Liebe Gemeinde! Hört denn die Worte, die euer Blues-Reverend Reese Wynans an euch richtet, auf dass sie eure musikalischen Herzen erfreuen und erhellen mögen! Oder sollte ich besser sagen: Hört die Töne? Beides würde stimmen. Denn diesmal geht es im grenzenlosen Hog’n um einen Veteranen an der Blues-Schweine-Orgel: Reese Wynans ist zwar schon 71 Jahre alt, hat aber erst in diesem stolzen Alter sein Solo-Debüt vorgelegt. Und selten hat ein Album einen passenderen Titel bekommen, als dieses: „Sweet Release“.
Süßester Candy für die Blues-Sweethearts da draußen sind die 13 Songs, für die Wynans sich eine ganze Menge an Kollegen nach Nashville/Tennessee bestellt hat, die mit ihm dieses tolle Konglomerat an bluesigen Lehrstücken eingespielt haben.
Hier wird hingebungsvoll dem Chicago-Blues gefrönt
Wynans ist dabei kein Newcomer, ganz im Gegenteil. Galt er doch bereits 1985, als er sich Blues-Gott Steve Ray Vaughans Band „Double Trouble“ angeschlossen hatte, als veritabler Rock-Veteran. Bereits in den späten 1960er Jahren war Wynans in der Vorgänger-Band der „Allman Brothers Band“ aktiv, war in den 70ern bei „Captain Beyond“ dabei und spielte später mit Duane Allman, Buddy Guy, Carole King, John Mayall oder Kenny Wayne Shepherd. Und seit 2015 teilt er sich die Bühne mit dem heutigen Blues-Tausendsassa mit akutem Veröffentlichungswahn, Joe Bonanmassa, und hat auch auf dessen Alben „Different Shades Of Blue“ (2014) und „Blues Of Desperation“ (2016) gespielt.
Man sieht also: Der Kerl kennt sich aus. Und deswegen ist man auch gerne mit dabei, wenn er zum gemeinsamen Musizieren ruft. Die Gästeliste auf „Sweet Release“ liest sich entsprechend lang, so sind neben Kenny Wayne Shepherd sowie Joe Bonamassa auch Keb‘ Mo‘, Jack Pearson und Warren Haynes mit dabei. Aber all das Name-Dropping würde natürlich rein gar nichts nützen, wenn sich keine musikalische Substanz dahinter verbergen würde. Dieser, zugegebenermaßen nur kurz aufblitzende Gedanke, ist indes schneller wieder vom Tisch, als man „The Blues is alright“ in ein plötzlich auftauchendes Mikro hauchen kann.
Denn schon der Opener „Crossfire“ mit seinem coolen Gesang von Sam Moore, der ein ums andere Mal an eben jenen seligen Stevie Ray Vaughan erinnert, oder das folgende Instrumental „Say What“, bei dem Kenny Wayne Shepherd an der Sechssaitigen losledern darf, als ob es kein Morgen gäbe, nur um dann den Solo-Ball Wynans zuzuspielen, der seine Schweineorgel fettestmöglich jubilieren lässt, zeigen, dass hier einfach nur hingebungsvoll dem klassischen Chicago-Blues gefrönt wird.
Mit dem Geschmack eines Vesper Martini im Mund…
Das siebenminütige „Sweet Release“ ist dann sicherlich ein echter Höhepunkt auf diesem etwa einstündigen Meisterwerk. Denn es ist nicht nur deshalb fabelhaft, weil sich hier gleich acht Sänger das Lead-Mikro gegenseitig in die Hand drücken, sondern auch aufgrund des tollen Gospel-Chors und ebenso beeindruckenden Bläsersatzes, der einen erstmal ein wenig sprachlos zurücklässt.
Da wieder runterzukommen, hilft der coole Piano-Boogie-Woogie „Shape I’m In“, der in knapp viereinhalb Minuten für einen von ganz alleine wackelnden Hintern auf jedem Stuhl sorgen dürfte. Und wieder beweist Kenny Wayne Shepherd, dass er ganz zurecht zu den Großen an den sechs Saiten gehört. Aber auch Joe Bonamassa, der das folgende „Hard To Be“ veredelt, spielt absolut songdienlich, während die beiden Virtuosen sich die Soli beim nächsten Siebeneinhalbminüter, der komplexen Ballade „Riviera Paradise“, sogar brüderlich teilen. Hier kommen wirklich James-Bond-am-Luxusstrand-Gedanken in den Kopf – und man hat den Geschmack eines Vesper Martini im Mund.
Um nun aus dieser Bombast-Blues-Rock-Nummer wieder einigermaßen heil herauszukommen, hat sich der Tasten-Meister etwas einfach nur Wunderbares einfallen lassen. Er hat den vielleicht schönsten Beatles-Song genommen, das zerbrechliche McCartney-Stück „Blackbird“ – und ja, darüber gibt es wohl so viele Ansichten wie Beatles-Songs selbst. Wynans präsentiert es zum Abschluss in einer knapp vierminütigen instrumentalen Piano-Version, die einen satt, zufrieden und überaus glücklich zurücklässt.
Ja, es ist wirklich schön, von Profis bedient zu werden!
Wolfgang Weitzdörfer
- VÖ: 1. März 2019
- Label: Mascot Label Group/Rough Trade
- Songs: 13
- Spielzeit: 55:49 Minuten
- Preis: ca. 16 Euro