Wer denkt, Punk und Akustikgitarren, das funktioniert höchstens im stillen Kämmerlein, wenn man vielleicht Greg Graffin heißt und sich ein neues Bad-Religion-Kleinod aus den doktoralen Gehirnwindungen würgt – der liegt natürlich ganz falsch. Klar, Punk kracht in aller Regel – und das ist gut so, weil ja dahinter in der Regel Wut und Aggressionen in Musikform stecken. Aber man sollte nicht den Fehler begehen und die Wucht eines akustisch präsentierten Punksongs unterschätzen. Blutige Nasen und eingeschlagene Zähne – natürlich rein metaphorisch gesprochen – wären die logische Konsequenz, schneller, als man ein „Fuck-you-all“ ins Mikro rotzen könnte.

Die Jungs von Anti-Flag scheinen einen besonderen Bezug zu Deutschland zu haben – nicht nur wegen des St.-Pauli-Shirts. Foto: Jake Stark
Als besonders schönes Beispiel sei einem hier TV Smith, alias Timothy Smith, genannt, der zunächst als Sänger von „The Adverts“ („One Chord Wonders“ und „Gary Gilmore’s Eyes“ – klingelt da was?) frühe Punk-Erfolge feierte, ehe er seit den 1990er-Jahren solistisch und meist nur mit Akustikgitarre bewaffnet durch die Lande tingelt.
Anti-Flag nehmen kein Blatt vor den Mund
Anti-Flag aus Pitsburgh sind nun eher für das Gegenteil bekannt, also hochenergetischen, elektrisch verstärkten Punkrock. Allerdings – und hier schließt sich ein kleiner Kreis – hat das Quartett um Sänger und Leadgitarrist Justin Sane nun mit „American Reckoning“ ein akustisches Album veröffentlicht – und macht darauf eine sehr gute Figur. Dabei handelt es sich um den Abschluss einer Trilogie, bestehend aus den „American“-Alben „American Spring“ (2015), „American Fall“ (2017) und eben nun „American Reckoning“. Die zehn Songs sind nicht neu, sondern akustische Einspielungen von Songs der beiden Vorgänger. Dazu kommen drei sehr gut gelungene Cover-Versionen, die eine hochinteressante und sehr eingängige Perspektive einer Band zeigen, die man so nicht unbedingt erwartet hätte.
„The Debate Is Over (If You Want It)“ ist der Opener und zeigt wunderbar, dass ein guter Song ist ein guter Song ist ein guter Song… Denn neben schönen Gesangsharmonien, erfrischenden Melodien und einer positiven Attitüde fehlen die E-Gitarren mal eher gar nicht. „Trouble Follows Me“ und „American Attraction“ überzeugen ebenso mit wunderbaren Refrains und dieser unterschwelligen Wut auf Ungerechtigkeiten, die vor allem durch Sanes Gesang deutlich werden, der teilweise sogar etwas britisch klingt – ganz in der Tradition des Ursprungs des Punks im Vereinigten Königreich.
Anti-Flag nehmen kein Blatt vor den Mund, besingen „Racists“ genauso wie den Faschismus und die religiöse Rechte in „When The Wall Falls“. Auch das „Brandenburg Gate“ wird da zum Thema – nicht gerade naheliegend für eine US-Band. Aber in einem Interview hatte Sane gesagt, dass es sich dabei um ein Lied über die Hoffnung handele. Denn schließlich habe während des Kalten Krieges niemand für möglich gehalten, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands möglich wäre. „Der Song handelt davon, dass selbst Dinge, die wie ein Wunder erscheinen, wahr werden können“, sagte Sane damals.
Eintrittskarte für so manchen Punk-Skeptiker
Ein wenig elektrische Gitarre gibt es dann bei den drei Cover-Versionen, die sehr clever ausgewählt und hervorragend eingespielt wurden. „Gimme Some Truth“ vom großen John Lennon überzeugt als Stadion-Rocker, währen das Buffalo-Springfield-Cover „For What It’s Worth“ zeigt, dass Anti-Flag auch ein wenig auf U2 machen können, als die noch gut und relevant waren. Der Höhepunkt kommt dann aber zum Schluss: „Surrender“ von Cheap Trick ist per se schon mal ein ewiger Klassiker im AOR-Bereich. In der leicht rotzigen und angepunkten Version von Anti-Flag gewinnt das Stück aber noch einmal deutlich – und lädt zur direkten Wiederholung ein.
Fazit: „American Reckoning“ mag kein typisches Punk-Album sein – Spaß macht es aber trotzdem jede Menge. Und ist vielleicht die Eintrittskarte für so manchen, der dem Punk bislang noch eher skeptisch gegenüber gestanden ist.
Wolfgang Weitzdörfer
- VÖ: 28. September 2018
- Label: Spinefarm Records/Universal Music
- Songs: 10
- Spielzeit: 30:36 Minuten
- Preis: ca. 11 Euro