Politikverdrossenheit ist so ein Wort, das schon seit Längerem durch die mediale Berichterstattung geistert. Ein Wort, das insbesondere auf die heutige Jugend zutreffen soll, die – so die landläufige Meinung – von Politik genug hat, sich enttäuscht und desinteressiert vom politischen Geschehen abwendet. Die Jugend, so scheint das Schlagwort Politikverdrossenheit zu implizieren, habe genug von einem System, das ihre Interessen weder repräsentiert noch respektiert. Und während das steigende Durchschnittsalter in Parlamenten sowie seit Jahren rückläufige Parteimitgliedschaften von unter 30-Jährigen genau das zu belegen scheinen, zeichnen aktuelle Entwicklungen ein gänzlich anderes Bild: Die Jugend von heute ist so politisch wie schon lange nicht mehr! Nur eben anders.
Das Wort Politikverdrossenheit gleicht einem Trugbild, da es Politik auf ihre minimalste Dimension reduziert: auf Parlamente, Gremien und Parteien. Und dort scheint in der Tat eine Art Verdrossenheit zu herrschen: Bei den Landtags- und Bezirkstagswahlen im Herbst 2018 waren lediglich vier der 35 Kandidaten in den Wahlkreisen Passau-Ost und Freyung-Grafenau/Regen jünger als 30. Letztlich reichte es für keinen von ihnen für ein Mandat. Im Bundestag dasselbe Bild: 12 von 709 Abgeordneten befinden sich diesseits der 30-Lenze-Grenze. Auf EU-Ebene sieht es noch düsterer aus: Im derzeitigen EU-Parlament sind alle der über 700 Mandatsträger älter als 30.
Die politischen Nachwuchsorganisationen: männlich, akademisch
Vor allem die beiden (ehemaligen) Volksparteien CDU/CSU und SPD mussten in den vergangenen Jahrzehnten in Sachen Mitgliederzahlen beständig Federn lassen. Waren im Laufe der 1970er Jahre noch mehr als eine Million Menschen Mitglied in der SPD, zählen die Sozialdemokraten derzeit nur noch gut 400.000 Genossen und Genossinnen. Auch die CDU musste viel von ihrer einstigen Größe einbüßen: aus der Hochzeit in den 1980ern (knapp 750.000 Mitglieder) sind derzeit noch 415.000 übrig. Alleine im vergangenen Jahr kehrten 11.000 Menschen den Christdemokraten den Rücken. Weniger drastisch, aber dennoch konstant bergab entwickelten sich die Mitgliederzahlen der CSU: Von den einst knapp 190.000 sind aktuell noch 139.000 übrig.
Wesentlich prominenter sind die beiden Jugendorganisationen von Union und SPD, die Junge Union (JU) und die Jungsozialisten (Jusos). Mit mehr als 100.000 Mitgliedern ist die Junge Union Deutschland die mitgliederstärkste politische Jugendorganisation in ganz Europa. Außerdem sind rund 80.000 Jugendliche und junge Erwachsene Mitglied bei den Jusos. Doch was einem beim Blick auf die Mitgliederstruktur ins Auge sticht: Es sind mehrheitlich junge Männer aus dem akademischen Milieu, die hier Politik machen. Das gilt bundesweit betrachtet sowohl für die JU als auch für die Jusos – wie auch für sämtliche Nachwuchsorganisationen aller anderer im Parlament vertretenen Parteien. Die Jungsozialisten und die Jungen Grünen können immerhin einen Frauenanteil jenseits der 40 Prozent aufweisen, bei den Jungen Liberalen (JuLis) von der FDP sind gar nur gut 25 Prozent weiblich.
Das spiegelt sich auch bei der JU im Bezirksverband Niederbayern wider: Hier ist es Melanie Niestatek, die sich als einzige Frau derzeit neben vier männlichen Kollegen im Bezirksvorstand* beweisen muss. Beeinträchtigen lasse sie sich davon jedoch nicht. In ihrer Arbeit, so Niestatek, bekomme sie das doch recht einseitige Verhältnis kaum zu spüren. In der JU Niederbayern hätten „Menschen mit innovativen Ideen, Engagement, aber auch kritischen Argumenten immer die Möglichkeit unsere Zukunft mitzugestalten – unabhängig welchen Geschlechts“, sagt sie gegenüber dem Onlinemagazin da Hog’n. „Dass Frauen von manchen Mitgliedern unserer Gesellschaft mal mehr mal weniger geschätzt und respektiert werden und so manche Regelung zu Gunsten der Gleichberechtigung durchaus angepasst werden kann“, lasse sich dennoch „nicht wegdiskutieren“, ergänzt Niestatek. Als „Feministin“ möchte sie sich auf Nachfrage zwar nicht offen deklarieren. Sie betont jedoch, dass ihr in diesen Belangen Dialogbereitschaft sowie ein „höflicher und respektvoller Umgang“ wichtig seien.
Neben einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis lege man auch Wert darauf, dass in der Jungen Union eine möglichst breite Bevölkerungsschicht abgebildet wird, wie die stellvertretende Bezirksvorsitzende erläutert. Ihrer Einschätzung nach bilde ihre Organisation die Gesellschaft sehr gut ab, reiche daher auch weit über das akademische Milieu hinaus.
JuLis: „Flashmobs oder Wahlkampf im städtischen Nachtleben“
Dass man Frauen in Nachwuchsorganisationen oftmals mit der Lupe suchen müsse, bestätigt Ramin Nikkho, Bezirksvorsitzender der JuLis Niederbayern. Sowohl was die Mitgliederzahl betreffe als auch die Anzahl an Frauen in Verbandsgremien habe man „tatsächlich ein großes Problem“, wie der 25-Jährige offen zugibt. Das beweist auch ein Blick in die Vorstandschaft: Neben Nikkho als Bezirksvorsitzenden ist lediglich eines von sieben weiteren Mitgliedern der Jungen Liberalen aus Niederbayern weiblich (laut Homepage gibt es bei den JuLis keine stellvertretenden Vorsitzenden). Immerhin hätten mittlerweile zwei Niederbayerinnen einen Sitz im Landesvorstand der Bayern-JuLis inne. Dennoch müsse es zukünftiges „Ziel sein, mehr junge Frauen von der Arbeit und den Inhalten“ ihrer Organisation zu überzeugen, so der Bezirksvorsitzende.
Dass politische Nachwuchsorganisationen jedoch überwiegend eine Domäne männlicher Akademiker seien, will Nikkho so nicht stehen lassen. Zwar befindet sich unter den 36 Vertretern in den Bundesvorständen der Jugendorganisationen laut Recherchen der ZEIT lediglich eine Frau. Doch was die JuLis Niederbayern anbelange, teilen sich deren Mitglieder auf alle sozialen Milieus auf: Sowohl Studierende als auch Berufstätige und Auszubildende würden sich „alle gleichermaßen im Verband engagieren“, betont Nikkho. Das möge auch damit zu tun haben, mutmaßt der 25-jährige Doktorand, dass die JuLis schon seit Längerem vermehrt auf Aktionen außerhalb der klassischen Politik setzen – etwa „Flashmobs oder den Wahlkampf im städtischen Nachtleben“. Um auch Heranwachsende für Politik zu begeistern, wolle man in den Reihen der Jung-FDP’ler sie eben auch attraktiv gestalten.
Dem „feministischen Richtungsverband“ fehlen die Frauen
Zu viele Männer, zu viele Akademiker? „Das trifft leider auch auf uns zu“, erklärt Luisa Haag, Vorsitzende der Jusos Niederbayern, auf Hog’n-Nachfrage. Da sich die Jusos ihr zufolge auch als „feministischer Richtungsverband“ verstehen, betrachte man den geringer Frauenanteil innerhalb der eigenen Reihen „bereits seit längerer Zeit als problematisch“. Um dem entgegen zu steuern, veranstalte man derzeit regelmäßige Treffen, die nur Frauen offen stehen. Außerdem seien sowohl Rednerlisten als auch die Wahl des Vorstands und aller Delegierten quotiert, wie Haag erklärt.
Festzuhalten bleibe zudem: Innerhalb der Jusos Niederbayern sind fünf von zehn Vorstandsangehörigen weiblich. Da sie ihre Mitglieder hauptsächlich aus Hochschulgruppen rekrutieren, sei auch der Akademikeranteil in der Organisation ein Problem. Beispielsweise in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, wie die Jusos-Chefin erklärt, wolle man künftig vermehrt versuchen auch Arbeiterinnen und Arbeiter in die Partei zu locken.
In der Vergangenheit habe man jedoch ganz allgemein Schwierigkeiten damit gehabt, Neumitglieder von der eigenen Arbeit zu begeistern, berichtet die 23-Jährige weiter. Seit der Bundestagswahl 2017 und dem vor allem innerhalb der Jusos heftig umstrittenen Bekenntnis der SPD zur Großen Koalition könne man nun aber wieder vermehrt Neueinsteiger begrüßen. Denn trotz sämtlicher Formen alternativer Partizipation sind es Haag zufolge eben immer noch die Parlamente, die über Gesetze und Verordnungen entscheiden – ernsthafte Parteienarbeit sei deshalb keineswegs vernachlässigbar. Außerdem könne man innerhalb einer Partei „am besten Veränderungen bezwecken, die SPD nach links bringen, der Sozialdemokratie zu alter Stärke zurück verhelfen und vor allem Rassisten und Rechtspopulisten aus den Parlamenten drängen“.
Grüne Jugend: Neustart in Passau
Im Gegensatz zu Union und SPD konnten im vergangenen Jahr die Grünen in Sachen Mitgliederstärke punkten: Mit einem Zuwachs von 10.000 Frauen und Männern im Jahr 2018 zählt die Öko-Partei aktuell 65.000 Mitglieder. Gleichzeitig stellen die Grünen jene Partei mit den jüngsten Mitgliedern dar: Rund 50 Jahre ist so ein Grüner im Schnitt alt, während Unions-Getreue durchschnittlich zehn Jahre älter sind (Stand: Dezember 2017). Daher überrascht es wenig, dass vor allem die Grünen einen derart großen Mitgliederzuwachs verzeichnen können: Die Themen Umwelt, Ökologie und Klimaschutz erfreuen sich derzeit medialer Omnipräsenz. Neben den Protesten im Hambacher Forst und den Schülerdemonstrationen „Fridays For Future“ ist die Klimakrise aktueller Dauerbrenner.
Da passt es freilich ins Bild, dass die Grüne Jugend (Nachwuchsorganisation der Grünen) in Passau demnächst einen Neustart versuchen will. Nachdem man 2014 den Betrieb eingestellt hatte, möchte man sich ab Mai neu formieren. Mit der Stadt Passau als Hochschulstandort gelte es dabei die Europawahlen zu nützen, um wieder mehr Grün in die Passauer Jugendszene zu bringen. Denn die anstehende Wahl zum EU-Parlament sei „entscheidend für unsere Zukunft“, wie Initiator Matthias Weigl dem Hog’n gegenüber erklärt. Dabei freue man sich natürlich über jedes Mitglied – „unabhängig vom Geschlecht“. Und um sicherzustellen, dass sich die Grüne Jugend Passau künftig zu keiner reinen Männerversammlung entwickelt, setze man – ähnlich den Jusos – auf quotierte Listen und Vorstandsposten.
Dass junge, alternative Kräfte nun neben der Straße auch in den Parlamenten präsenter werden müssten, ergibt sich für Weigl aus zweierlei Gründen: Zum einen wolle man verhindern, dass die „CSU weiter mehr als ein Jahrhundert die Rathäuser, Gemeinderäte und Parlamente mehrheitlich besetzt und so vieles ausbremst“. Zum anderen liege der Altersschnitt in den meisten Gremien weit über 50 – „höchste Zeit also, dass unsere Generation dort mehr mitmischt“. Mit Blick auf so manche „spöttische und herablassende Kommentare mancher Parlamentarier über die Fridays-For-Future-Bewegung“ (siehe zuletzt Christian Lindner) ist es aus Weigls Sicht wichtig, dass die Politik neben der Straße und im Netz eben auch in Parteien und Parlamenten stattfindet – auch für die jüngere Generation.
Am Ende entscheidet das Parlament
Dass die politischen Gräben in vielen Belangen nicht zwischen Links und Rechts verlaufen, sondern oftmals zwischen Jung und Älter, mag auch daran liegen, dass die europäische Jugend gänzlich andere Wertvorstellungen teilt, als dies offensichtlich die ältere Generation tut. Eine europaweite Umfrage des „strukturierten Dialogs“ unter 50.000 Befragten im Alter von elf bis 30 Jahren belegt: Die betroffene Altersgruppe hat ein positiveres Bild von Europa, setzt sich mit überwiegender Mehrheit für eine Bekämpfung von Geschlechterstereotypen ein, fordert mehr Minderheitenschutz und einen humaneren Umgang mit Geflüchteten. Und: 89 Prozent der Befragten wünschen sich mehr politische Mitbestimmung.
Dass die heutige Generation politikverdrossen sei, kann getrost als Mythos deklariert werden. Nur die Formen politischer Teilhabe sind andere: So stehen etwa Online-Petitionen, Demonstrationen oder Konsum-Boykotts bei den U-30ern weit höher im Kurs als ein Parteibuch. Doch – und darin sind sich sämtliche Vertreterinnen und Vertreter der Nachwuchsorganisationen einig – werden Gesetze und Verordnungen im Parlament gemacht…
Johannes Greß
*betrachtet wurde jeweils die „erste Vorstandsriege“, bestehend aus erstem/erster Vorsitzendem/Vorsitzender und dessen/deren StellvertreterInnen.