Ja, noch gibt es sie: Diejenigen Menschen, die von gefühltermaßen längst vergangenen Zeiten berichten können. Einer Zeit, geprägt von harter Arbeit, Armut, von bescheidenen Verhältnissen und einem Lebensrhythmus im Einklang mit der Natur, bestimmt von handwerklichen Tätigkeiten, von Haus- und Hofarbeit. Und einem tiefem Glauben. Geprägt aber auch von tiefer Zufriedenheit und Dankbarkeit für das im Leben Erreichte, für das mit den eigenen Händen Geschaffene. Fernab von Konsumorientiertheit und Karrieredenken. Zufrieden sein – und für andere da sein.
Das Projekt „Solang der Herrgott will…“ des Südtiroler Filmemachers Hubert Schönegger versucht genau jene Geschichten zu erzählen. Dabei lässt er in seiner Dokumentation genau jene Zeitzeugen zu Wort kommen und porträtiert sie mit eindrucksvollen Bildern. Sein Anliegen: Das Lebenswerk der „Darsteller“ solle gewürdigt und für die Nachwelt erhalten werden. Zweifelsfrei große Ziele, die sich Schönegger und sein Team von „geosfilm“ mit diesem Projekt gesetzt hat. Doch: Wird der Film den gewiss interessanten wie beeindruckenden Geschichten tatsächlich auch gerecht?
Kamerschin – der Ort, den ein Riese in die Hänge getreten hat
Hubert Schönegger ist in der Branche kein Unbekannter – er u.a. für einige Berg- und Naturdokumentationen mehrfach ausgezeichnet worden. Zu seinen bekanntesten Machwerken zählt dabei die mehrteilige Doku-Reihe „Südtirol – Juwel der Dolomiten„, aber auch viele weitere hochwertige Beiträge haben den Schneideraum der in Innichen in Südtirol ansässigen Firma „geosfilm“ verlassen. Mit „Solang der Herrgott will…“ verfolgt Schönegger jedoch ein anderes Ziel: Im Vordergrund stehen diesmal nicht die imposanten Kulissen der Südtiroler Bergwelt, sondern die Menschen und deren Biografien. Dabei herausgekommen sind drei Geschichten, die zum Nachdenken und Mitfühlen anregen. Zum Mitlachen – oder zumindest zum Schmunzeln.
Zum einen wäre da die Geschchte von Kamerschin, einem kleinen Weiler in der Gemeinde Pfunders, 1.550 Meter über dem Meeresspiegel gelegen. Erstmals erwähnt wurde Kamerschin im Jahre 1395. Der Sage nach hatte ein Riese den Ort in die steilen Hänge der Felswände getreten. Dieser erscheint aufgrund seiner beinahe schon kitschigen wie atemberaubenden Schönheit irgendwie unwirklich. Alles wirkt wie aus einem erfundenen Bergidyll-Roman. Doch Kamerschin und die Kamerschinhöfe sind Realität. An diesem Ort liegt einem die Welt sprichwörtlich zu Füßen.
Anton Gasser, einer der Nachkommen der Kamerschiner, erzählt über die harten Tage und die Geschichte des Weilers. Er berichtet vom Winter 1951, in dem es „16 Meter Schnee gemacht hat“ – und in dem die kleine Ansammlung von Häusern wie durch ein bis heute nicht zu erklärendes Wunder von einer massiven Lawine verschont und nicht mit ins Tal gerissen wurde. Kamerschin zeugt von einer jahrhundertelangen Pflege der Natur- und Kulturlandschaft.
Anton Gasser weiß, warum das Erbe seiner Vorfahren über die Zeiten hinweg Auftrag und Verpflichtung, aber auch Bleibe für die Nachkommen geworden ist. Und dies wohl noch für etliche Generationen bleiben wird. Man mag es Kamerschin und seinen Bewohnern in jedem Fall wünschen.
„Nichts sehen ist immer besser als nichts hören“
Die zweite Erzählung handelt von den beiden Brüdern Hermann und Anton Prenn aus Obostock, einem kleinen Anwesen in Mühlwald. Die beiden teilen sich die Haus- und Hofarbeit – und haben dabei eine ganz besondere Herausforderung zu bewältigen: Anton lebt mit einer schweren Beeinträchtigung – er ist Anfang der 1990er Jahre erblindet. Anfangs versuchten sie noch um seine Sehkraft zu kämpfen, bis ihm ein Augenspezialist eröffnete: „Verbrennen Sie dafür keine Schilling – für diese Krankheit gibt es nichts.“ Seither lebt er sein Leben – eigenständig und nicht mit dem Schicksal hadernd. Ein Leben, das er Tag für Tag aufs Neue zu meistern weiß.
Anton Prenn orientiert sich anhand seines Gedächtnisses und seines Spürsinnes rund um den Hof – und das auf faszinierende Art und Weise. „Wenn zum Beispiel der Strom ausfällt, finde ich mich viel leichter zurecht als die anderen, die sehen können“, erzählt er mit einem Lächeln. Aber er meint auch: „Nichts sehen ist immer besser, als wenn ich nichts hören würde.“ Das zeigt, wie Anton (und auch sein Bruder Hermann) trotz der Einschränkungen und trotz der einfachen Verhältnisse auf ihre Art glücklich sind – und Frieden gefunden haben. „Wir sind zufrieden. Wenn wir es nicht wären, müssten wir etwas ändern“, meint Hermann Prenn ganz pragmatisch.
Obwohl es öfter mal zum Streit zwischen den beiden kommt, scheinen die beiden Brüder stets zu wissen, dass sie aufeinander angewiesen sind. Der eine kann nicht ohne den anderen. Eine Frau am Hof gibt es nicht. Hermann sagt dazu: „Jetzt brauch ich keine mehr am Hof. Ich habe mich jahrelang um die Mutter gekümmert. Und jetzt mach ich das halt auch.“ Die Prenns haben nie anders gelebt – und sind trotz der vermeintlichen Einfalt ihrer Lebensumstände glücklich. Oder vielleicht auch gerade deswegen.
Einzig der Hund namens Kira bietet Ablenkung und gibt den beiden Sicherheit. Wie es denn einmal weitergehen wird mit dem Anwesen Obostock? Irgendwann werden fremde Gesichter aus den Fenstern schauen, denken die beiden Brüder. Aber man darf mit der Zeit nicht hadern – und muss sich damit abfinden. So sagt Anton Prenn: „Ich kann nicht mehr 20 Jahre werden, wenn dann nur noch 120 Jahre. Z’ruck geht’s einfach nimma.“
„Jeden Tag, wo ich aufstehen kann, bin ich heilfroh“
Der heimliche Star der Dokumentation „So lang der Herrgott will…“ ist wohl aus Sicht der meisten Zuschauer Frieda Gamper. Sie ist die „Unterschallerbäuerin“ in Völs. Die viele Arbeit lastet schwer auf ihren Schultern. „I kimm ja nimma weit“, sagt die 87-jährige. Und tatsächlich, das Gesicht berührt fast den Boden, so gebeugt wandelt die Bäuerin und Mutter mittlerweile durch den Alltag. „Es ist wohl kaum jemand so buckelig wie ich“, meint Frieda Gamper – und ergänzt ganz offen: „Freude an der Arbeit hätte ich immer noch, aber meine Kraft ist zu Ende.“
Doch sie erzählt dies alles ohne Jammern, ohne Hadern – nur mit einer leichten Traurigkeit in der Stimme. Sie wirkt ungemein stolz auf das, was sie in ihrem Leben erreicht hat. Und auf das, was sie jetzt immer noch schaffen kann. Sie vermittelt eine schier unglaubliche Art der Dankbarkeit – trotz der Lasten ihres Lebens: „Jeden Tag, wo ich aufstehen kann, bin ich heilfroh.“ Ihr faszinierender Optimismus wirkt beinahe ansteckend. Sie blickt mit der ihr eigenen Zähigkeit immer nur nach vorne. Ein weiteres Problem für sie ist das immer schwächer werdende Augenlicht. Aber auch dazu sagt sie ganz pragmatisch: „Weinen darf ich deshalb nicht, weil die Augen sowieso schon so schmerzen.“
Das gute Gefühl ihrem Sohn Franz, der mittlerweile die Hofarbeit weiterführt, immer noch zur Hand gehen zu können und gebraucht zu werden, ist ihrer Welten Lohn. Auch Franz zeigt sich dankbar – und obwohl der Hof neben der tagtäglichen Arbeit nicht viel abwirft, scheint auch er zufrieden: „Es gibt jeden Tag was Warmes zu Essen – was will man denn mehr?“
Der Hof gibt beiden ein Auskommen. Und – vielmehr noch – Heimat. Voller Überzeugung sagt Frieda Gamper: „Bäuerin zu sein bedeutet für mich, für alle da zu sein.“ Wie lange sie noch die Bäuerin beim Unterschaller bleiben will? „Solang der Herrgott will…“
Eine Reise, die es in jedem Fall anzutreten wert ist
Hubert Schönegger hat es geschafft: Er hat diese drei Geschichten verpackt in gut 45 Minuten voller beeindruckender Bilder, untermalt mit dazu passendem Sound. Die „Darsteller“ und die exzellente Umsetzung dieses Projektes machen diesen Dokumentarfilm zu einer lebendigen Wertschätzung einer Generation, die Wertvolles geleistet hat.
Die Menschen, deren Geschichten durch die einzigartigen Aufnahmen auf imponierende Weise unterstrichen werden, stehen dabei stets im Vordergrund. Der Film wirkt zu keinem Zeitpunkt überladen oder gar übertrieben, sondern stets angemessen und respektvoll. Der Zuschauer merkt, mit welch großer Demut und Anerkennung die Filmemacher selbst an „Solang der Herrgott will…“ herangegangen sind.
Hubert Schönegger lässt die Zeitzeugen und deren Lebensgeschichten samt all den Herausforderungen, den harten Alltag sowie die allgegenwärtige Tradition noch einmal lebendig werden. Die Zuseher können durch die authentische Darstellung mit ihnen fühlen und sich auf eine Reise in die Vergangenheit begeben. Eine Reise, die es in jedem Fall anzutreten wert ist.
Daniel Eder
Ich bewundere den „Hog‘n“!