Niederbayern. Lebendig und quirlig, irgendwie auch süß, quieken sie umher. Matt rosa und irgendwie unschuldig. Aber potent. Und so kommt erst der Kopf zwischen die Knie. Ein Bauer zückt ein kleines Skalpell. Zwei kleine Schnitte über den Hoden. Die Testikel werden herausgezogen, die Samenleiter durchtrennt. Lange Zeit war man der Meinung, Ferkel würden bei ihrer Kastration – durchgeführt wenige Tage nach der Geburt – ohnehin keinen Schmerz verspüren. Auf eine Betäubung könne man daher verzichten. Diese Annahme stellte sich jedoch als falsch heraus. Auf eine Betäubung verzichtet man dennoch nicht. Aus Kostengründen. Deutschlandweit werden auf diese Weise jährlich 20 Millionen Ferkel kastriert.

Nach ein paar Tagen werden die männlichen Ferkel kastriert, um den sogenannten Ebergeruch zu vermeiden. Aus Kostengründen wird meist auf eine Betäubung verzichtet. Foto: PixabayCC0/Herbert2512
Bereits vor fünf Jahren, im Zuge der 2013 durchgeführten Reform des Tierschutzgesetzes, einigte man sich auf ein Verbot von Kastration ohne Betäubung. Und genau seit diesem Tage sträuben sich die Bauernverbände dagegen. Ab Januar 2019 sollte das Verbot dann endgültig in Kraft treten. Wird es aber nicht. Union und SPD haben sich am 1. Oktober darauf geeinigt, eine strengere sowie tierfreundlichere Regelung um weitere zwei Jahre hinauszuschieben.
Zwischen fünf und 15 Euro für eine Betäubung
Dabei gilt es zu verstehen, dass die jungen, unkastrierten Eber in der Landwirtschaft eine Art unerwünschtes Nebenprodukt sind. Das Fleisch der männlichen Ferkel fängt nach Erreichen der Geschlechtsreife beim Garen in der Pfanne an zu stinken – zumindest in ca. zwei bis zehn Prozent der Fälle. Durch den sogenannten „Ebergeruch“ sind die Tiere nach der Schlachtung für den Verzehr – und damit auch für den Verkauf – ungeeignet. Außerdem sind unkastrierte Eber weit aggressiver als ihre impotenten Stallkollegen. Damit steige die Verletzungsgefahr – und die Halter müssten größere Gehege anschaffen. Und das kostet Geld. Deshalb greifen viele Landwirte zum Skalpell. Dieser Eingriff ließe sich problemlos auch mit Betäubung durchführen. Zwischen fünf und 15 Euro würde es kosten, die Kastration von einem Tierarzt durchführen zu lassen. Zu viel, wie der Bauernverband und die Landwirte finden.
Doch scheitere es in diesem Fall nicht immer an der Knausrigkeit oder am mangelnden Mitgefühl. Die Gewinn-Margen in der Ferkelaufzucht seien schlicht zu klein, die Konkurrenz auf dem Markt zu groß, um diesen finanziellen Mehraufwand rechtfertigen zu können, argumentiert der Bauernverbund. Die Gewinne beim Verkauf eines Ferkels seien gar so marginal, dass bei zusätzlichen Kosten von bis zu 15 Euro der Bauer am Ende sogar draufzahlen könnte.
Ohne Chemie, dafür mit Schmerz
Außerdem beklagen Landwirte, dass es keine angemessenen Alternativen gebe. Die weitesten verbreitete Alternative zur Kastration ist derzeit die sogenannte Immunokastration, die „Impfung gegen Ebergeruch“. Dabei wird den männlichen Jungtieren vor ihrer Geschlechtsreife der Impfstoff Improvac injiziert, ein zweites Mal mindestens vier Wochen vor ihrer Schlachtung. Dieser Impfstoff verhindert, dass ein Eber jene Geschlechtshormone entwickelt, die für den sogenannten Ebergeruch verantwortlich sind. Diese Art der Behandlung ist für die Ferkel auch weit weniger schmerzhaft.

„Chemische Substanzen“ im Fleisch werden „Widerstand der Verbraucher“ zur Folge haben, befürchtet der CSU-Abgeordnete Max Straubinger. Foto: Achim Melde
Max Straubinger, Landwirtschaftsmeister und seit 1994 CSU-Bundestagsabgeordneter im Landkreis Rottal-Inn, hält den erneuten Aufschub der strengeren Tierschutzregelung für eine sinnvolle Maßnahme. Zwar wurde seit 2013 eine angemessene Alternative zur betäubungslosen Kastration gesucht, aber „leider ist bisher keine handhabbare und brauchbare Alternative gefunden worden“, erklärt Straubinger auf Hog’n-Nachfrage. Auch die Immunokastration mittels Improvac hält der CSU-Abgeordnete für ungeeignet. Denn bei der Kastration „mittels chemischer Substanzen“ sorge er sich um „den Widerstand der Verbraucher“.
Doch entgegen vieler Verbrauchersorgen handelt es sich bei Improvac um kein Hormonpräparat – es ist für Konsumenten daher eigentlich unbedenklich. Objektive Kriterien zählen bei dieser Thematik jedoch oft nur wenig – was zählt, ist der subjektive Eindruck des Verbrauchers – und der hat beim Schlagwort „Chemie“ nur wenig Lust auf Gegrilltes.
In Berlin bevorzugt man die Billigwurst
Für Straubinger stellt die „Lokalanästhesie bei der Ferkelkastration die für das Tierwohl und die Verbraucherinteressen“ geeignetste Lösung dar. Diese komme auch in anderen europäischen Ländern so zur Anwendung. „Leider konnte man sich bisher auf diesen gangbaren Weg politisch nicht einigen“, erklärt der CSU-Abgeordnete.
Und auch in Sachen Improvac greift das Kostenargument: Zwischen sieben und 15 Euro weniger Ertrag bringt ein Impftier im Vergleich zu einem kastrierten Eber. Wohl auch deshalb wurde die schärfere Regelung hinsichtlich des Tierschutzes erneut hinausgezögert. Letztlich werden marktwirtschaftliche Überlegungen in aller Regel über den Tierschutz gestellt. Was zählt ist: Möglichst viel Fleisch, möglichst billig. Den Bauern sind in diesem Wettbewerb oft die Hände gebunden: Sie haben die Wahl zwischen der günstigeren, aber moralisch fraglichen Kastration – und der eigenen wirtschaftlichen Zukunft. Viele fordern mehr Unterstützung von der Politik. Doch die derzeitige Regierung bevorzugt Billigwürstchen.

„Schützen Sie endlich die Tiere und nicht die Lobby-Interessen der Massentierhalter“, fordert der Grüne Anton Hofreiter. Foto: Stefan Kaminski
Anton Hofreiter, Co-Vorsitzender der grünen Bundestagsfraktion, richtete nach der Entscheidung vom 1. Oktober seine Forderung an Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner: „Schützen Sie endlich die Tiere und nicht die Lobby-Interessen der Massentierhalter.“ Doch von der Ministerin gibt es zu diesem Thema seitdem relativ wenig zu hören. In einem Interview mit der Brandenburger MOZ verteidigt sie den Beschluss: Das erneute Vertagen einer Entscheidung helfe „tatsächlich den Verbrauchern und dem Tierschutz“. Könnten kleinere Betriebe die strengeren Regeln aus Kostengründen nicht umsetzen, würde die Produktion ins Ausland abwandern – und dort drohten womöglich noch schlimmere Bedingungen.
Auf dem „4. Weg“ kastriert?

Alois Rainer (CSU) plädiert für den sogenannte „4. Weg“, die Kastration mittels lokaler Betäubung. Foto: Tobias Koch
Der Straubinger Alois Rainer, CSU-Bundestagsabgeordneter aus dem Wahlkreis Straubing, plädiert für den sogenannten „4. Weg“ der Lokalanästhesie, wie er auf Nachfrage dieses Onlinemagazins informiert. Nach der Fristverlängerung gelte es nun, „den rechtlichen Rahmen“ für eine Kastration unter lokaler Betäubung zu schaffen. Die bisher gehandelten Kastrationsmethoden seien für viele mittlere Betriebe in der Region „finanziell nicht tragbar“, so Rainer: „Im Gegenzug wären die Ferkel aus unseren Nachbarländern importiert worden, welche entweder keine Schmerzausschaltung bei der Kastration vorschreiben oder – wie Dänemark – eine Lokalanästhesie durchführen. Das hätte keinem genutzt: Weder dem Tierschutz noch unserem Vorhaben, regionale Lebensmittelerzeugung zu fördern“, erklärt der gelernte Metzgermeister. Wie Parteikollege Straubinger wolle er sich deshalb für den „4. Weg“ stark machen.
In einer dpa-Aussendung vom April 2018 wehrt sich der Deutsche Tierschutzbund auch gegen diese Art der Betäubung: „Aus Tierschutzsicht ist dieses Verfahren abzulehnen“, erklärt Sprecherin Lea Schmitz. Bei dem Verfahren sei nicht gesichert, ob das Ferkel nicht trotz lokaler Betäubung Schmerzen erleide. Landwirtschaftsorganisationen, Tiermedizin und Fleischindustrie dagegen befürworten den „4. Weg“. Die Lokalanästhesie würde Schmerzen gezielt und zuverlässig verhindern, heißt es von deren Seite.

Rita Hagl-Kehl (SPD) fordert „Verfahren, die den Anforderungen des Tierschutzgesetzes und des Arzneimittel- und Veterinärrechts entsprechen“. Foto: Achim Melde
Rita Hagl-Kehl ist aktuell Parlamentarische Staatssekretärin beim „Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz“ und sitzt für die SPD im Bundestag. Sie fordert, wie sie dem Hog’n gegenüber mitteilt, „schnellstmöglich Alternativen zur betäubungslosen Ferkelkastration“ – zur Not auch gegen den Widerstand des Deutschen Bauernbunds und der Wirtschaft. Die derzeitigen Kastrationsmethoden sind laut der Abgeordneten aus dem Wahlkreis Deggendorf „nicht mit einer artgerechten Tierhaltung vereinbar“. Für sie wie für ihre Partei sei es deshalb wichtig, „dass Rechtssicherheit geschaffen wird und die Verfahren den Anforderungen des Tierschutzgesetzes und des Arzneimittel- und Veterinärrechts entsprechen“.
Deutschland: Lebensmittel zum Discountpreis
Doch ist die dies nicht nur eine Frage der Politik, sondern auch eine der Konsumgewohnheiten. Fast in keinem Land der Welt sind Lebensmittel im Vergleich zum Einkommen so billig wie in Deutschland – das umfasst auch Fleischprodukte. Nicht nur Ferkel haben darunter zu leiden. So werden jährlich 40 Millionen männliche Küken geschreddert oder vergast. Sie sind für die Agrarindustrie unbrauchbar und werden schleunigst und billigst entsorgt. Dasselbe gilt für Kälber: Kommt ein Kalb mit dem falschen Geschlecht zur Welt – in diesem Fall dem männlichen – macht es nach rund zwei Wochen Bekanntschaft mit dem Schlachter. Im günstigsten Fall. Ist das Geld knapp, verenden Kälber oft, indem man sie nicht mehr füttert oder ihnen nicht mehr zu Trinken gibt.

Der Aufschub des Kastrationsverbots sei sowohl für den Tierschutz als auch für den Konsumenten eine gute Lösungen, findet Ministerin Klöckner (CDU). Foto: cdurlp/Klöckner
Trägt demnach der Konsument eine (Mit-)Schuld an den ekelerregenden Praktiken der Fleischindustrie? Wäre es ein potenzieller Ausweg aus dem Dilemma, wenn die Leute für ihre Steaks, Grillwürste und Weihnachtsgänse einfach tiefer in die Tasche greifen würden, vielleicht sogar müssten? Und die Frage, die sich daran anschließt: Ist es der Konsument, der für den artgerechten Umgang mit Tieren verantwortlich zeichnet – und dafür mehr bezahlen soll? Oder ist es der Hersteller?
Mindestens bis Ende 2020, im schlechtesten Fall bis 2023, wird erstmal betäubungslos weiterkastriert. Solange, bis man sich in Berlin auf eine Lösung geeinigt hat. Bis dies soweit ist, wird noch an mindestens 40 Millionen Ferkeln das Skalpell angesetzt.
(Anmerkung der Redaktion: Auch die regionalen CSU- bzw. SPD-Abgeordneten Andreas Scheuer, Florian Pronold und Thomas Erndl hatten unseren Fragenkatalog zum Thema Ferkel-Kastration erhalten. Dieser blieb jedoch unbeantwortet.)
Johannes Gress
Zum Weiterlesen und -schauen: