Sommer, das ist wie Weihnachten, nur wärmer und ohne Lametta. Für ein paar Tage, ein paar Wochen liegt die Arbeit darnieder, es geht in den Süden. Oder in den Norden. Hauptsache weg. In Autos, Bussen, Zügen, Schiffen oder Fliegern. Zur All-Inclusive-Buffet-Schlacht nach Ägypten. Zum Eimersaufen nach Mallorca. Zum Campen nach Kroatien. Hartgesottene und Wechselwarme geben sich den Städtetrip nach Rom.
Am Beginn jeder Reise steht der Stauraum. Des Fiat Punto. Der einfach keinen Platz haben will für vier Koffer, acht Taschen und ein Schlauchboot. Nach mehrstündiger Konsulation steht dann fest: Urlaub ohne Schlauchboot. Dafür mit Sohn.
Alles, aber keine Deutschen!
Auf den Stauraum folgt der Stau. Dass das Klimagerät bereits nach Kilometer 40 seinen Dienst quittiert, sorgt nicht zwangsläufig für ein Stimmungshoch. Und angesichts der großen Anzahl an Nummernschildern, die – nicht ganz zufällig – eine frappierende Ähnlichkeit zum eigenen Fahrzeugkennzeichen aufweisen, beschleicht einem bereits hier ein ungutes Gefühl: Dass der oberste Urlaubsimperativ – bloß keine anderen Deutschen treffen! – vielleicht schon bald zunichte gemacht werden könnte. Sangria kotzen, in Seeigel treten, vor Hitze kollabieren, Lebensmittelvergiftung – alles in Ordnung! Aber keine Deutschen!
Die Fakten: Noch nie ist ein Deutscher in irgendein anderes Land auf dieser schönen Welt gereist, ohne dabei nicht mindestens einen Artgenossen zu treffen. Das gilt für Kroatien wie für Burundi. Das hat es nie gegeben – und wir es auch in Zukunft nicht geben! Punkt.
„Ach, Sie sind auch Deutscher?“
Und aus eigener Erfahrung kann ich mit Gewisstheit sagen: Auf diesem wundertollen Planeten existieren rein stochastisch betrachtet mindestens 1,8 Milliarden Schwaben. Diese übertreffen zahlenmäßig nicht nur die Chinesen (und das sind viele), sondern warten mit geradezu neurotischer Sehnsucht darauf, die eigene Stammeszugehörigkeit kundzutun und nach geglücktem Outing am Frühstücksbuffet sogleich zu konstatieren: „Ach, Sie sind auch Deutscher?“
Bleiben Sie ruhig, halten Sie es simpel. In diesem Fall bleiben nur zwei Optionen: Sie packen die paar Brocken Suaheli aus, die sie in weiser Voraussicht extra zu diesem Zwecke einstudiert haben, und behaupten felsenfest sie seien ein Albino aus Tansania. Oder sie simulieren einen epileptischen Anfall. Beides kann klappen. Muss aber nicht.
Wohlwissend, dass ich den Kontakt zu den eigenen Landesgenossen ohnehin nicht vermeiden kann (ein Urlaub auf dem Nordpool war budgetmäßig einfach nicht drin), entschied ich mich für die Extremistenversion: Heimaturlaub. Oder besser gesagt: Bergwandern. Das ist auch total toll. Und akzeptiert den Umstand, dass es sowieso kein Entkommen gibt. Warum also nicht gleich in Höhle des Löwen und dem Unvermeidlichen ins Auge sehen. Von Angesicht zu Angesicht. Von Bajuwarengesicht zu Schwabengesicht.
Outdoor-Activity-Holiday-Action
Weil Wandern irgendwie nach Pension, Midlife-Crisis oder sonstigen sozialen Unverträglichkeiten klingt, taufen wir das Ganze an dieser Stelle einfach „Outdoor-Activity-Holiday-Action“ mit extensiven One-Foot-After-The-Other-Exercises, Cardeo-Exhaustion und Wildlife-Experience inclusive. Baby, so richtig Wildlife – im Fachjargon: Tirol.
Gut, nachdem sämtliche begriffliche Hürden aus dem Weg geräumt sind, der Urlaub also schon a priori als „cool“ eingestuft werden darf, kann’s losgehen. Fast. Auch ich muss natürlich anreisen. Ich mach das mit dem Zug. Fast bis nach Tirol, nach Garmisch.
Allerdings mit einem kurzen Zwischenstopp in Salzburg. Der Mozart-Stadt. Ein Chinese hatte leider Grippe, aber der Rest war da. Mit mir in Salzburg. Achja, ein paar Steinreiche liefen auch noch rum. Immerhin waren Salzburger Festspiele, da darf kein Goldarsch fehlen. Ein Teil der Besucher verdient in der Minute wohl mehr als ich im ganzen Monat, aber immerhin trag‘ ich Flipflop, T-Shirt und kurze Hose. Und keinen Anzug. In Schwarz. Den ersten Etappensieg verbuche ich also schon vor dem ersten Gipfel – fuck yeah!
In diesem Spar-Gourmet bedient sie: Wolfgang Amadeus Mozart
Weil ich halt schon mal da bin, wo ich bin, watschel ich zum Geburtshaus dieses musikalischen Ausnahmetalents mit dem klangvollen Namen Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart (für mich klingt das irgendwie schwer nach Alkoholmissbrauch am Taufbecken, aber das soll der Sache hier keinen Abbruch tun). Auch hier nehmen wir aus Gründen der Coolness wieder einen kleinen orthographischen Eingriff vor: Jay-C MC W. Morzhart ist also nun in the house! Achja, apropos: Haus. Aus Mozarts Geburtshaus wurde ein Supermarkt. 1,4 Milliarden Chinesen knipsen vorsichtshalber trotzdem mal ein Foto. Wahrscheinlich um es dem an Grippe erkrankten Daheimgebliebenen zeigen zu können.
Kurz frage ich mich, was das Salzburger Wunderkind wohl dazu sagen würde. Vielleicht wollte der kleine Wolfgang ohnehin ein Leben lang Kassier werden, statt Klavier zu spielen lieber mal einen Obstjoghurt ins Regal stellen!? Musikvirtuose als notwendiges Übel, aber Kassier aus Leidenschaft. Wie wohl sein Mitarbeiterschildchen ausgesehen haben muss? In diesem Spar-Gourmet bedient sie mit viel Freude: Wolfgang Amadeus Mozart.
Ludwig II.: „Ein Tag ohne Döner ist kein schöner“
Achja, irgendwie komisch dieses Salzburg. Also nichts wie weiter nach Garmisch-Partenkirchen, schließlich warten meine Stiefel schon sehnsüchtig auf Auslauf. Bei Ankunft treibt mich eine Mischung aus Neugier und Kohldampf durch die Stadt. Also Futtersuche: „Ludwigshof Döner-Kebab“ scheint mir gerade richtig. Das spricht für Qualität und vorzüglichste Kulinarik. Ludwig II. war schließlich weit über die Grenzen seines Reiches hinaus für seine osmanischen Gaumenschmeichler bekannt. Und wer kennt es nicht, Ludwigs weltberühmtes Zitat: „Ein Tag ohne Döner ist kein schöner.“ Oder, auch tausendfach zitiert: „Willst du dir was Gutes tun, füll‘ dein Pita mit Lammfleisch oder Huhn. Ist dein Magen heut‘ sensibel, bestelle lieber ohne Zwiebel.“
Naja, der Hunger war erstmal gestillt. Beim Hostel angekommen, fasste ich gewohnheitsgemäß den Plan, mich an der Rezeption vorzustellen, um sogleich fröhlich kundzutun, dass ich diese Nacht gerne in einem sich innerhalb dieser Gemäuer befindlichen Bettchen verbringen würde. Problem: Rezeption im Gebäude. Ich: außerhalb. Tür: verriegelt. Aber: Der Self-Check-In-Automat hilft gerne weiter und verspricht sogar bei erfolgreicher Handhabe die Tür zu öffnen. In 99 Prozent der Fälle funktioniert das tadellos. Gesetzt den Fall: Sie haben keinen Umlaut im Namen. Sonst kann einem, so wie in meinem Fall, so ein „scharfes S“ mal schnell den Abend vermiesen. Naja, hat dann auch nur 92 Minuten gedauert. Ich war drin. War dann auch fast nichts kaputt.
Am nächsten Morgen konnte es dann endlich losgehen. Der Weg aus dem Hostel gestaltete sich dann auch ungleich einfacher als der Weg hinein. Mit geschnürten Wanderstiefeln, ein bisschen zu viel Sonnencreme und einer Prise Bergluft im Achselhaar stieg ich die ersten Höhenmeter empor.
Die Mühen einer Gletscherquerung bleiben mir erspart…
Am Ende eines munteren ersten Wandertags komme ich mit einem leichten Sonnenbrand an der nächstbesten Hütte an. Merke: Eine große Menge Sonnencreme an einer Stelle des Körpers schützt nicht vor Sonnenbrand an einer anderen. Ergo erkläre ich das Prinzip „500 ml Creme auf die Unterarme, das Zeug wird sich dann schon je nach Bedarf verteilen“ für gescheitert. Gut, die Hütte selbst ist unspektakulär, weist aber einen interessanten Mix aus Authentizität und Modernität auf: Das Gebäude hat zwar kein fließend Wasser, dafür einen eigenen Instagram-Account. Da Instagram nur optisch-visuelle Reize übermittelt, jedoch keine olfaktorischen, begrabe ich meine Pläne für eine Protestaktion frühzeitig. 5D-Smartphones gibt es noch keine. Und ein bloßes Bild eines verschwitzten Wanderers erscheint mir nicht wirkmächtig genug.
Nun denn, Tag 2: Die Sonnencreme ist an Ort und Stelle. Ich schwitze hoch zur Zugspitze. Dabei nehme ich diesselbe Route wie Josef Naus, jener Prachtkerl, der bereits 1820 als erster Deutschlands höchsten Gipfel erklommen hatte. Ich fühle die historisch-epische Bedeutung eines jeden meiner Schritte. Vielleicht sind es auch die Blasen an meinen Zehen. Mühsam, Meter für Meter, Atemzug um Atemzug, arbeite ich mich vor in Richtung Bergspitze. Nur der Schadstoffausstoß der letzten 200 Jahre erspart mir Schlimmeres, die Mühen einer Gletscherquerung bleiben mir dank Klimawandel erspart – ein herzliches Vergelt’s Gott an dieser Stelle!
Dem Land Tirol und seinen Zuchtviehfäkalien die Treue!
Oben angekommen, treffe ich halb China. Und einen Schwaben. Sie alle wirken deutlich lockerer, weit weniger abgemüht als ich. Was Josef Naus wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass heutzutage drei Seilbahnen zur Zugspitze hochführen? Überall diese elende Modernisierung, von Wildlife-Action hab‘ ich noch nicht viel gesehen, denke ich im Stillen.
Aber das soll sich schleunigst ändern: Schon tags darauf geht’s nach Tirol. Lock’ren Schrittes, mit eleganter Hüftbewegung vorwärts drängend, überschreite ich mit braungebranntem Astralkörper und gehobenen Hauptes die Grenze von Bayern nach Tirol. Wenigstens Tirol scheint sich dem Modernisierungswahnsinn zu widersetzen: Nur fünf Minuten hinter der Grenze steige ich in Kuhscheiße. Diese Mischung aus bodennaher Wärme und das Gefühl der geruchtstechnischen Virtuosität in Sachen Naturverbundenheit in Form von Weideviehendprodukten löst sogleich orgasmusähnliche synaptische Beben in mir aus. Ich bin mittendrin… im Abenteuer: Dem Land Tirol und seinen Zuchtviehfäkalien die Treue!
Der Hüttenwirt Tiroler Art
Und während sich meine Wandersocken in den nächsten Tagen gefährlich nahe an einen Verstoß gegen das Kriegswaffengesetz herantasten, entwickele ich eine heimliche Begeisterung für einen ganz besonderen Typus Mensch: den Hüttenwirt nach Tiroler Art. Diese Begeisterung speist sich einerseits aus purer Bewunderung – andererseits aus bitterster Ehrfurcht. Was der Hüttenwirt sagt, das zählt. Das Problem: Was ein Tiroler Hüttenwirt sagt, ist für einen Nicht-Tiroler nicht immer gleich auf Anhieb verständlich. Denn der gemeine Tiroler versteht es – Dialekt sei Dank – „ch“- und „cz“-Laute an Orten zu platzieren, über die unsereins nur staunen kann…
Fragt man zum Beispiel nach dem Weg, bekommt man Antworten folgender Art: „Cccccchhhhzchhzz“. Aus Mimik und Gestik lässt sich dann zumindest ein grober Hinweis über die einzuschlagende Reiseroute erschließen. Antworten Sie am besten mit einem kurzen Kopfnicken. In einem Anflug grenzenloser Humoristik könnte jemand vielleicht unter Umständen irgendwie auf die vermeintlich geistreiche Idee kommen in Klicklauten zu antworten. Tun Sie es nicht! Der Tiroler ist kein Schwabe. Und Xhosa mag er auch nicht.
Aber zurück zum Hüttenwirt. Dieser zeichnet sich aus durch eine filigrane Melange aus purer Wurschtigkeit, dem Anspruch auf ein unanfechtbares Wahrheitsmonopol – und eine Prise Scheiß-Piefke-Mentalität. Wenn Sie sich einmal selbst davon ein Bild machen wollen, probieren Sie Folgendes: Fragen Sie einfach in akzentfreiem Hannoveraner Edel-Deutsch und ganz unverblühmt, am besten zur Rush-Hour, ob diese Hütte denn eine heiße Schokolade anbiete. Aber bitte glutenfrei. Ein Gesichtsausdruck sagt mehr als tausend Worte. Glauben Sie mir, so nah werden Sie dem wahrhaftigen Tiroler Wildlife nie mehr kommen…
Die weiteren Einzelheiten erspar‘ ich Ihnen an dieser Stelle. Doch seien sie versichert: Etwas, das „Outdoor-Activity-Holiday-Action“ mit extensiven One-Foot-After-The-Other-Exercises, Cardeo-Exhaustion und Wildlife-Experience inclusive heißt, ist cool und aufregend.
In diesem Sinne: Endlich wieder arbeiten!
Johannes Greß