Tagelang fieberte die Weltöffentlichkeit mit der thailändischen Jugendmannschaft, die mehr als zwei Wochen mit ihrem Trainer in einer Höhle eingeschlossen war. Begleitet von Kamerateams aus aller Welt, versuchten hunderte Helfer – unter ihnen Marinetaucher – alles Menschenmögliche, um die zwölf Jugendlichen und deren Coach aus jener misslichen Lage zu befreien. Als Letzter verlies am 10. Juli der 25-jährige Trainer die Höhle – lebendig! Globales Aufatmen.
Szenenwechsel: Auf der Insel Malta blickt Claus-Peter Reisch zur selben Zeit einem Richter ins Gesicht. Sein Vergehen: Als Kapitän des Rettungsschiffs „Lifeline“ rettete er rund 230 Schiffbrüchige vor dem sicheren Tod im Mittelmeer. Dafür hat er sich nun vor Gericht zu verantworten. An den Grenzen Europas funktioniert das moralische Maßband gänzlich andersrum…
„Das Ganze ist eine europaweite Angelegenheit“
Just zur selben Zeit kommen in Berlin fünf Personen zur Übereinkunft: „Das kann nicht so weitergehen!“ Über den Messengerdienst Telegram vernetzen sie sich, das Massensterben im Mittelmeer müsse ein Ende haben. Damit hatten sie ein Lauffeuer entfacht. Zuerst in Berlin, dann in ganz Deutschland. Die Initiative „Seebrücke – Schafft sichere Häfen!“ war geboren. Am 7. Juli, nur kurz nachdem die Initiative ins Leben gerufen wurde, bekräftigten 12.000 Menschen auf den Straßen Berlins ihre Forderung nach einer humanitären Grenzpolitik. Auch in weiteren Großstädten Deutschlands versammelten sich an diesem Tag mehrere tausend Demonstranten. Mittlerweile, nach rund zwei Wochen, ist die Seebrücke ein Bündnis von mehr als 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen, NGOs und politischen Bewegungen.
Der Asylstreit und die Auseinandersetzung zwischen Seehofer und Merkel sei sozusagen die „Initialzündung“ für diese Aktion gewesen, erklärt Liza Pflaum auf Hog’n-Nachfrage. Sie ist Mitbegründerin der Initiative und seitdem zuständig für deren Pressearbeit. Dass ein Rettungsboot mit über 200 Flüchtlingen an Bord tagelang auf dem Mittelmeer treibt, weil sich sämtliche Länder weigern, es an Land gehen zu lassen, und der Kapitän des Schiffs ins Gefängnis gehen soll – das habe das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Und dann „ging alles total schnell“, erklärt Pflaum weiter.
Rasend schnell verbreitete sich die Aktion innerhalb der Bundesrepublik, kleinere Demos, Flaschmobs, Kundgebungen oder Podiumsdiskussionen entstanden. Unter dem Motto „Kochen und Austausch“ diskutierte man etwa in Mannheim über das weitere Vorgehen. „Wenn Europa dicht macht und Seehofer durchdreht, sagt Mainz ‚Willkommen‘ – und meint es auch so“, heißt es etwa in Rheinland-Pfalz. „Seebrücke statt Seehofer“ in Offenbach.
Auch über die Landesgrenzen hinweg organisierten sich zahlreiche Leute unter dem Banner der Seebrücke. Wie etwa in Zürich oder in Edingburgh. Auch mit Barcelona und anderen europäischen Städten sei man bereits in Kontakt, erklärt Pflaum. „Das Ganze ist eine europaweite Angelegenheit“ – und deshalb brauche es auch „europaweite Solidarität“.
„Ein großer Teil der Bevölkerung ist mit dieser Praxis nicht einverstanden“
Ihre Message: „Es gibt ganz, ganz viele Menschen, die nicht so denken.“ Menschen, die für ein solidarisches Europa, ein menschliches Europa einstehen. Die dem Sterben an den EU-Außengrenzen ein Ende setzen wollen. Die sichere Fluchtwege nach Europa schaffen wollen, eine Seebrücke. Diese Botschaft wolle man bis in die letzten Winkel dieses Kontinents tragen – und in die Köpfe europäischer Politikerinnen und Politiker.
Aus dem „ersten Impuls“ aus Berlin, den fünf Initiatoren, sei mittlerweile eine lose organisierte, aber sehr breite Bewegung entstanden. Mit der Farbe Orange bringen sie ihre Solidarität zum Ausdruck – Orange, so wie die Schwimmwesten von Schiffbrüchigen. „Trage ein orangefarbenes Tuch – als Halstuch, am Rucksack, um das Halsband deines Hundes, oder hänge eine orangene Fahne aus deinem Fenster. So ist für alle klar, dass du dich für sichere Fluchtwege und Seenotrettung stark machst“, fordert man Sympathisanten auf, sich solidarisch zu zeigen.
Bereits für die nächsten Wochen seien weitere Aktionen in Planung, verkündet Pflaum. Demonstrationen, Mahnwachen – „Bewusstsein schaffen“ lautet das Gebot der Stunde. Auch München ist bereits Teil der Seebrücke – und natürlich hoffe man auch auf Niederbayern, erklärt die Mitinitiatorin. Doch in welchen Städten es schon Aktionen gibt und in welchen nicht, kann sie nicht mit letzter Gewisstheit sagen. Längst habe selbst sie aufgrund der Eigendynamik der Bewegung den Überblick verloren.
„Menschen auf dem Mittelmeer sterben zu lassen, um die Abschottung Europas weiter voranzubringen und politische Machtkämpfe auszutragen, ist unerträglich und spricht gegen jegliche Humanität“, heißt es auf der Homepage der Seebrücke. Vor allem wolle man auch zeigen, dass „ein großer Teil der Bevölkerung mit dieser Praxis nicht einverstanden ist“. Jener Teil der Bevölkerung, der, so Pflaum, in letzter Zeit im Getöse rechtspopulistischer und nationalistischer Forderungen untergegangen ist. Ein Teil, der seiner Stimme wieder mehr Gehör verschaffen müsse.
„Lifeline“-Kapitän darf Malta kurzzeitig verlassen
In einem Europa, das sich zunehmend abschottet, Grenzen und Zäune hochzieht und dabei das Massensterben im Mittelmeer billigend in Kauf nehme, sei es wichtiger denn je den „Diskurs zu verschieben“ und zu zeigen, dass die Mehrheit auf diesem Kontinent eben diese Art von Politik nicht befürwortet. Und bei diesem Vorhaben sei man durchaus optimistisch. Das Potenzial der eigenen Bewegung schätzt Pflaum „sehr hoch“ ein. Dabei strebe man nicht mehr und nicht weniger als die Rückkehr zur Humanität in Europa an. In den vergangenen Wochen habe man dafür „großartiges Feedback“ erhalten. Und das sei erst der Anfang: „Jeder Mensch kann ein sicherer Hafen sein!“.
Claus-Peter Reisch, Kapitän der „Lifeline“, durfte Malta in der Zwischenzeit wieder verlassen. Zumindest kurzzeitig. Um seine betagte Mutter für ein paar Tage zu besuchen. Danach muss er wieder zurück. Denn am 30. Juli wird ihm in Malta der Prozess gemacht. Allein im Juni ertranken 550 Menschen auf der Überfahrt von Afrika nach Europa.
Johannes Greß
Claus Peter Reisch steht nicht wegen der Rettung von Flüchtlingen vor Gericht. Diese Aussage ist falsch.