Passau/FRG. Erst ein paar Wochen ist es her, dass die Passauer Kreisrätin Halo Saibold aufgrund eines erneuten Störfalls in Temelin die Regierung von Niederbayern dazu aufgerufen hat, eine landkreis- bzw. grenzübergreifende atomare Katastrophenschutz-Übung in die Wege zu leiten. Dabei sollen auch Kalium-Jodtabletten, die im Falle eines Reaktor-Unglücks verhindern sollen, dass die Schilddrüse radioaktives und somit krebsverursachendes Jod aufnimmt, im großen Stil verteilt werden. Ein Anliegen, das die ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen seit mittlerweile mehr als einem Jahr verfolgt – und das auch Passaus Landrat Franz Meyer unterstützt (da Hog’n berichtete).
„Ist sie nun endlich in Sicht? Wenn nein – warum nicht?“, möchte Halo Saibold seit Längerem vom niederbayerischen Regierungspräsidenten Rainer Haselbeck wissen. „Eine Übung des Zusammenspiels aller Kräfte wäre dringendst erforderlich“, sagt sie. Und fordert ihn – „damit es keine Ausrede in Sachen Zuständigkeit gibt“ – dazu auf, „wenigstens die Jodtabletten-Verteilung in Niederbayern unter realistischen Bedingungen zu üben und dabei eventuell auch die Verteilpläne zu erneuern“. Eine dezentrale Deponierung der Tabletten wäre Saibold zufolge besser geeignet als die derzeit zentrale Lagerung in Cham. Das Wenige, so die Passauer Kreisrätin weiter, das bei einem Super-GAU getan werden könne – nämlich einen gewissen Schutz für die Kinder und Schwangeren sicherzustellen – müsse getan werden.
Überarbeitung des bundesweiten Verteilkonzepts läuft noch
Vor einem Jahr hieß es seitens der Behörde, dass die überregionale Großübung bis dato deshalb nicht durchgeführt werden konnte, „da die dafür zuständige Regierung von Niederbayern die Überarbeitung der nuklearen Katastrophenschutzplanung sowie des bundesweiten Konzepts zur Verteilung von Kalium-Jodtabletten zur Jodblockade der Schilddrüse bei kerntechnischen Unfälle noch nicht abschließen konnte“. Der Bitte von Landrat Meyer und Kreisrätin Saibold nach einer Durchführung der Übung werde man jedoch „selbstverständlich gerne nachkommen“. Eine konkreten Zeitpunkt konnte Regierungspräsident Haslbeck aus planungstechnischen Gründen zum damaligen Zeitpunkt nicht nennen.
„Der nukleare Katastrophenschutz wird derzeit grundlegend überarbeitet. Die Änderung der Planung erfordert eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung vor allem mit den unmittelbar betroffenen Kreisverwaltungsbehörden, die eigene Anschlussplanungen erstellen. Ziel ist, die Überarbeitung der Planungen des Nuklearen Katastrophenschutzes in Niederbayern in diesem Jahr abzuschließen.“ (Reg. v. Niederbayern auf Hog’n-Anfrage im September 2017)
Auf jüngste Nachfrage bei der Pressestelle der Regierung von Niederbayern nach dem aktuellen Planungsstand teilt Katharina Kellnberger, Leiterin des Sachgebiets Öffentlichkeitsarbeit, folgendes mit:
„Gemäß den Vorgaben der Katastrophenschutzrichtlinien kerntechnische Anlagen – KSRKern – führt die Regierung von Niederbayern in diesem Herbst eine sogenannte „Stabsrahmenübung“ durch. Im Rahmen dieser Übung werden gezielt die überarbeiteten Sonderpläne für das Kernkraftwerk ISAR erprobt. An der Übung werden ca. 40 betroffene Stellen und insgesamt weit über einhundert Personen teilnehmen.“
Diese Übung, so Kellnberger weiter, diene insbesondere der
- Schulung der Mitglieder der Führungsgruppe Katastrophenschutz an den zuständigen Katastrophenschutzbehörden,
- der Erprobung der Zusammenarbeit auch mit weiteren beteiligten Behörden und Organisationen und
- der Überprüfung der Kommunikationswege.
„Für das Jahr 2019 werden bereits jetzt weitere Übungen geplant, insbesondere eine Notfallstationsübung sowie eine Mess- und Probenahmeübung. Diese Übungen sehen die Katastrophenschutzrichtlinien ausdrücklich vor“, wie die Pressesprecherin der Regierung von Niederbayern betont. Für die noch über diese Richtlinien hinausgehende Kaliumjodidtabletten-Verteilungsübung sei die Überarbeitung des bundesweiten „Konzepts der Verteilung von Kaliumjodidtabletten zur Jodblockade der Schilddrüse bei kerntechnischen Unfällen“ jedoch noch nicht abgeschlossen. Dieses Konzept stammt aus dem Jahr 2004. „Wir gehen jedoch davon aus, dass die neue Konzeption im Lauf des nächsten Jahres vorliegt und in den Ländern umgesetzt werden kann, sodass eine Übung in der Folge dann gleich nach den neuen Modalitäten erfolgen kann“, infomiert Kellnberger.
„Fehlt die Bereitschaft, enkeltaugliche Konsequenzen zu ziehen“
Halo Saibold reagierte enttäuscht auf das Regierungsschreiben. Der Landkreis Aachen habe alle Haushalte aufgrund der Nähe zu den belgischen Atomkraftwerken Tihange und Doel mit Jodtabletten versorgt. „Stellt sich mir die Frage, warum im Rahmen der bevorstehenden Katastrophenschutzübung ein radioaktiver Unfall in Temelin ausgeblendet wird, obwohl allgemein bekannt ist, dass Radioaktivität je nach Windrichtung vor Grenzen keinen Halt macht. Sind die Bewohner des östlichen Grenzgebiets zu Tschechien weniger schützenswert als die Bewohner im weiten Umkreis von Landshut? Oder besteht gar die Sorge vor der möglichen Erkenntnis, dass es im Falle eines größeren atomaren Unfalls im Atomkraftwerk Temelin überhaupt keinen wirksamen und funktionierenden Schutz geben wird?“
Der Passauer Landrat Meyer habe es im März dieses Jahres so formuliert: „Aufgrund der unmittelbaren Nähe des Landkreises Passau zum tschechischen Atomkraftwerk Temelin hat für die Bevölkerung ein effektiv funktionierender nuklearer Katastrophenschutz auf modernstem Standard hohe Priorität.“ Im politischen Bereich müsse Saibold zufolge auf allen Ebenen mehr und ernsthaft mit der tschechischen Seite darüber gesprochen und verhandelt werden, wie sich das Land von der Nutzung der Atomkraft verabschieden kann. „Auch Tschechien hat wie unser Land genügend Vorrat an erneuerbarer Energie und ebenso enorme Einsparpotenziale. Was fehlt, ist offensichtlich die Bereitschaft, dies anzuerkennen und daraus zum Wohle der Bevölkerungen enkeltaugliche Konsequenzen zu ziehen.“
Die Grünen-Kreisrätin hatte sich laut Hog’n-Informationen mittlerweile auch an den niederbayerischen Bezirkstagspräsidenten und Freyungs Stadtoberhaupt Olaf Heinrich gewandt: „Gemeinsam können wir vielleicht erreichen, dass der Schutz unserer Bevölkerung auch bei einem GAU in Temelin gesichert erscheint“, schreibt sie in einem Brief an den „Bürgermeister der nächstgelegenen deutschen Stadt“. Seitens Heinrich erhielt Saibold bis dato jedoch keinerlei Reaktion. Ebenso blieben etwaige Nachfragen des Onlinemagazins da Hog’n unbeantwortet.
Forderung nach Mitspracherecht von Nachbarstaaten
Indes fordert die Grünen-Bundestagsabgeordnete sowie Vorsitzende des Umweltausschusses des deutschen Bundestages Sylvia Kotting-Uhl Bundesumweltministerin Svenja Schulze und Außenminister Heiko Maas auf, „die ihnen vorliegenden geheimen Schweißnaht-Akten des AKW Temelin den Bundestagsabgeordneten zugänglich zu machen“, wie auf der Online-Petitionsseite „Stoppt Temelin – Gefährliche Schweißnähte untersuchen“ zu lesen ist. Die Petition wurde von der Wunsiedeler Grünen-Kreisrätin und Anti-Atom-Aktivistin Brigitte Artmann initiiert. Auch sie setzt sich für eine bilaterale Akten-Untersuchung ein und bemängelt die bisherige Untätigkeit der bayerischen Regierung, obwohl Artmann zufolge eine unabhängige Expertenkommission bereits 2015 „bei allen Schweißnähten im Primärkühlkreislauf von Temelin 1“ die nötige Sicherheit nicht habe nachweisen können.
Die Grünen würden seit Jahren eine Reform des EURATOM-Vertrags fordern, „der die Aufsicht über atomare Anlagen der Souveränität des Landes, in dem sie stehen, überlässt“, heißt es weiter auf der Petitionsseite. „Den Nachbarstaaten grenznaher Atomkraftwerke muss ein Mitspracherecht bei den Sicherheitsanforderungen eingeräumt werden.
da Hog’n