Freyung-Grafenau/Bayerwald. Der November ist ein nebliger Monat. Und so, wie die Welt im Nebel auf- und untertaucht, so verschwimmen auch alle anderen Grenzen. So erzählt man es sich seit Urzeiten. Die Tore zur Anderswelt sind dann weit geöffnet, die Natur zieht sich zurück und das Sterben kommt vor dem Leben. Es ist die Zeit von Allerheiligen und mittlerweile auch Halloween – beide Feste haben die Toten fest im Blick. Und ob nun auf dem Grab ein Lichtlein angezündet oder ein ausgehöhlter Kürbis vor der Haustür erleuchtet wird – beides hat nur eins im Sinn: Ein wenig Licht in die nun umgreifende Dunkelheit zu bringen – Zeitumstellung hin oder her…
Währenddessen ziehen sich die Menschen zurück in ihre warmen Häuser. Gerade früher, als man noch nicht den Luxus von elektrischem Strom und damit auch Licht genoss, rückte man bei Kerzenschein näher zusammen, widmete sich Arbeiten, die sich drinnen gut erledigen ließen – und erzählte… Freilich wurde da über dies und das geratscht, dass das „Dorftelefon“ nur so glühte. Aber dann, bei knackenden Scheiten und beschlagenen Fenstern, kamen die richtigen Geschichten zum Vorschein – wie aus dem Nebel…
Schauer über den Rücken – Tränen der Angst in den Augen
Ich bin Jahrgang 1983 und damit selbstredend mit elektrischem Licht aufgewachsen. Wenn meine Oma aber diese speziellen Geschichten erzählte, half auch keine 60-Watt-Glühbirne mehr, um jene Schauer über den Rücken zu vermeiden – und die Tränen der Angst, die sie mir in die Augen trieben. Ich lag dann noch lange wach im Bett und wagte es nicht zu atmen. Ich hörte jedes Knacken und Rascheln – selbst dann noch, als ich schwitzend den Kopf unter die Decke steckte und nur eins hoffte: Bitte, lass mich keine Erscheinungen sehen.
Denn von Erscheinungen und anderen unerklärlichen Unheimlichkeiten handelten Omas Geschichten. So wie diese hier (ich lasse hier einfach mal die Oma reden): „Meine Mutter war eine kleine, aber resolute Frau. Sie fürchtete sich nicht. Einmal lag sie abends im Bett, als sich die Tür öffnete und eine Gestalt hereinging. ‚Wer bist denn Du?‘ fragte Mutter. Sie bekam keine Antwort. Die Gestalt blieb einfach vor ihrem Bett stehen und antwortete auch nicht auf erneutes Nachfragen. Da wurde es Mutter schon ein wenig komisch zumute. Irgendwann verschwand die Gestalt wieder. Am nächsten Morgen bekam Mutter die Nachricht vom Tod ihrer Schwester. Sie muss zu der Zeit gestorben sein, in der die Gestalt erschien.“
Ich weiß nicht, ob es mich beruhigt hat, viele weitere solcher Geschichten in ganz ähnlicher Form in diesem Lichtland-Buch mit dem Titel „Wenn’s weihrazt…“ gefunden zu haben, dessen Autor Karl-Heinz Reimeier ist, Heimatpfleger des Landkreises Freyung-Grafenau. Er hat sich „Geschichten aus der Zwischenwelt“ und „Volkssagen aus dem Bayerischen Wald“ von Menschen erzählen lassen, die diese Begebenheiten selbst erlebt oder von anderen gehört haben. Die Geschehnisse sind immer ähnlich: Wie in der Geschichte meiner Oma kündigen liebe Menschen ihren Tod an und erscheinen nochmals, um auf ihre Art „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Da irren Lichtlein umher. Da ist der Teufel höchstselbst im Spiel. Da geht es um Gut und Böse. Um Zauberei und Aberglaube. Und doch um viel mehr…
Zeitzeugnis, Menschenzeugnis und ein gutes Stück Kulturgeschichte
Nein, mich haben diese Geschichten nicht beruhigt. Vielmehr haben sie meine kindliche Angst aufgeweckt – eine Angst, die mich beschäftigt, nicht schlafen lassen hat und viele Fragen aufwirft. Denn was sind sie, diese Geschichten? Was bedeuten sie in einer so rationalen Welt, nicht vergleichbar mit der Welt von vor 50 oder gar hundert Jahren und mehr? Heute wollen wir uns alles erklären können. Wir schalten den Fernseher ein, googeln und meinen, die Antworten gefunden zu haben. Wir glauben nicht an Erscheinungen, sagen lieber (oder denken es uns zumindest): „Das hast Du Dir eingebildet, so a Schmarrn.“
Und es ist doch kein Schmarrn. Es ist kein Schmarrn, weil sich eben nicht alles mit dem Hirn erklären lässt. Es ist kein Schmarrn, weil das erzählende Moment fast noch wichtiger ist als das eigentliche Geschehnis. Es ist kein Schmarrn, weil sich Erzähler und Zuhörer ihre Angst vor Dunkelheit, Tod und Verlust leichter machen wollen. Und es ist kein Schmarrn, weil früher noch viel mehr als heute der Glaube hinter allem wartete. Der christlich-katholische Glaube, der den Sünder und den Büßer ansprach, der mahnte und verzieh, der allmächtige Lebenswirklichkeit präsentierte. Und da war der Aberglaube, der laut „Aber!“ schrie – und schreit. Mach dies und das und Du bleibst verschont. Fünfzig Mäusezähnchen im Leinensäcklein unterm Kopfkissen? Passt! Sieben Ave-Maria und die Sünden sind vergessen? Die Grenzen sind fließend…
Was Karl-Heinz Reimeier mit seinen gesammelten Erzählungen vorlegt, ist Zeitzeugnis, Menschenzeugnis und ein gutes Stück Kulturgeschichte. Es geht um die Historie des Erzählens, um die Geschichte des Beieinandersitzens. Wer erzählt, hat was zu sagen – und wer zuhört, lässt sich auf etwas ein. Auf etwas, das den Geist beflügelt und die Seele wärmt, weil ein Miteinander stattfindet, das die Gemeinschaft stärkt und das Alleinsein wie das Wissen um die eigene Endlichkeit erträglicher macht. Heute macht der Mensch das kaum mehr – und nimmt sich dadurch selbst viel: Aus der Gabe des Zuhörens wird allzu schnell ein sich gegenseitiges, hastiges „Reinpressen“ von Wortschwällen.
Die nicht immer wohlige Angst des Unerklärlichen
Und dennoch… Die Weihraz-G’schichten ziehen auch heute noch viele in ihren Bann, weil sie eben das Urmenschliche ansprechen. Die nicht immer wohlige Angst des Unerklärlichen. Meine Oma hatte noch eine Geschichte: „Ich lag im Bett und konnte nicht einschlafen. Auf einmal erschien mir die Mare. Aber die war doch schon seit einem Jahr tot! Die Mare und ich waren Freundinnen und sie war lungenkrank und starb sehr jung. Und jetzt stand sie an meinem Bett, ganz weiß und durchscheinend. Irgendwann war sie verschwunden…“ Meine Ur-Oma kannte also solche Erscheinungen. Meine Oma auch. Von meiner Mama habe ich keine derartigen Erlebnisse gehört. Und was ist mit mir?
Ich träumte in den frühen Morgenstunden. Da war meine Oma, die meinen Opa in den Armen hielt, in ihrem Wohnzimmer, auf dem Fußboden. Sie sah mich durchdringend an und sagte: „Du musst dem Papa Bescheid sagen.“ Omas Blick war entsetzt und voller Trauer. Der Traum endete, ich wachte auf und bekam noch am Vormittag einen Anruf: Mein Opa war in den frühen Morgenstunden in den Armen meiner Oma verstorben…
Eva Hörhammer
Liebe Eva Hörhammer,
ich zolle Ihnen meinen Respekt, wie Sie sich den Geschichten aus der „Zwischenwelt“ nähern. Ihr Umgang mit diesen Geschichten und die eigenen Erfahrungen, das „Dahinterschauen“ und Ergründen von Ursachen hat mich beeindruckt und ich gratuliere Ihnen zu dieser umfangreichen und tiefgründigen Hinterfragung des Themas, das heute noch überaus vielen Menschen „unter die Haut“ geht.
Ich wünsche Ihnen alles Gute
Karl-Heinz Reimeier