Neureichenau. Auf den ersten Blick ist Günter Wagner (63) nicht das, was man sich unter einem leidenschaftlichen Schauspieler vorstellt: Ein ruhiger Mensch, der 33 Jahre lang als Elektriker in einem großen Betrieb gearbeitet hat, Familienvater, Durchschnittstyp. Und trotzdem stand Wagner mehr als sein halbes Leben lang jedes Jahr im Herbst auf der Bühne. Auch heuer wieder – und das insgesamt zum 32. Mal -, wenn die Dreisesselbühne Neureichenau ihr neues Stück aufführt. Er ist eines der dienstältesten Mitglieder des Laientheaters – und das, obwohl er es so ganz und gar nicht mag, Texte zu lernen.
Bereits bei der Gründung der Theatergruppe im Jahr 1985 hat ihn das Projekt sehr interessiert: „Wir hatten mit dem Fußballverein eine Spielerversammlung im selben Wirtshaus, wo die Theaterleute ihre Bühne aufgebaut haben“, erinnert er sich. „Und da hab ich einfach mal gefragt, ob ich mal durchgehen darf durch die Kulisse.“ Er durfte. Im nächsten Jahr dann, als die Truppe neue Mitwirkende suchte, erinnerte man sich an Günter Wagner. Und schon war er einer der beiden „Spezi“ im Stück namens „Der Lätschi und seine zwei Spezi“.
„Ich war abends fast die ganze Woche über allein“
Einziger Haken dabei: „Lernen hat mir schon in der Schule keinen Spaß gemacht“, gibt Günter Wagner offen zu. Und trotzdem „quält“ er Jahr für Jahr die Texte in sich hinein. Weil der Rest des Theaterspielens einfach Spaß macht, wie er sagt. Mit der Zeit hat er seine ganz eigene Text-Lernmethode entwickelt: Dafür zieht er sich immer ganz allein in sein Arbeitszimmer zurück. Dort nimmt er den Text auf, den seine Mitspieler vor und nach seiner jeweiligen Einsatzstelle sprechen. Dann spielt er das Ganze ab und gibt seinen Text dazwischen wieder. Früher hat er dafür ein Diktiergerät mit Kassette benutzt – „heute geht es mit dem Handy: einfacher und schneller“.
Unzählige Abende hat er im Laufe seines Schauspielerlebens damit verbracht, Texte auswendig zu lernen. Anfangs oft Hauptrollen: „Da waren es um die hundert Einsatzstellen, die ich lernen musste“, erzählt er. Harte Zeiten – auch für seine Frau: „Ich war abends fast die ganze Woche über allein“, erinnert sich Renate Wagner. Denn neben der Schauspielerei gab es im Leben ihres Mannes ja auch noch die Freiwillige Feuerwehr und den Fußballverein. Bis heute ist sie aber Bewunderer der Schauspielerei ihres Mannes geblieben – und bei so gut wie jeder Aufführung dabei. Mittlerweile steht auch Tochter Sandra (31) gemeinsam mit ihrem Vater auf der Bühne. „Sie hat sein Talent geerbt“, sagt Renate Wagner und lacht.
Sein Talent, das ist: das Publikum zum Lachen zu bringen. Denn da liegen auch seine schauspielerischen Wurzeln: Bei lustigen Einlagen auf Faschingsbällen. „Früher konnten wir uns stundenlang Witze erzählen“, erinnert er sich. Besonders gut könne er das Publikum unterhalten, wenn ihm ein Stück sofort liege, sagt er. Zum Beispiel war das vor ein paar Jahren bei der Aufführung von „Das verflixte Klassentreffen“ der Fall. Wagner spielte darin einen Opa mit Rollator. „Da waren Sätze drin, die ich mir sofort merken konnte.“ Bei solchen Darbietungen fällt es dann auch leicht, das Publikum mitzureißen: „An den Stellen, wo man merkt, dass die Leute drauf anspringen, da musst du dann noch mal was drauflegen“, verrät Wagner.
Fällt jemand aus, kann nicht gespielt werden
Etwa zwanzigmal probt die Schauspielgruppe jedes Jahr vor ihren Auftritten im Herbst. Mit den Proben allein ist es bei einem Theaterensemble wie der Dreisesselbühne aber für die Vereinsmitglieder noch nicht getan. Wagner kümmert sich nebenbei auch noch um den Bühnenbau: Das „Grundgerüst“ ist immer das Gleiche – doch jedes Jahr müssen die Schauspieler dieses selbst neu gestalten. Denn einmal spielt das Stück in einem Wirtshaus, im nächsten Jahr dann in einem Stall. Wagner besorgt zusammen mit dem Rest der Truppe die Requisiten – alle zusammen investieren viel Zeit dafür, dass am Ende alles perfekt aussieht.
Günter Wagner ist als Elektriker außerdem der Mann für Beleuchtung und Technik. Er baut zum Beispiel Telefone so um, dass man sie von hinter der Bühne klingeln lassen kann. „Und dann hat einer mal den Hörer nicht richtig aufgelegt“, sagt Wagner mit einem Schmunzeln. Das Telefon auf der Bühne blieb still, als es klingeln sollte. Aber der Kollege auf der Bühne hat die Situation gerettet: „Wenn sie mich nicht anrufen, dann ruf ich sie halt an, hat er ganz laut gesagt.“ Überhaupt sei es ganz normal, dass der ein oder andere ab und an mal etwas ganz Anderes sage, als im Textbuch steht: „Solange auf der Bühne geredet wird, merkt das Publikum nicht, dass einer den Text vergessen hat“, gibt Wagner zu. „Nur das gewisse Stichwort muss irgendwann fallen, das dem Kollegen signalisiert, dass er jetzt dran ist.“
Auch mit 32 Jahren Theatererfahrung passiert es ihm ab und an noch, dass er gar nicht mehr weiter weiß: „Es reicht ein Satz zum Hängenbleiben“, sagt Wagner. „Dann wird es finster um dich rum, die Ohren rot, die Souffleuse schreit schon – und du hörst sie immer noch nicht.“ Vielleicht sind es aber auch diese Momente, die das Laientheater so sympathisch machen- immerhin spielt der Verein jedes Jahr vor vollem Haus. „Wir lassen keine Vorstellung ausfallen“, sagt der 63-Jährige. „Es standen auch schon Kollegen mit Mandelentzündung oder gebrochener Rippe auf der Bühne.“ Denn einen Ersatzmann gibt es nicht – fällt jemand aus, kann nicht gespielt werden.
Habe befürchtet, dass dies in einer Katastrophe endet
Seit 1985 hat es bislang mit der jährlichen Aufführung geklappt – bis auf zwei Ausnahmen: 2001 verunglückte Laienschauspielerin Manuela Blößl kurz vor der Premiere tödlich. Die Dreisesselbühne sagte die Auftritte daraufhin ab. „Manuela hat immer wahnsinnig gut gespielt“, erinnert sich Günter Wagner. Mit ihr habe man eine treibende Kraft verloren. Die Mitglieder der Dreisesselbühne sind eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich auch in Zeiten, in denen sie nicht proben, regelmäßig zum Stammtisch trifft. Der plötzliche Tod ihrer Mitstreiterin war ein tiefer Einschnitt.
Im vergangenen Jahr pausierte die Theatergruppe aus einem ganz anderen Grund: „Wir sind uns mit dem Pächter der Hochwaldhalle nicht über die Miete einig geworden“, sagt Günter Wagner. Heuer gibt es einen neuen Pächter, mit dem wir uns einigen konnten. Deshalb kann das Publikum sich auf das Stück „Frauenpower“ freuen. Die Handlung: Eine Frauengruppe will die Männerherrschaft im Gemeinderat beenden und kandidiert kurzerhand bei den Gemeinderatswahlen. Der Bürgermeister und seine altgedienten Gemeinderäte versuchen daraufhin alles, um zu verhindern, dass die Frauen sich in die Politik einmischen. Die Frauen wiederum möchten nicht, dass ihre Männer die Gemeinderatssitzungen regelmäßig in anrüchigen Nachtlokalen verlängern.
Günter Wagner spielt in diesem Jahr den Ehemann einer jener Kandidatinnen auf der Frauenliste. In drei Jahrzehnten auf der Bühne hat er schon so gut wie alles und jeden gespielt: Opa mit Rollator, Bürgermeister, Engel, Polizist und viele mehr. Und noch immer erinnert Wagner sich gut an seinen allerersten Auftritt: Höchst nervös habe er hinter der Bühne auf seinen Einsatz gewartet und mitbekommen, wie sich sein Schauspiel-Kollege ein Bier nach dem nächsten und einen Schnaps nach dem anderen genehmigte. Er habe befürchtet, dass dies in einer Katastrophe endet – und der andere zu betrunken wird, um zu spielen. „Aber der war ein Naturtalent, hat alles super gemacht“, berichtet Wagner rückblickend und schmunzelt. Mittlerweile ist der 63-Jährige routiniert – und dennoch: Vor einer Premiere bekommt selbst er noch gelegentlich Lampenfieber…
Sabine Simon