Quo vadis, Europäische Union? Wohin gehst du? Diese Frage stellte sich vor knapp vier Jahren in einem gleichnamigen Hog’n-Beitrag. Es war die Zeit, als Menschen am Münchner Hauptbahnhof die ankommenden Flüchtlinge applaudierend mit Teddybären und Wasserflaschen empfingen. Als der britische Guardian titelte: „The Ugly German“, der hässliche Deutsche, sei ein für alle Mal vergessen. Wohin gehst du, Europäische Union? Auf diese Frage gibt es nun eine Antwort: Die EU stellt die Marinemission „Sophia“ auf dem Mittelmeer ein. Eine Bankrotterklärung gegenüber all‘ jenem, für was dieses Staatengebilde einst vorgab einzustehen.
Mindestens 50.000 Menschen rettete die Operation „Sophia“ in den vergangenen vier Jahren vor dem Ertrinken. Nachdem es der rechtsextreme italienische Innenminister, Matteo Salvini, zunächst privaten Seenotrettern untersagte, in Italien an Land zu gehen, fiel nun auch „Sophia“ der menschenverachtenden Politik seiner Regierung zum Opfer. Bei der Entscheidung über die Verlängerung der Operation legte Italien ein Veto ein – da nicht geklärt sei, wie die Geretteten anschließend in der EU verteilt werden. Dass die Zahl der Überfahrten von Libyen übers Mittelmeer unlängst drastisch gesunken war, um rund 80 Prozent, scheint in dieser wirren Logik schon längst keine Rolle mehr zu spielen.
Wie tödlich diese Entwicklungen sind, zeichnete sich bereits in den ersten Monaten dieses Jahres ab. Für gut 3,4 Prozent der Migrantinnen und Migranten endete die Überfahrt im Jahr 2018 tödlich. Die Sterberate im Zeitraum Januar bis März 2019 beläuft sich mittlerweile auf 11,5 Prozent (IOM). Viele von ihnen könnten jetzt noch am Leben sein. Genau wie die knapp 13.000 Menschen, die seit 2015 auf dem Mittelmeer umgekommen sind – beim Versuch, in Europa ein besseres Leben zu finden. Die Entscheidung, die Operation „Sophia“ einzustellen, ist nicht nur unmenschlich – sie ist tödlich.
53 Millionen Euro EU-Gelder an libysche Warlords
Auch die Ankündigung, man wolle die Seenotrettung der sogenannten libyschen „Küstenwache“ übergeben, ist nichts weiter als eine zynische Farce. Die selbsternannte Kontroll-Instanz ist ein Zusammenschluss verschiedenster Warlords, einschlägig bekannt (und von der UN dokumentiert) für Menschenhandel, Vergewaltigungen, Hinrichtungen und Folter. Unterstützt mit Geldern und Material aus der EU, in der ersten Hälfte des Jahres 2018 im Umfang von mindestens 53 Millionen Euro.
Als supranationaler Zusammenschluss für Frieden, Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ist jenes Staatengebilde der EU einst ins Rennen gegangen. 2012 erntete man dafür den Friedensnobelpreis. Das war vor sieben Jahren. Seitdem hat man das Heft aus der Hand gegeben. Oder besser: Es sich leichtfertig aus der Hand nehmen lassen. Von Populisten und Rassisten, von Demagogen und Heuchlern. Ausgerechnet von jenen, die die europäisch-abendländischen Werte ach‘ so hochhalten und sie mit jedem Satz und jedem Wort verächtlich mit den Füßen treten. Von all‘ jenen, die mit Hetze, Falschmeldung und Propaganda das eigene politische Überleben sichern. Von all‘ jenen, die anstatt Menschen vor dem Ertrinken zu retten lieber Zäune hochziehen. Von all‘ jenen, die nichts weiter sind als eine Schande für dieses europäische Projekt.
Eine Kapitulation vor den Feinden Europas
Was soll diese EU noch für ein „Friedensprojekt“ sein? Ein Friedensprojekt, in dem Menschen wie Salvini Rettungsschiffen die Einfahrt in italienische Häfen verwehren und Seenotrettung unter Strafe gestellt ist? Ein Friedensprojekt, in welchem Menschen wie Ungarns Orban und Polens Kaczynski jedem Nicht-Europäer die Menschlichkeit absprechen? Ein Friedensprojekt, in denen Menschen wie Strache die pausenlose Diskriminierung von Musliminnen zum Kern des eigenen Regierungsprogramms machen? Ein Friedensprojekt, in dem Menschen und Menschlichkeiten durch Un-Menschen und Un-Menschlichkeiten ersetzt wurden! Menschen, Unmenschen.
Wohin gehst du, Europäische Union? Die Antwort ist eine traurige, eine bittere. Mittlerweile ist diese EU nicht mehr als ein Staatengebilde, das seinen eigenen nationalen Egoismen zum Opfer gefallen ist. Das seine eigenen ach‘ so hochgehaltenen Werte in atemberaubender Geschwindigkeit zu Grabe getragen hat. Das bereit ist, auf dem Altar des Kapitals alles zu opfern – und seien es zehntausende von Menschenleben. Die Entscheidung, die Mission „Sophia“ zu beenden, ist eine Kapitulation vor den Feinden Europas.
Kommentar: Johannes Gress