Freyung. Bergrat Dr. Ing. Alfred Wiede (1864-1925), der aus Sachsen stammte, war eine echte Unternehmerpersönlichkeit. Er war zunächst Direktor eines Steinkohlewerks und leitete später die familieneigene Papierfabrik Rosenthal. 1896 kam er als Holzeinkäufer für die Zeche „Morgenstern“ erstmals nach Freyung und wanderte durch die wildromantische Buchberger Leite.
Dabei erwachte in ihm die Idee, die Wasserkraft der Wolfsteiner Ohe zur Energiegewinnung auszubauen. Schon bald tüftelte er an einem Plan, das starke Gefälle des Saußbaches und des Reschwassers durch ein ausgeklügeltes System von Stauseen, Rohrleitungen, Stollen und Kanälen zusammenzuführen, um auf diese Weise in beträchtlichem Umfang Strom zu generieren. Diese elektrische Energie wollte er zur Erzeugung von Calcium-Carbid verwenden.
Zunächst gab es erhebliche Widerstände durch den Waldverein
Zielstrebig und entschlossen ging Dr. Wiede daran, diese Kraftwerksplanung zu realisieren. Zu diesem Zweck erwarb er am 21. April 1899 die heute unter Denkmalschutz stehende Buchbergmühle und die zur Nutzung der Wasserrechte benötigten Grundstücke. Damit gelangte er in den Besitz der „Urzelle“ zur Verwirklichung seines technischen Traums der Energienutzung.
Zunächst gab es gegen dieses Vorhaben erhebliche Widerstände seitens der Führung des Waldvereins. In mehreren Begehungen gelang es Bergrat Wiede die Teilnehmer von seiner möglichst naturschonenden Planung zu überzeugen. Da in dem schwer zugänglichen Naturraum die meisten Arbeiten händisch ausgeführt wurden, ging man damals mit der Umwelt schon aus diesem Grund weitaus behutsamer um als dies beispielsweise heute der Fall ist, wenn Bagger und Bulldozer anrücken. Sogar die erforderlichen Tunnelbauten wurden in Handarbeit verrichtet, da man über die Gesteinsbeschaffenheit zu wenig Bescheid wusste und diesbezüglich kein Risiko eingehen wollte.
Die Grundidee des königlich-sächsischen Bergrates Dr. Wiede aus Zwickau war, das Wasser des Resch- und Saußbaches mittels vier, in ihrem Zusammenwirken wasserbautechnisch perfekt ausgebauten Gefällstufen sowie entsprechender Rohrsysteme zur Gewinnung elektrischer Energie zu nutzen. Dazu war es erforderlich, dem Hauptkraftwerk in der Büchbergmühle noch ein Außenkraftwerk an Resch- und Saußbach anzugliedern.
Ein Vorbild für heutige Bauwerke
Bei der gesamten Anlage (Bauzeit von 1899 bis 1903) handelte es sich – zusammen mit den wasserbautechnischen Einrichtungen – um ein regelrechtes Industrieensemble, das in seiner Gründerzeit in dieser Region eine Sensation darstellte. Bergrat Wiede, der die Bergakademie in Freiberg in Sachen absolvierte hatte und für seine bahnbrechende Leistung auf dem Sektor Industrieansiedlung mit dem Titel eines bayerischen Kommerzienrates geehrt worden war, hatte offenbar auch ein sehr ausgeprägtes Gefühl für Ästhetik. Ein Beweis dafür sind die Situierung, Staffelung, Gliederung sowie Gestaltung der Baukörper dieser industriellen Gesamtanlage.
Dadurch weist dieser für damalige Verhältnisse sehr umfangreiche Industriebauten-Komplex durchaus harmonische Dimensionen auf. Sowohl Bauform als auch die Ausbildung der Baudetails erweisen dem Bauherrn, dem Architekten, den Baumeistern und den Bauhandwerkern auch heute noch alle Ehre. Federführend in der Bauausführung war das Bauunternehmen Stadler aus Bärnbach. Da konnte sich so mancher Planfertiger – von lobenswerten Ausnahmen abgesehen – mit der heutzutage forcierten „Kasten- und Schachtelarchitektur“ in den Gewerbe- und Industriegebieten hinsichtlich seiner Grundeinstellung zur Architektur und deren prägende Wirkung auf das Umfeld durchaus eine Scheibe abschneiden.
Die heutige Nutzung des Carbidwerks Freyung
Damals vermochte man noch in beispielgebender Weise Funktionalität und gestalterische Erscheinung wohltuend unter einen Hut zu bringen. Bergrat Wiede und seine Ingenieure sowie Bauleute verfügten über ein gerüttelt Maß an Verständnis für individuelle landschaftsgerechte Bauweise und sie wollten dies auch ganz bewusst zum Ausdruck bringen.
70 Jahre lang (1904-1974) wurde in diesem Werk Calcium-Carbid hergestellt. Diesem Herstellungsverfahren lag ein hoher Energiebedarf zu Grunde, wozu die betriebseigene Wasserkraft genutzt wurde. Nach 1974 verlagerte sich der Produktionsschwerpunkt auf die Herstellung von synthetischen Korundkristallen, zum Beispiel Sternsaphiren und Sternrubinen sowie seit 1980 der weltweit gefragten Kunstdiamanten (Cubis Zirkonia). Diese finden vor allem in der wissenschaftlichen Optik, jedoch auch in der Schmuckindustrie Verwendung.
Ein acht Kilometer langer Themenwanderweg durch die Wildbachklamm Buchberger Leite informiert die Wanderer über eines der schönsten Geotope Bayerns und das intelligent konstruierte Wasserkraftsystem des Carbidwerks Freyung, das sich nach über 100 Jahren in diesen Naturraum einfügt als wäre es ein Teil von ihm.
Karl-Heinz Paulus