Alles begann mit dem Satz „Das Leben schenkt Dir nichts.“ Ich hörte ihn auf einem Seminar. Eine Teilnehmerin appellierte an die Pflichten im Leben. Das muss halt. Ohne Fleiß kein Preis. Und so weiter. Ich saß da, sah die Härte im Gesicht der Frau, gleichzeitig aber auch das klopfende Herz hinter ihren verschränkten Armen – und auch ein kleines Stück Angst in ihren Augen. Ich sagte nichts, obwohl sich die Antwort gleich auf meine Zunge gelegt hatte. In mir begann es zu brodeln.
Denn eigentlich wollte ich es herausschreien: „Doch! Das Leben schenkt Dir alles!“ Genau das wollte ich schreien. Weil ich es so oft erlebe, dass sich Menschen mit dieser Härte begegnen und nichts als Bitterkeit und schlechte Stimmung um sich säen, die alle nur weitere Botschaften mit sich ziehen. Die eine Schneise der Verunsicherung hinter sich lassen, ein Mantra, das schließlich lautet: „Du bist nicht genug.“ Ich weiß, dass sie nicht anders können, weil sie es von klein auf so erlebt und gehört haben.
Lauter faule Kopien – das Original erreichen wir niemals
Ich hab dann tatsächlich eine kleine „Philosophie des Tages“ auf Facebook gepostet, gemeinsam mit einem kleinen Blümchen namens „Stellaria“, Stern. Eine Vogelmiere, klitzeklein und unscheinbar, von so manchem sogar als Unkraut bezeichnet. Doch genau betrachtet ist es nur eins: Eine wunderschöne Pflanze, die blüht, die tut, was sie kann. Ein Himmelgeschöpf. Als ich das Bild samt Text postete, hegte ich Zweifel – ich wollte nicht rüberkommen wie ein Pfarrer oder irgendein Guru. Ich wollte keinen Kalenderspruch loswerden. Aber so wurde es gar nicht verstanden. Die Leute fühlten sich angesprochen.
Weil sie es kennen. Weil sie solche Sprüche von klein auf zur Genüge gehört haben – bis es ihnen in Fleisch und Blut überging. „Das Leben schenkt Dir nichts.“ – „Nur wer sät, kann ernten.“ Und so wird das Leben zum Leistungskampf. Wir liefern Leistungen, die nicht unserem inneren Selbst entsprechen. Es sind lauter faule Kopien – und das Original erreichen wir auf diese Weise ohnehin niemals. Wir sind also nie gut genug. Der Einser in der Schule, das Diplom oder der Meisterbrief, die Beförderung, dieses und jenes Zertifikat – alles nur fauler Zauber. Alles nur Taten, um irgendwelchen fremdgesteuerten Forderungen zu entsprechen.
Denn wer ist es denn, der uns jeden Morgen aus dem Badezimmerspiegel heraus anschaut? Der Einserschüler? Die Diplomandin? Der Chef? Der Durchschnittsarbeiter? Der Bewertete? Es sind wir selbst. Aber wir erkennen uns nicht, weil die übergestülpten Masken unserer Rollen so rein gar nichts mehr mit uns zu tun haben. Wer wären wir, könnten wir diese Masken einfach abstreifen?
Mögen sie nur sagen: „Du wirst schon sehen, wo das hinführt“
Wir wären wir selbst. Das Beste, das wir sein könnten. Frei und (selbst)geliebt, voller Motivation und Potenzial, voller Vertrauen und Lebensfreude. Das Umfeld würde keine Erwartungen an uns haben, weil es uns vertraut, weil sie alle wissen: Wir alle tun unser Bestes, es wird schon, es ist schon gut – so, wie es ist. Und von nichts wird die Welt untergehen. Von einem Fünfer in Mathe? Von einem vergeigten Schuljahr? Von einem umgeschütteten Glas Milch, einer zerrissenen Hose? Von einem verlorenen Job? Einem fetten Fehler auf der Arbeit? Einer noch nicht beglichenen Rechnung? Nein, davon geht die Welt nicht unter. Denn wir haben immer noch uns selbst – und glauben an uns. Manche Dinge regeln sich selbst, wenn man ihnen Zeit gibt. Es muss nicht alles sofort passieren, es muss nicht in Sekundenschnelle ein Punkt auf der To-Do-Liste abgehakt werden. Es muss nicht alles in irgendwelchen völlig irr-definierten Zeitfenstern stattfinden.
Mögen sie nur schnauben, die anderen. Mögen sie nur sagen: „Du wirst schon sehen, wo das hinführt.“ Ja, werden wir sehen! In ein schönes Leben nämlich. In dem wir uns selbst verzeihen, in dem wir uns selbst lieben wie keinen anderen. Und erst dann fähig sind, diese Liebe weiterzutragen. Die Welt würde eine andere werden. Eine ganz, ganz andere. Und ich glaube, sie wird es auch. Weil immer mehr Menschen erkennen, dass sie derart von sich selbst entfremdet sind, dass sie sich endlich selbst an der Hand nehmen und sich kennenlernen. Und weil die neuen Kinder diesen Irrsinn erst gar nicht mehr mitmachen, sich sträuben und so deutlich die Fahnen schwenken, dass das ganze Ritalin am Ende auch nichts „helfen“ wird.
Die Formen sind gesprengt. Die Angst, irgendwelchen Mustern nicht entsprechen zu können, wird einer neuen Willenskraft weichen. Das, was auf der Welt geschieht – das sind doch nicht wir. Das wollen wir doch nicht… Ich zitiere an dieser Stelle gern nochmal Rilke, der in einem seiner Gedichte sagte: „Du musst das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest.“ Genau so ist es. Das Leben ist kein Kampf ums Glück. Es ist selbst ein Geschenk.
Eva Hörhammer
Diese Zeilen haben mir Gänsehaut beschert.
Danke für den einfühlsamen Text, der mich tief berührt hat.
Helga