Haidmühle. Der „Schnellenzipf“, eine Landzunge, die zwischen Bischofsreut (Gemeinde Haidmühle) und Strážný (dem früheren Kuschwarda) wie ein Keil in das tschechische Staatsgebiet hineinragt, ist eine ausnehmend ruhige Örtlichkeit, die noch einen Hauch von Ur-Natur erspüren lässt. Ein einzigartiges Idyll entlang dem noch frei mäandernden Wolfaubach (am Weiger Filz), der hier die Landesgrenze bildet. In diesem Naturparadies – weit entfernt von jeglichem Weltenlärm – herrscht eine Stille, in der man noch deutlich das Rauschen des Wildbaches und die Laute der Wildtiere, die hier ihr Rückzugsgebiet haben, vernehmen kann. „Es gibt eine Stille, in der man meint, man müsse die einzelnen Minuten hören, wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen“, hatte der Dichter Adalbert Stifter von jenen Oasen des Böhmerwaldes einst geschwärmt…..
Diese – für manche Menschen, die aus dem Getriebe einer Stadt kommen – nahezu unheimliche Stille, die hier normalerweise permanent vorherrscht, wurde in den Morgenstunden des 18. November 1968 von mehreren Maschinenpistolen-Salven jäh durchbrochen. Was ist damals, unmittelbar am Grenzzaun, dem „Eisernen Vorhang“, auf tschechoslowakischem Staatsgebiet und auf bayerischer Seite passiert?
Čepek ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen
Der Grenzsoldat Milan Čepek (Jahrgang 1949) aus Vrchlabί galt in seiner Einheit, der elften PS-Kompanie der Grenzwache in Unterlandstraßen, als „rotes Tuch“ bzw. als „unzuverlässig“, weil er offen das brutale Vorgehen der 5-Länder-Armee beim Aufstand in Prag im Jahre 1968 verurteilte. Am 18. November 1968 ist er gemeinsam mit Gruppenführer Václav Smejkal zu einer Grenzstreife im Bereich Dolni Cazov (Schnellenzipf) eingeteilt worden. Es war erst seine dritte Grenzpatrouille.
Nachdem plötzlich dichter Nebel aufzog, erstattete Smejkal gegen 8.30 Uhr per Funkgerät einen kurzen Situationsbericht an seine Einheit. In diesem Moment ergriff Čepek die Maschinenpistole seines Gruppenführers, die an einem Pfahl hing. Er warf sich die MP über seine Schulter – und mit der eigenen Waffe im Anschlag wies er seinen Vorgesetzten an, mit ihm zur 250 Meter entfernten Staatsgrenze zu gehen. Mit erhobenen Händen.
Sie durchschritten das Tor in der Grenzsicherungsanlage. Der Gruppenführer versuchte, Čepek von seinem Entschluss zur Flucht abzubringen und bat ihn, ihm wenigstens seine Waffe zurückzugeben, da er ansonsten größte Schwierigkeiten seitens der Kompanieführung zu erwarten habe.
Čepek ließ sich von seinem Vorhaben der Desertion nicht abbringen. Er durchwatete den Grenzbach und warf dann – nachdem ihm der Gruppenführer versprochen hatte, keinen Gebrauch von der Schusswaffe zu machen – tatsächlich die Maschinenpistole über den Bach zurück auf das Gebiet der Tschechoslowakei. Smejkal ergriff jedoch umgehend seine Waffe und eröffnete sofort das Feuer. Der Flüchtende versuchte noch, auf deutscher Seite den Schutz eines Gestrüpps zu erreichen. Smejkal gab später an, dass der Flüchtling mehrmals zurückgeschossen haben soll.
Zwei Projektile entstammten nicht seiner Maschinenpistole
Die Ermittlungen und die Rekonstruktion des Vorfalls ergaben, dass der Gruppenführer seinen Untergebenen auf deutschem Staatsgebiet – bis mindestens 300 Meter von der Landesgrenze entfernt – verfolgte. Schließlich befürchtete er, dass er bei seiner Verfolgungsaktion auf Angehörige des westdeutschen Grenzschutzes oder auf Soldaten der US-Armee, die damals noch den Grenzraum mitüberwachten, stoßen könnte. Dies hätte zu äußerst unangenehmen diplomatischen Verwicklungen führen können. Václav Smejkal kehrte auf das tschechoslowakische Staatsgebiet zurück und erstattete unmittelbar Meldung an seine Einheit.
Als eine Streife der Bayerischen Grenzpolizei um 11.15 Uhr Milan Čepek unweit des Weilers Schnellenzipf auffand, war dieser bereits an einer schweren Schussverletzung am Oberschenkel verblutet. In der Nähe seiner Leiche wurden Patronenhülsen gefunden. Vermutlich hatte er, nachdem er schwer verwundet liegen blieb, versucht, durch Schüsse auf sich aufmerksam zu machen. Zwei Projektile entstammten nicht seiner Maschinenpistole. Neben der Waffe und dem Fernglas hatte der Tote einige Briefe seiner Eltern sowie einen Block mit Aussagen tschechoslowakischer Politiker, die er sich notiert hatte, bei sich. Die deutschen Polizeiorgane schlossen daraus, dass Milan Čepek ein Mensch war, der sich nach einem Leben in Freiheit sehnte.
Gegen Čepek wurde absurderweise am 19. November 1968 durch den ermittelnden Major ein Strafverfahren eröffnet. Dies war seinerzeit üblich. Der geflüchtete Grenzsoldat wurde der Republikflucht, des Diebstahls sozialistischen Eigentums, unerlaubter Bewaffnung, Pflichtverletzung des Schutzdienstes und Gewalt gegen einen Vorgesetzten beschuldigt. Trotz der Tatsache, dass Milan Čepek am vergangenen Tag verstorben war.
Achtzehnmonatige Freiheitsstrafe wegen Körperverletzung
Der Gruppenführer und Todesschütze Smejkal wurde für beispielhafte Pflichterfüllung mit einer Uhr und einer Widmung durch den obersten Chef der Grenzwache belohnt – und obendrein zum Gendarm befördert. Dann legte man diesen Vorfall ad acta und ging zur Tagesordnung über.
Erst in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre wurde Václav Smejkal wegen seiner Tat durch das Amt für Dokumentation und Ermittlungen der Verbrechen des Kommunismus angeklagt. Der Prozess am Bezirksgericht Budweis im Jahre 1998 ergab, dass „Smejkals Tat unzweifelhaft ein Ergebnis der Unreife eines jungen Menschen infolge des damaligen politischen Drucks darstellt“. Das Gericht hielt in dritter Instanz am 15. Mai 1998 eine achtzehnmonatige Freiheitsstrafe (ohne Bewährung) wegen Körperverletzung mit Todesfolge für angemessen – und erkannte ihm zudem seine militärischen Dienstgrade ab. Ein – in Anbetracht der Schwere der Tat – überaus mildes Urteil mit Alibi-Charakter. Denn durch die Klassifizierung als schwere Körperverletzung fiel die Tat unter die Amnestie des Präsidenten – und galt somit als verjährt.
Havel: „Die einzelnen Wogen vermögen nicht viel, aber…“
Dieser Grenzzwischenfall, bei dem der erst 19-jährige Soldat Milan Čepek sein Leben lassen musste, steht exemplarisch für die tragischen Abgründe und Absurditäten des „Eisernen Vorhangs“ in einer Zeitspanne von über 50 Jahren, die erfreulicherweise längst der Vergangenheit angehört. Ihm und seinen Landsleuten wurde damals die Freiheit auf brutalste Art und Weise verwehrt. Václav Havel (1936-2011), der erste Staatspräsident der Tschechischen Republik (1993 bis 2003) und Mitinitiator der Charta 77, verglich die Freiheit mit dem Meer: „Die einzelnen Wogen vermögen nicht viel, aber die Kraft der Brandung ist unwiderstehlich.“ Diese „Brandung“, die letztlich in die Freiheit führte, kam für den jungen Milan Čepek 30 Jahre zu spät.
Karl-Heinz Paulus