Sie erfüllen Aufgaben, die für eine funktionierende Gesellschaft unverzichtbar sind: Menschen in sozialen Berufen. Trotzdem ernten sie für ihre körperlich und psychisch oft anstrengende Arbeit kaum Anerkennung. Ihr Job ist nicht nur weit weniger angesehen als beispielsweise die Arbeit eines Ingenieurs oder Unternehmers – in sozialen Berufen verdient man meist auch nicht gut. Warum macht man Jobs wie Krankenpfleger, Erzieher oder Altenpfleger trotzdem? Da Hogn trifft Menschen, die erzählen, wo die größten Herausforderungen liegen, warum sie aber auch nicht tauschen möchten. Folge 4: Heilerziehungspfleger.
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Herzogsreut. Menschen mit Behinderung bei denjenigen Angelegenheiten zu unterstützen, bei denen sie Defizite haben – das ist die Aufgabe der so genannten Heilerziehungspfleger. Wenn es zu Hause nicht mehr funktioniert, wenn die Eltern einer körperlich und/oder geistig eingeschränkten Person es nicht mehr schaffen, sie rund um die Uhr zu pflegen, dann kommen Menschen wie Hubert Moritz zum Einsatz. Der 58-Jährige arbeitet seit fast 30 Jahren in einem Wohnheim für Menschen mit Handicap.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal einen Job mache, der mich derart erfüllt“, sagt Hubert Moritz und lächelt zufrieden. „Ich gehe jeden Tag gerne zur Arbeit.“ Der Grund dafür: Er arbeitet mit behinderten Menschen zusammen, denen er „viel mitgeben“ kann. „Und sie geben einem auch sehr viel zurück“, betont der Herzogsreuter sogleich.
Ein Beruf, in dem man mit ganzem Herzen dabei sein muss
Wenn man ihn über die Mitglieder seiner Wohnheimgruppe sprechen hört, merkt man schnell: Für ihn sind sie keine „Klienten“, „Patienten“ oder „Pflegefälle“. Sie sind vielmehr enge Vertraute. Oder, um es mit seinen Worten auszudrücken: „Eine Großfamilie mit neun Kindern in unterschiedlichem Alter, mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen.“ Wie in einer Familie versuchen die Pfleger die gehandicapten Menschen in ihren Fähigkeiten zu fördern und ihnen dort unter die Arme zu greifen, wo sie Defizite haben und Hilfe benötigen. „Wir wollen unseren Bewohnern zu einem möglichst eigenständigen Leben verhelfen“, erklärt der gelernte Heilerziehungspfleger.
Der Übergang zwischen Beruf und Privatleben verläuft bei Hubert Moritz fließend: „Meine eigenen Kinder waren oft dabei im Wohnheim, als sie noch klein waren“, erzählt er. „Sie sind mit den Bewohnern groß geworden.“ Auch in seiner Freizeit unternimmt er oft gemeinsame Aktionen mit ihnen, zum Beispiel im örtlichen Sportverein.
Die eigene Familie muss mitziehen, sonst kann man den Beruf nicht so ausüben, wie Hubert Moritz dies praktiziert: Wann genau seine Schicht endet, richtet sich dabei fast immer nach demjenigen, den er gerade betreut – weniger nach einem strengen Dienstplan. Dass man ein oder zwei Stunden länger da bleibt, sei eher die Regel als die Ausnahme in diesem Beruf, berichtet der 58-Jährige. „Aber wir sammeln nie einen Berg an Überstunden an“, versichert er.
„Das ist gleich ein ganz anderes Arbeiten“
Freizeit- und Erholungsaktivitäten seien wichtig – und auch für jeden Mitarbeiter möglich. Trotzdem könne man den Beruf nur dann machen, wenn man ihn auch tatsächlich lebt: „Die Heilerziehungspflege ist ein Bereich, in dem man Verantwortung zeigen und eigene Gefühle miteinbringen muss.“
Das bestätigt auch Melanie Mautner. Die 23-Jährige macht seit eineinhalb Jahren eine Ausbildung im Behindertenwohnheim. Dass sie von Anfang an ein vollwertiges Team-Mitglied war, alle Aufgaben in der Pflege der Bewohner mitübernehmen musste (und durfte), findet sie gut: „Das ist gleich ein ganz anderes Arbeiten.“ Vor ihrer Ausbildung hat sie ein Jahr Bundesfreiwilligendienst in den Wolfsteiner Werkstätten absolviert. „Da merkt man schnell, ob man mit behinderten Menschen umgehen kann oder nicht.“
Berührungsängste habe sie noch nie gehabt, berichtet sie weiter. In ihrem Heimatort lebe ein gehandicaptes Mädchen, weshalb sie bereits früh Kontakt zu jemandem knüpfen konnte, der eben anders sei als die anderen. Nach der Schule absolvierte Melanie Mautner zunächst eine Ausbildung zur Versicherungskauffrau. Doch wie so viele merkte auch sie nach kurzer Zeit, dass sie den Rest ihres Berufslebens nicht in einem Büro vor dem Computer-Bildschirm verbringen möchte.
Den Wechsel in die Heilerziehungspflege habe sie jedenfalls nicht bereut. „Der Umgang mit den Leuten ist das Schöne: Behinderte spielen einem nichts vor. Entweder sie mögen dich – oder sie mögen dich nicht.“ Die Wohngruppe sei auch für sie eine zutiefst familiäre Umgebung – wie ein zweites Zuhause.
Es dauert oft Jahre, bis ein behinderter Mensch Nähe zulässt
Hubert Moritz und Melanie Mautner betreuen Personen, die zu einhundert Prozent körperlich, geistig, seelisch oder mehrfach behindert sind. Die Bewohner seien fast immer dankbar für die Hilfe, die sie von ihren Pflegern erhalten. „Aber sie fordern dich auch“, sagt Hubert Moritz beschwichtigend. Gefragt sei im Beruf des Heilerziehungspflegers vor allem Geduld: „Es sind oft lange Prozesse, teils über zehn oder sogar fünfzehn Jahre, bis der Bezug zu einem Bewohner so aufgebaut ist, dass es passt“, erklärt der erfahrene Sozialarbeiter. Deshalb habe er auch nie den Arbeitsplatz gewechselt, sei immer im selben Wohnheim bei „seinen“ Leuten geblieben.
Wie viel Geduld ein Heilerziehungspfleger mitbringen müsse, verdeutlicht er anhand eines Beispiels: „Wenn dich ein behinderter Mensch nach Jahren plötzlich mit den Händen berührt, deine Nähe sucht, dann ist das etwas ganz Besonderes.“ Einer der Bewohner sei häufig zusammengezuckt, wenn er ihn beim Waschen anpacken musste – oder auch, wenn er ihn aus einem anderen Grund zufällig berührt habe. Als dies plötzlich nicht mehr passierte, wusste Hubert Moritz, dass sich die jahrelangen Bemühungen gelohnt haben, dass der Behinderte nun volles Vertrauen zu ihm hatte. „Wir müssen über die Jahre hinweg ausprobieren, welche Methoden gewisse Wirkungen auf jemanden hinterlassen, der sich nicht durch Sprache mitteilen kann“, weiß der Pfleger. Denn die meisten in seiner Wohngruppe könnten ihm aufgrund der Schwere ihrer Behinderung nicht sagen, was sie gerade brauchen oder wollen.
Um herauszufinden, welche Bedürfnisse ein behinderter Mensch hat, bietet ihm das Wohnheim-Team jede Menge Möglichkeiten an: Spaziergänge, Musik, Ausflüge in den Badepark oder Kirchenbesuche. Die Zeit dafür sei da, berichten Hubert Moritz und Melanie Mautner übereinstimmend. Die 23-Jährige findet die Ausflüge auch deshalb gut, weil dadurch auch nicht-behinderte Menschen in Kontakt mit den Behinderten kommen. „Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass man die Angst abbaut, etwas falsch zu machen.“ Viele Leute wüssten schlichtweg nicht, wie sie reagieren sollen, wenn sie auf einen Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung treffen.
„Es gibt ein Problem – dienstlich“
Flexible Betreuung und Aktivitäten – all das klappt nur, wenn auch die Pfleger flexibel sind. „Wir haben sechzehn oder siebzehn verschiedene Dienstzeiten“, berichtet Hubert Moritz. Das bedeutet: Mal beginnt er morgens um halb sechs Uhr seinen Dienst, mal um sechs, mal um acht usw. Erreichbar sei er 365 Tage rund um die Uhr. Auch während des Gesprächs mit dem Onlinmagazin „da Hog’n“ blinkt sein Handy immer wieder mal auf. „Es gibt ein Problem – dienstlich“, sagt er kurz angebunden und tippt sofort eine Antwort in den Bildschirm. Eine Entscheidung müsse getroffen werden, die er nicht weiter aufschieben könne.
Damit derlei Aufgaben schnell und unkompliziert gelöst werden können, sei es ebenso wichtig, eng mit den Eltern und Betreuern der Bewohner zusammen zu arbeiten, sagt Hubert Moritz. Denn letztendlich dürfe er Entscheidungen – wie etwa die Anschaffung eines neuen Rollstuhls – nicht selbst treffen. Der gesetzliche Vertreter – zumeist die Eltern der Behinderten – habe das letzte Wort. Die „Angehörigenarbeit“, wie er den Kontakt zur Familie der Bewohner nennt, sei aber auch aus einem anderen Grund von Bedeutung: „Wenn es dem Umfeld gut geht, geht es auch den Behinderten gut.“
Angehörige holen sich häufig viel zu spät professionelle Hilfe
Ein Problem, das er sieht: „Angehörige warten häufig zu lange ab, bis sie sich professionelle Hilfe für die Pflege holen.“ Theoretisch könne ein Bewohner ins Wohnheim ziehen, sobald er volljährig ist. Meist würden die Eltern ihr Kind allerdings so lange pflegen, bis sie dieser Aufgabe körperlich oder psychisch nicht mehr gewachsen sind. „Erst, wenn sie selbst völlig am Ende sind, geben sie die Verantwortung ab“, weiß Hubert Moritz aus Erfahrung.
Das einzige, was Melanie Mautner an ihrem Beruf bisher bemängelt, ist die zeitlich sehr anspruchsvolle Ausbildung. Drei Tage pro Woche fährt sie nach Straubing zur Fachschule für Heilerziehungspflege, den Rest der Woche arbeite sie im Behindertenwohnheim in Rotbach. Zusätzlich müsse sie Hausarbeiten schreiben und Pflegekonzepte erarbeiten. Und das alles – wie in den meisten sozialen Berufen – für vergleichsweise wenig Gehalt. „Momentan ist das eine finanzielle Durststrecke für mich“, gibt sie offen zu. Man müsse die Ausbildungsstrukturen unbedingt attraktiver gestalten, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Den gibt es in der Heilerziehungspflege nämlich genauso wie in allen anderen sozialen Berufen.
Sabine Simon