Bodenmais. „Vor Kurzem erst habe ich mir – Familie, Freunden und Bekannten zuliebe – einen Computer angeschafft.“ Hier macht Prof. Dr. Reinhard Haller eine abwehrende Handbewegung in Richtung Stube, wo der „digitale Judas“, der die treue Schreibmaschine ersetzt hat, zwischen Antiquitäten und Sammlerstücken aus dem bayerischen Grenzgebiet nun thront. Sicher würde der Heimatforscher bei dem folgenden Vergleich die Stirn runzeln. Und doch kann man nicht umhin, an Steve Jobs berühmte Abschlussrede vor den Studenten von Stanford zu denken, wenn Haller von seiner Arbeit spricht: „Haben Sie eine Tätigkeit gefunden, die Sie lieben, der Sie mit Begeisterung nachgehen, dann fügt sich alles Weitere. Dann brauchen Sie auch gar kein Hobby mehr!“
Jene Begeisterung zeigte sich früh bei dem Bodenmaiser Ehrenbürger, der am 10. Juli 1937 als Sohn von Georg und Kreszenz Haller das Licht der Welt erblickte – und gemeinsam mit den beiden Geschwistern Georg und Inge in seinem Geburtsort aufwuchs. Bereits als Dreizehnjähriger begann er seines Zeichens damit, „alte Sachen“ zu sammeln und den Dingen akribisch auf den Grund zu gehen. „Ursprünglich stammt die Familie Haller aus Südtirol“, weiß er. „Als sie vor mehr als 300 Jahren in Bodenmais sesshaft wurde, gingen die meisten von ihnen ins Bergwerk.“
„Wollte nur das einfache Leben eines Dorfschullehrers führen“
Bis heute erinnert sich Haller an die unheimlichen Kindheitsbegegnungen mit den „Roudn Monan“, die ihm – vom Eisenoxid des Silberbergwerks rot gefärbt -, im Vorbeigehen über die Wangen strichen. Dieses Erlebnis sollte ihn auch wissenschaftlich begleiten: 1970 schloss der 33-Jährige sein Studium der Volkskunde, Namensforschung und Bayerischen Geschichten an der Münchner Universität mit der Promotionsarbeit „Berg- und Hüttenmännisches Leben in der Hofmark Bodenmais 1580-1820“ ab. Es sollte nicht sein letzter akademischer Titel bleiben.
Nach dem Gymnasium studierte Haller Pädagogik und arbeitete von 1961 an als Volksschullehrer in Kirchdorf im Wald, Geiersthal und Einweging. Es folgte ein Sonderpädagogik-Studium mit der Zweiten Prüfung für das Lehramt an Volksschulen. Von 1965 bis 2000 leitete er die Sonderschulen Zwiesel und Regen. „Eigentlich wollte ich immer nur das einfache Leben eines Dorfschullehrers führen“, erzählt er. „Ich war froh, bei uns zuhause in Lohn und Brot zu sein und meine Familie nicht immer nur alle Knödeltage besuchen zu können. Aber so ist das, wenn einen etwas zieht oder man gezogen wird – und dann auch andere Menschen mitziehen.“
Die Rede ist von der wissenschaftlichen Volkskunde, deren Bekanntschaft Haller erstmals an der Pädagogischen Hochschule in Regensburg machte – und später, während seiner Dienstzeit als Lehrer, in der er – ausgerüstet mit Tonband und Fotoapparat – alte Bauerndörfer besuchte, weiter vertiefte.
„Was nützt die ganze Recherche ohne kreatives Schaffen?“
Die Ergebnisse dieser (Wieder-)Entdeckungstouren gingen sowohl in den Heimat- und Sachkundeunterricht seiner Schulen als auch in diverse Lehrerfortbildungen des Regierungsbezirks Niederbayern ein. Hier wirkte der umtriebige Geist einige Jahre als Referent. Danach war Haller zwei Jahrzehnte lang als Kreisheimatpfleger tätig, erhielt 1983 einen Lehrauftrag und später eine Honorarprofessur an der Universität Passau. Seither ist er Gastdozent an den Universitäten München, Wien und Mannheim sowie Mitbegründer gleich mehrerer Museen bzw. kultureller Vereine. Rund 60 Bücher und 550 Beiträge für Funk und Fernsehen, Zeitung, Zeitschriften und Jahrbücher umfasst die beachtliche Liste seiner Veröffentlichungen.
Das Alte Rathaus in Bodenmais beherbergte bis vor Kurzem eine Ausstellung zum Lebenswerk des berühmten Gemeindesohnes: Neben der Ernennungsurkunde der Universität Passau zum Doktor der Philosophie war dort etwa das Wegzeichen böhmischer Goldsucher aus dem 13. Jahrhundert zu sehen. Es markiert die Anfänge der Marktgemeinde. In den Vitrinen befanden sich Kinderreime und Volksmärchen, Zeitungsartikel über Hallers Entlarvung der „Fiktion Mühlhiasl“, Bodenmaiser Handwerksarbeiten aus Glas und Holz sowie einige Madonnen. Sie sind persönliche Andenken. „Einmal im Leben auf dem Heiligen Berg“ lautet einer von Hallers Buchtiteln. Mittlerweile blickt er auf 27 Fußpilgerschaften zum Svata Hora im böhmischen Pribram zurück. „Da war die Grenze noch gar nicht offen, sind wir Bodenmaiser bereits zu siebt rüber gewandert.“ Nicht fehlen durften in der Ausstellung Fundstücke und Dokumente der hiesigen Bergwerkstradition samt der ältesten bekannten Silberberg-Stollenkarte von 1693.
Anlässlich seines 80. Geburtstages hat sich Haller im vergangenen Jahr zu der Aussage hinreißen lassen, es sei nun allmählich genug mit der Forscherei. „Daraufhin folgten Monate, in denen ich viel gelesen habe, nur um dann festzustellen, dass mir das nicht reicht.“ Hier muss er über sich selbst schmunzeln: „Was nützt die ganze Recherche ohne kreatives Schaffen?“ Im Herbst soll deshalb eine weitere Monografie aus der erprobten Feder erscheinen. Sie beschäftigt sich mit dem völlig in Vergessenheit geratenen Heimatmaler Max von Hellersberg (1812-1868). „Sein Oeuvre mit 72 Aquarellen und Zeichnungen fiel mir bereits Anfang der 80er Jahre in die Hände. In Form eines Skizzenbuches“, erzählt er. „Schnell wurde deutlich, dass über diesen Mann nie jemand gearbeitet hat!“
„Es ist alles recht anstrengend für mich geworden“
Nach tiefen Grabungen in den Archiven Münchens, Landshuts und Passaus sowie persönlichen Korrespondenzen konnte Haller das Leben des niederbayerischen Adelssprosses rekonstruieren, der nach seinem Studium der Forstwissenschaften und dem Besuch der Münchner Kunstakademie als Revierförster in Rabenstein lebte. Seine Darstellungen von Zwiesel, Theresienthal, Klautzenbach, Lindberg, Regen und Bodenmais zählen, so Haller, zu den ältesten und originellsten der Gegend. „Wenn man etwas von Wert schaffen möchte, beginnt alles mit Begeisterung, mit dem persönlichen Interesse.“ Ob er hier die von Hellersberg’schen Miniaturen oder die eigene Arbeit meint, lässt sich nicht sagen. Es passt wohl auf beides.
Damit zukünftige Generationen die Heimatforschung in seinem Sinne weiterbetreiben können, hat Haller dem Markt Bodenmais 2010 ein umfangreiches gemeindegeschichtliches Archiv an Urkunden, Dokumenten und Bildern überantwortet. „Ich komme nicht mehr so viel herum und es ist alles recht anstrengend für mich geworden, aber in den Tiefen dieser Stiftung warten noch unzählige Geschichten und Personen darauf, dass man über sie schreibt“, stellt der bald 81-Jährige Nachwuchshistorikern in Aussicht.
Haller: „Ein erfülltes Leben besteht in sinnvollem Tun“
„Wenn Sie mich nun fragen, was ich unter einem erfüllten Leben verstehe“, überlegt er, „dann besteht dies grundlegend in sinnvollem Tun.“ Allerdings dürfe auch der Faktor Mensch nicht fehlen. Hier verweist Haller mit stolz glänzenden Augen auf seine drei Kinder und insgesamt fünf Enkelkinder. „Umso besser natürlich, wenn beides Hand in Hand geht: Mein Sohn Jörg ist selbst Volkskundler geworden, aber fragen Sie nicht…“ Hier winkt Haller lachend ab: „Oftmals hätten die jungen Leute sonntags auch Spannenderes vorgehabt, als mit dem Vater alte Totenbretter zu fotografieren. Meine Familie hat mir diese Freude aber immer gemacht.“ Und mit dem Gedanken an sie sitzt Prof. Dr. Reinhard Haller dann doch vorm PC.
Miriam Lange