schätzungen zufolge bis dato rund einer halben Million Menschen das Leben gekostet hat. Noch ein weitaus größerer Teil der Syrerinnen und Syrer musste seine Heimat verlassen, musste fliehen vor Bomben, Giftgas und Folter. Viele von ihnen kamen im Zuge der großen Fluchtbewegungen der letzten Jahre nach Deutschland, auch in den Bayerwald.
Hier teilen sie ihr Schicksal mit jenen Menschen, die – genau wie sie – aus politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Gründen einst ihre Heimat verlassen mussten – und in Niederbayern eine neue Heimat fanden. Mit einigen von ihnen hat da Hog’n damals gesprochen, ihre Geschichten und Erlebnisse, Hoffnungen und Ängste niedergeschrieben. Jahre später wollen wir nun wissen: Wie geht es diesen Menschen heute?
Somalia, Äthiopien, Sudan. 25 Tage durch die Sahara, ohne Nahrung. Libyen: Vier Monate Haft. Weiter nach Tunesien, mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer. Von Sizilien mit dem Zug nach München. Von dort aus landete der Somali Naasir nach einer siebenmonatigen Odyssee in der Marktgemeine Perlesreut (–>die gesamte Schilderung von Naasirs Flucht gibt es hier zum Nachlesen). Geschichten wie diese haben hunderttausende in Deutschland lebender Menschen zu erzählen. Menschen, die ihrem Heimatland aufgrund von Krieg, Verfolgung oder wirtschaftlicher Not den Rücken kehrten. Und sich für eine Reise ins Ungewisse entschieden.
Zwischen Aufbruchsstimmung, Hysterie und Ressentiments
So stellten im Jahr 2016 – dem Höhepunkt der Migrationsbewegungen – fast 750.000 Menschen einen Asylantrag in Deutschland, davon 84.000 in Bayern, wie das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf Hog’n-Nachfrage mitteilt. Politik, Medien, Stammtische und Kirchenverbände schienen in dieser Zeit kaum ein anderes Thema zu kennen. Wie mit den Neuankömmlingen umgehen? Wie integrieren? Wie viele kommen noch? Was wäre, wenn…? Die Debatte jener Zeit bewegte sich munter hin und her, zwischen Aufbruchsstimmung und Hysterie, zwischen Willkommenskultur und Ressentiments.
Mittlerweile sind es wieder weit weniger, die in Deutschland ihr Glück versuchen: Waren es 2017 nur mehr 220.000, kamen 2018 noch 185.000 Vertriebene in die Bundesrepublik. Vom 1. Januar dieses Jahres bis Ende Februar (aktuellster Stand) stellten in Bayern lediglich etwa 4.700 Menschen einen Antrag auf Asyl. Dass nun weniger Menschen hierher kommen, bedeutet allerdings nicht, dass einer der zahlreichen Krisenherde beigelegt worden wäre. Nach wie vor herrscht in Syrien das Chaos, flüchten Menschen vor totalitären, menschenverachtenden Regimen wie denen in Eritrea und Somalia. Nach acht Jahren Konflikt brauchen mehr als fünf Millionen Kinder in Syrien Hilfe. Viele sind vom Krieg erschöpft, haben Angst und müssen arbeiten und ihre Ausbildung aufgeben, um ihre Familien zu unterstützen
, vermeldete unlängst Andreas Knapp, Leiter der UNICEF-Wasserprogramme in Syrien.
Das umstrittene Abkommen mit der Türkei aus dem Jahr 2016, das Migrierende an der Weiterreise nach Europa hindern soll, sowie ein verstärkter europäischer Grenzschutz tragen maßgeblich zu den sinkenden Antragszahlen bei. Zudem ist man mittlerweile dazu übergegangen Länder wie Afghanistan als „sichere Herkunftsstaaten“ zu deklarieren – womit das Recht auf Asyl so gut wie aussichtslos wird. Ein Abkommen mit Libyen, das verhindern soll, dass Flüchtlinge sich von dort per Boot nach Europa aufmachen, führt dazu, dass Schlepper immer höhere Risiken eingehen müssen: Mittlerweile stirbt jeder 18. beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren. Dabei hat sich die „Flüchtlingsdebatte“ allmählich aus dem Stammtischrund zurückgezogen, ist in Medien und Politik (mit Ausnahme der Vorwahlzeit) nur noch leise zu vernehmen. Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn.
Sinkende Schutzquote ist politisch motiviert
Was zudem auffällt: Laut BAMF betrug die Schutzquote* für Asylbewerberinnen und -bewerber in Bayern im Jahr 2016 noch 64 Prozent. Mittlerweile erhält hierzulande nicht einmal mehr jeder Dritte das Recht auf Zuflucht. In anderen Bundesländern sieht es ganz ähnlich aus. Der Bayerische Flüchtlingsrat erklärt auf Nachfrage, dass eine derartige Entwicklung „sehr deutlich vom politischen Willen abhängig“ sei. Ist 2015 Syrerinnen und Syrern noch mehrheitlich Asyl gewährt worden, bekämen diese im Verlauf der darauffolgenden Jahre nur noch subsidiären Schutz.
Noch deutlicher sei diese Entwicklung bei afghanischen Asylbewerbern zu beobachten: Hier „fiel die Anerkennungsquote von etwa 70 Prozent im Jahr 2015 auf unter 40 Prozent im Jahr 2018, obwohl sich die Sicherheitslage im gleichen Zeitraum kontinuierlich verschlechterte und auch UN-Organisationen das Land wieder als Kriegsgebiet einstuften“, erklärt Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Seiner Meinung nach hängt die Entscheidung über einen positiven Asylbescheid nicht von der konkreten „Verfolgungssituation oder Verfolgungsgefahr“ ab, sondern vielmehr von „innenpolitisch motivierten Entscheidungen“. Dünnwald schlussfolgert daher: „Somit sind es politische, nicht rechtliche Rahmenbedingungen, die hier eine wesentliche Rolle spielen.“
Johannes Gress
* Die Schutzquote bezieht sich auf jene Menschen, die einen positiven Asylbescheid oder subsidiären Schutz erhalten. Zudem werden Menschen, für die ein Abschiebungsverbot gilt, miteinberechnet.
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Wie geht es den „Zuagroast’n“ heute?
Jene Menschen, die einst in den Bayerischen Wald gekommen sind (und über die da Hog’n berichtete), haben mittlerweile ganz unterschiedliche Wege eingeschlagen. Haben hier eine zweite Heimat gefunden oder ihr Glück anderweitig versucht. Heute, rund vier Jahre später, zeigt sich: Leicht war es für keinen von ihnen – und leicht ist es auch heute meistens noch nicht. Wie es Naasir, Schneider Ibrahim und den anderen Zuagroast’n heute geht, hat da Hog’n nachrecherchiert.
- Zuerst ein Praktikum, danach eine Ausbildung machte Naasir bei der Schreinerei Hafner in Perlesreut, nachdem der Somali in der Marktgemeinde angekommen war. Auch wenn ihm sein Umfeld große sprachliche Fortschritte während seiner Lehrzeit attestiert, lag die Hürde zum Bestehen der theoretischen Prüfung wohl einen Tick zu hoch. Seine Ausbildung gilt derzeit als „teilweise bestanden“, seine praktische Prüfung konnte er nämlich erfolgreich abschließen. Derzeit wohnt er in Grafenau, wo er eine Anstellung gefunden hat. –> Zum Nachlesen: „Ein Leben in Sicherheit: Naasir über seine Flucht von Somalia nach Perlesreut„
- Die Situation von Schneider Ibrahim gestaltet sich bis dato weitgehend unverändert, wie sein Umfeld mitteilt. Eine offizielle Arbeitserlaubnis, die Senegalesen im Regelfall nicht erhalten, bleibt ihm seit nunmehr vier Jahren verwehrt. Durch die Unterstützung des Vereins „CFJ – Chancen für Jeden“ kann Ibrahim weiterhin dem Schneider-Beruf (unentgeltlich) nachgehen. Ibrahim, der unlängst Vater wurde, wartet immer noch auf eine endgültige Entscheidung hinsichtlich seines Asylverfahrens. –> Zum Nachlesen: „Schneider Ibrahim: The very famous African Tailor from Senegal„
- Inge Schreiner** hatte im August 2015 die Pflegschaft für junge Asylbewerber übernommen. Da der damals 14-jährige Abdullah erneut strafbar wurde, wie Pflegemutter Schreiner heute erklärt, sei er aus Sicht ihrer Familie (mit Kleinkind) nicht mehr tragbar gewesen. Amir begann eine Bäckerlehre – und „musste Dinge über sich ergehen lassen, die kaum aushaltbar sind“. Als er seine Abschlussprüfung nicht bestanden hatte, der Druck des Ausländeramtes immer größer wurde, seien auch für Amir die Grenzen der psychischen Belastung erreicht gewesen. Dass er jeden Tag um 2 Uhr aufgestanden sei, täglich drei unbezahlte Überstunden machte, jeden Tag alles versucht habe, um hier Fuß zu fassen – und dann dennoch scheiterte, sei ihm zu viel geworden, erklärt Inge Schreiner im Rückblick. Er habe danach auch die Pflegschaft hin geschmissen. Was Amir heute mache, wisse sie nicht – sie befinde sich in einer „emotionale Zwickmühle“: Einerseits wolle sie wissen, wie es ihm heute ergeht – andererseits habe sie Angst davor, enttäuscht zu werden –>Zum Nachlesen: Pflegschaft für junge Flüchtlinge: „Weil ich dran glaube, dass es funktioniert“
- Über das Schicksal der Flüchtlingsfamilie Al-Khalil berichtete da Hog’n im April 2017 unter dem Titel: „Wenn die Heimat zu Grunde geht – und man dabei zusieht…“ Damals fand sie in Altreichenau eine Bleibe, heute lebt die Familie in Passau uns ist dort gut in die Gesellschaft integriert: „Sana und Ahmad Alkhalil gehen mittlerweile einer geordneten Tätigkeit im Bereich der Altenpflege nach, zusätzlich hat Sana einen Reinigungsjob übernommen und Ahmad trägt Zeitungen aus. Der Sohn macht eine Ausbildung zum Altenpfleger und die Tochter Ghazal besucht sehr erfolgreich das Gymnasium“, schilderte jüngst das Haidmühler Online-Magazin „Haibischl“.
- Suliman Safi startete im September 2016 in einem Hotel in Bischofsmais eine Ausbildung zum Koch. Diese hatte er jedoch abgebrochen. Hog’n-Informationen zufolge reiste er schließlich über Frankreich weiter nach Italien, wo sich seine Spur verliert.
–> Zum Nachlesen: Zwischen Hoffnung und Angst: Suliman Safis Traum vom schönen Leben - Als 18-Jähriger versuchte sich Aftab Khan im September 2016 als Koch-Azubi im Hotel Lindenhof in Drachselsried. Khan ist nach wie vor fester Bestandteil des Lindenwirt-Teams und mittlerweile verheiratet.
–> Zum Nachlesen: „Menschen wie Aftab können wir immer gebrauchen“
Johannes Gress, Stephan Hörhammer
** Namen geändert