So. Wenn es Platten gibt, bei denen man stumpf bis vier zählen kann, drei Akkorde braucht, um zwei Wahrheiten und eine Message rauszuhauen, dann gibt es auch solche, bei denen neben einem Master-Abschluss in höherer Mathematik auch der eine oder andere Bachelor of Arts in Harmonielehre, Polyrhythmik und Musiktheorie hilfreich sein könnten. „Technical Death Metal“ heißt ein Genre der letzteren Art, „Mathcore“ ein anderes. The Black Dahlia Murder, Pestilence, The Dillinger Escape Plan oder Cynic heißen Bands, die sich diesen hochkomplexen Musikformen verschrieben haben. Oder Aenimus.
Das Quintett aus der einst so ruhmreichen Bay Area bei San Francisco, die so legendäre Kapellen wie Metallica, Megadeth, Machine Head oder Death Angel hervorgebracht hat, haben sich diesem progressiven, komplizierten und vielseitigen Sound verschrieben und präsentieren mit ihrem zweiten Album „Dreamcatcher“ einen herausragenden Genre-Beitrag.
Auch für eher unkomplexe Gemüter ein Genuss
Thematisch hat sich die Band um den wirklich abgründig brüllenden Alex Green und die beiden Gitarristen Sean Swafford und Jordan Rush zwar eher simplen Horror-Stories aus dem The-Shining-, It- oder Hannibal-Kosmos verschrieben – musikalisch lässt sich das Quintett, das von Basser Seth Stone und Drummer Cody Pulliam komplettiert wird, jedoch nicht die verschwurbelt-verdrehte Butter vom hochkomplexen Brot nehmen.
Dabei schaffen es die Musiker dennoch, eingängige Melodien in ihre Riffgewitter einzuflechten. Etwa im rund einminütigen Horrorfilm-Outro von „The Ritual“, das mit Streichern und tonnenweise Atmosphäre im Dunkeln und unter dem Kopfhörer durchaus für den einen oder anderen Gänsehautschauer sorgen dürfte. Aber auch ansonsten kommen immer wieder kleine, aber feine Melodien zum Vorschein, die diese Schlachtplatte für Mathematiker zum Genuss auch für eher unkomplexe Gemüter werden lässt.
Man merkt dem Album an, dass sechs Jahre seit dem Erstling „Transcend Reality“ (2013) vergangen sind. So detailverliebt sind die Songs wie „My Becoming“, bei dem die urplötzlich wie aus dem Nichts auftauchenden Clean Vocals den Hörer vollkommen blank erwischen. Gleiches beim mit sieben Minuten überlangen und großartig stimmungsvollen „Between Iron And Silver“. Oder die sanften Akustikgitarren im Opener „Before The Eons“, die man tatsächlich so gar nicht erwartet hat – die sich aber wie maßgeschneidert in den Gesamtsound integriert präsentieren.
Zwischen verrücktem Irrsinn und poppiger Eingängigkeit
Von verqueren Rhythmen, die dem simplen Headbanging eher diametral entgegenstehen, soll an dieser Stelle nicht die Rede sein. Dazu kommen Leads und Soli, die zum einen mit einem schneidenden und doch sehr warmen Gitarrensound recht angenehm überraschen, zum anderen aber zwischen völlig verrücktem Irrsinn und poppiger Eingängigkeit alles Extreme des Spielbaren ausloten.
Gut, jetzt ist „Dreamcatcher“ sicherlich kein Album, das man nebenbei mal einlegt und auf der nächsten Party laufen lässt. So weit geht die Eingängigkeit dann auch wieder nicht. Wer nun aber auf wirklich hochwertige Handwerkskost steht, die gerne auch mal derbe hart daherkommen darf, bei der auch gewisse Spannungsbögen über Quasi-Zwischenspiele mal ausgereizt werden dürfen – der ist beim Zweitwerk der Amis völlig richtig.
Wolfgang Weitzdörfer
Pro-Tipp: Kopfhörer, Glas Rotwein und ein guter Horrorroman. Aber nicht erschrecken!
- VÖ: 22. Februar 2019
- Label: Nuclear Blast
- Songs: 11
- Spielzeit: 54:09 Minuten
- Preis: ca. 18 Euro