Eine Druckstelle am Apfel, eine minimale Überschreitung des Mindesthaltbarkeitsdatums oder eine unzureichende Planung beim Einkauf. Mehr braucht es oft nicht – und der Apfel, der Joghurt oder der Brotlaib wandert in die Tonne. So werden laut einer Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) jährlich 1,6 Milliarden Tonnen Lebensmittel vernichtet, allein 18 Millionen Tonnen in Deutschland, wie der World Wide Fund For Nature (WWF) vorrechnet. Demnach schmeißt jeder Deutsche pro Tag ein halbes Kilo an Nahrung in den Müll. Geht es nach der Bayern SPD soll damit jetzt Schluss sein. In einem Antrag im Landtag fordert sie ein bundesweites Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung in Deutschland.
Ziel des Gesetzes, so heißt es im Antrag, „soll die Verpflichtung des Lebensmitteleinzelhandels sein, unverkaufte, aber noch genießbare Waren an gemeinnützige Organisationen zu spenden“. Doch das scheint in der Realität oftmals leichter gesagt als getan. Für Supermärkte und Backshops bedeutet dies zusätzlichen logistischen wie zeitlichen Aufwand – und damit weitere Kosten. Unverkauftes einfach auf dem Müll zu entsorgen, scheint da oftmals die günstigere (und damit attraktivere) Variante. Dazu kommen rechtliche Bedenken: Für ein Produkt, das das Mindesthaltbarkeitsdatum bereits überschritten hat, kann ein Händler prinzipiell haftbar gemacht werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob er die Ware verkauft oder verschenkt.
„Gemeinschaftlicher Diebstahl“: Sozialarbeit und 225 Euro
Unternehmen, die ihre abgelaufene Ware dennoch gratis anbieten, bewegen sich daher im günstigsten Fall in einem rechtlichen Graubereich. Und auch diejenigen, die sich selbst bedienen, leben auf gefährlichem Fuß: Wer in Deutschland Müll aus einem Container holt (häufig als „Containern“ oder „Dumpstern„ bezeichnet), macht sich nach § 123 Abs. 1 StGB (Hausfriedensbruch) oder nach §§ 242 f. StGB (Diebstähle) strafbar. Zumindest auf dem Papier. In den allermeisten Fällen werden Verfahren diesbezüglich eingestellt. Aber nicht immer, wie ein Fall zweier Studierender zeigt, die in Olching bei München Lebensmittel aus dem Container eines Supermarkts fischten: „Gemeinschaftlicher Diebstahl“, wie das Amtsgericht Fürstenfeldbruck befand. Das bis dato noch nicht rechtskräftig Urteil umfasst acht Stunden Sozialarbeit sowie 225 Euro Strafe, ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung.
Sehen Sie dazu einen Beitrag des Magazins „plusminus“ mit dem Titel: „Sinnlose Verschwendung: Warum in Deutschland so viele Lebensmittel weggeworfen werden“:
Länder wie Italien oder Frankreich schlagen diesbezüglich schon seit Längerem einen anderen Weg ein: Der französische Staat etwa verbietet Supermarkt-Ketten seit 2016 unverkaufte Ware einfach wegzuschmeißen. Er verpflichtet sie vielmehr dazu, diese stattdessen an gemeinnützige Organisationen zu spenden. Dafür dürfen sich die Lebensmittelhändler über Steuervorteile freuen. Andernfalls drohen bis zu 4.500 Euro Strafe. Ungenießbare Lebensmittel sollen laut Gesetz entweder kompostiert oder zur Energiegewinnung verwendet werden. Die Menge an Nahrung, die in Frankreichs Mülltonnen landet, ist seither drastisch zurückgegangen. Auch Tschechien gab unlängst bekannt, in ähnlicher Weise gegen Lebensmittelverschwendung vorgehen zu wollen.
Über Foodsharing-Regale und andere „gerettete“ Speisen
Doch nicht nur gesetzliche Regelungen liefern mittlerweile einen Ausweg: Neben Dumpstern bieten beispielsweise auch sogenannte Foodsharing-Initiativen eine Alternative zur vorzeitigen Entsorgung eigentlich noch genießbarer Ware. So vernetzen sich etwa mehr als 1.600 Menschen aus Passau und Umgebung in einer Facebook-Gruppe namens „Foodsharing Passau“. „Abzuholen bis heute 17:30 Uhr in der Kirchengasse“, heißt es da unter anderem zu einem Bild, auf dem ein Korb mit Semmeln und Brezen zu sehen ist. Oder: „Habe heute Abend einen Salat aus Blumenkohl, Cherry Tomaten und Baby Spinat gemacht, ist leider viel zu viel geworden…“
Auch Lebensmittelmärkte wie zum Beispiel die Supermarktkette AEZ gehen mittlerweile in Eigenregie dazu über, etwas gegen das Wegwerf-Problem zu unternehmen. AEZ platziert – trotz rechtlicher Unsicherheiten – beispielsweise Foodsharing-Regale und Kühlschränke im Kassenbereich: Einen Tag vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums wandert die Ware dann vom Supermarkt- ins Foodsharing-Regal – gratis zum Mitnehmen.
Zudem gibt es heutzutage auch Apps wie „Too good to go“, die den schnellsten Weg zu jenen – vergünstigten – Lebensmitteln und Speisen weisen, die kurz davor sind in die Tonne zu wandern. Nach Herstellerangaben wurden so bereits über elf Millionen Mahlzeiten „gerettet“. Für „analoge Lebensmittelretter“ gibt es zudem eine ganze Reihe von Kochbüchern, die sich speziell der Resteverwertung widmen und versprechen, aus vermeintlich Ungenießbarem einen Gaumenschmaus zu zaubern.
Lebensmittelverschwendung ist nicht nur eine Konsumenten-Frage
Dass 18 Millionen Tonnen Lebensmittel, die jährlich in Deutschland entsorgt werden, 18 Millionen Tonnen zu viel sind, ist aus finanzieller, ökologischer wie auch moralischer Sicht nicht zu leugnen. Die Bundesregierung hat sich deshalb gegenüber den Vereinten Nationen verpflichtet, die Lebensmittelvernichtung bis 2030 um 50 Prozent zu reduzieren – und initiierte in diesem Zusammenhang u.a. die Kampagne „Zu gut für die Tonne“, die Verbraucher darauf hinweist, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum lediglich ein Mindesthaltbarkeitsdatum ist – und keine „Garantie“ für eine gesundheitliche Gefährdung.
Mag die Intention dahinter auch eine Gute sein, verkennen derartige Initiativen oft den größeren Zusammenhang in einem weitaus komplexeren Problembereich. Von den 18 Millionen Tonnen Lebensmittel-Müll – also rund ein Drittel der Gesamtproduktion – gehen laut WWF nur 40 Prozent auf das Konto der Konsumenten. Ein Großteil geht bereits in der Landwirtschaft, der Produktion und dem Transport verloren. Lebensmittelverschwendung resultiert in der Tat aus unsäglichen Konsum- und Einkaufsgewohnheiten – aber nicht nur. Genauso gut spielen ökonomische Interessen, globale Wertschöpfungsketten, moralische Wertvorstellungen sowie gesetzliche Regulativen eine Rolle.
Einen „Schuldigen“ wird man in dieser Frage – wie so oft – nur schwerlich ausmachen können – hierzu ist dieses Problem zu weit gefächert: Das beginnt bei der Überlegung, wann ein Produkt wirklich „ungenießbar“ ist – und erstreckt sich bis zur Frage nach der Sinnhaftigkeit von Mindesthaltbarkeitsdaten und XXL-Sonderangeboten. Ob das „Klauen“ von als „Müll“ deklarierter Ware eine Straftat darstellt. Ob wir angesichts der 200.000 Menschen, die wöchentlich zu Bayerns Tafeln pilgern, tatsächlich pro Person und Tag einen halben Kilo Ware entsorgen wollen. Oder ob die Lebensmittel- und Agrarindustrie wirklich die nachhaltigste aller Produktionsweisen bergen. Wer das Thema Lebensmittelverschwendung bis zum Ende durchdenkt, wird schließlich nicht drum herum kommen, unsere Wirtschaftsweise als Ganzes zu hinterfragen. In diesem Sinne: Mahlzeit!
Johannes Gress
Danke, schön geschrieben!
Und dass letztlich immer der Konsument an allem „schuld“ sei, kann ich auch nicht mehr hören. Ein Großteil des grandiosen Überangebots resultiert nämlich schlicht aus der Strategie, dass wir viel mehr kaufen sollen als wir eigentlich brauchen.
Es will sich auch kein halbwegs vernünftiger Mensch hauptsächlich mit Zucker, Salz, Palmöl und Zusatzstoffen ernähren, und trotzdem steht dieser ganze Mist in den Regalen…