Ereignisreiche Tage liegen hinter uns. Von „Unionsstreit“, „Regierungskrise“ oder „Chaostagen“ liest und hört man da. Aus der Opposition hagelt es massive Kritik am Verhalten der Regierungsparteien, bei den Grünen spricht man gar von einem „Schauspiel der Selbstzerstörung und Zerrüttung“. Aber selbst innerhalb der Koalition bewegte sich der Ton stellenweise jenseits amikaler Gefilde. Innenminister und CSU-Chef Horst Seehofer stellte seinen Rücktritt in den Raum, andere forderten gar den Koalitionsbruch – und Neuwahlen. Das ganze Gemenge an Scharmützel und Sticheleien, das wir in den vergangenen Tagen erleben „durften“, drehte sich im Kern um die Frage: Dürfen Asylwerbende, die bereits in einem anderen Land registriert sind, an der deutsch-österreichischen Grenze einfach zurückgewiesen werden? CSU: ja! CDU: nein! Der Versuch einer Einordnung und Aufarbeitung…
Rückblende: Rund viereinhalb Monate hat es gedauert, bis nach den Bundestagswahlen vom 24. September 2017 eine regierungsfähige Koalition zu Stande kam. Nachdem aus der Jamaika-Koalition aus Union, SPD, FDP und Grünen nichts werden wollte, gaben sich erneut Union und SPD die Ehre. Von Anfang an stand diese Beziehung unter dem Titel „Zweckgemeinschaft“. Nicht gerade glücklich, aber irgendwie alternativlos. Dass es schon bald zum Zerwürfnis zwischen Union und SPD kommen würde, war schon damals nicht ausgeschlossen. Nun ist es zum Zerwürfnis gekommen – jedoch zwischen CDU und CSU.
Standpauken und Liebesgrüße
Unionsinterne Scharmützel sind nichts Neues – und schon lange vor Seehofer und Merkel gab es immer wieder mal Reibereien zwischen den beiden Unionsparteien. Mal mehr, mal weniger groß. Dabei war es oftmals die CSU, die im Süden den Aufstand probte und in steter Wiederkehr versuchte, die gesamte Union politisch etwas weiter nach rechts zu verschieben. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen im Spätsommer und Herbst 2015 schien ein weiterer Konflikt so gut wie vorprogrammiert.
Vor allem das Verhältnis von CSU-Chef Seehofer zu CDU-Kanzlerin Merkel war seit Längerem geprägt von Sticheleien, Standpauken, Ausladungen und Nicht-Einladungen zu Parteitagen sowie verbaler Aufrüstung. Im Mai 2016 denkt Seehofer offen über einen Bundestagswahlkampf der CSU nach – ein Affront gegen die Schwesterpartei. Dazwischen finden sich immer wieder Zeichen der Entspannung, der Versöhnung: „Auch wenn du es mir nicht glaubst, ich freue mich, dass du da bist beim CSU-Parteitag“, begrüßte Seehofer die Bundeskanzlerin beim CSU-Treffen im Dezember 2017. Die Kanzlerin beteuerte, das Verhältnis zum „lieben Horst“ sei vielleicht nicht immer einfach – und fügte dann noch etwas ironisch hinzu: „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht.“
Europäische Lösung oder nationale Alleingänge
Doch ab Tag eins nach der Übereinkunft zum Koalitionspakt mit den Sozialdemokraten, übt man sich in Bayern wieder im Rebellentum. Ob und wie der Islam jetzt zu Deutschland gehöre, lies die unionsinternen Wogen nicht zum ersten Mal hochgehen. Auch den „Kreuzerlass“ der CSU konnte man nördlich von Nürnberg nur bedingt nachvollziehen. Die anstehenden Wahlen zum bayerischen Landtag im Oktober 2018 und die Angst zu viele Wähler an die rechte AfD abtreten zu müssen, sind in den Reihen der CSU Grund genug, um sich von April an in stetig kürzer werdender Frequenz im rechten Wählerspektrum lautstark bemerkbar zu machen. Mit nationalistischen Forderungen und dem Ruf nach einer stark repressiven Flüchtlingspolitik, die in Berlin nur bedingt Anklang finden. In Prag, Bratislava, Wien und Budapest dafür umso mehr.
Auch die eigene Wählerschaft scheint man mit dem Rechtsruck etwas vergrault zu haben: 54 Prozent der CSU-Wähler würden ihre Stimme lieber der CDU schenken, heißt es in einer Forsa-Umfrage. Zudem sehen 39 Prozent der Befragten die CSU als „größtes Problem“ in Bayern – Flüchtlinge rangieren mit 30 Prozent dahinter. Der Cocktail aus Landtagswahlkampf, persönlichen Rivalitäten und einer Menge aufstrebender CSU-Politiker in zweiter Reihe droht die Union – und mit ihr die Koalition – zu zerreißen.
Der 11. Juni ist dann wohl der Tag, der das Fass zum Überlaufen brachte: Aus der lang angekündigten Vorstellung von Seehofers „Masterplan“ zur Beschränkung der Migration wird nichts – aufgrund von Differenzen mit der Kanzlerin. Der Streitpunkt: Seehofer und Parteigenossen möchten Flüchtende, die bereits in einem anderen EU-Staat um Asyl angefragt haben, direkt an der Grenze abweisen. Dies ist nicht nur juristisch äußerst umstritten, sondern auch in Reihen der CDU ein rotes Tuch. Dort fordert man eine „europäische Lösung“ statt „nationaler Alleingänge“.
62 zu 63 und der verflixte Punkt 27c
Die Fronten verhärten sich, obwohl den „Masterplan“ außerhalb der CSU eigentlich keiner kennt. Obwohl die Zahl von Flüchtlingen, die von der umstrittenen Regelung betroffen wären, verschwindend gering ist. Obwohl im Koalitionsvertrag von „Anstrengungen zu angemessener Steuerung und Begrenzung von Migrationsbewegungen“ die Rede ist – und man dort vereinbarte, man wolle dafür sorgen, dass „die Zuwanderungszahlen (…) die Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen werden“. Die monatlich 15.000 Asylwerber, die derzeit in Deutschland ankommen, werden diese „flexible Obergrenze“ nicht in Gefahr bringen.
Doch in der CSU ist man fester Überzeugung den „Asyltourismus“ (Markus Söder, CSU) beenden zu wollen. Mit „Asyltourismus“ zeigte sich auch, wohin es in Sachen Rhetorik zukünftig gehen soll: Erstmals benutzt von der rechtsradikalen NPD, etablierte der Begriff sich schnell im Vokabular der AfD – und gehört mittlerweile auch zum Wortschatz der Christlich-Sozialen.
Zum Showdown im Asylstreit kommt es dann am 1. Juli: Beide Unionsparteien tagen getrennt voneinander, auch die Amtsenthebung von Innenminister Seehofer steht im Raum. Auf den „Masterplan“ – mittlerweile auch der CDU bekannt – kann man sich in 62 von 63 Forderungen einigen – nur in Punkt 27c nicht. Dort heißt es im Wortlaut: „Künftig ist auch die Zurückweisung von Schutzsuchenden beabsichtigt, wenn diese in einem anderen EU-Mitgliedstaat bereits einen Asylantrag gestellt haben oder dort als Asylsuchende registriert sind“. Für die CDU ist die direkte Abweisung von Flüchtenden an der Grenze ein absolutes „No-Go“. Für die CSU ein absolutes „Must-Have“. Auch Abkommen mit 14 anderen EU-Staaten, welche Angela Merkel am EU-Gipfel ausgehandelt haben will (einige Länder bestreiten diesen Beschluss), wollen die CSU nicht besänftigen.
Der Rücktritt und der Rücktritt vom Rücktritt
CSU-Chef Seehofer forderte im Vorfeld des EU-Gipfels von Merkel, dass sie mit den anderen EU-Vertretern zu einer Übereinkunft komme, welche „wirkungsgleich“ zu seinem Masterplan sei. Nach Einschätzung der Kanzlerin habe sie diese Vorgabe erreicht. Das Urteil Seehofers: „nicht wirkungsgleich“. In der Nacht auf den 2. Juli dann der bisherige Höhepunkt eines schier endlosen Zerwürfnisses: Seehofer wolle als Innenminister und CSU-Chef zurücktreten. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung gießt Seehofer dann weiter Öl ins Feuer: Er halte es für einen persönlichen Affront, dass Merkel ihn aus dem Amt haben wolle. Er sei nämlich derjenige, der ihr ins Kanzleramt geholfen habe: „Ich lasse mich nicht von einer Kanzlerin entlassen, die nur wegen mir Kanzlerin ist“. Dass es hier schon lange nicht mehr um Sachfragen gehe, ist nicht nur aus der Opposition zu vernehmen.
Am Abend des 2. Juli kommt es dann doch noch zu einer Einigung: Grenznahe „Transitzentren“ an der deutsch-österreichischen Grenze sind der Kitt, der die zerstrittenen Schwesterparteien zukünftig zusammenhalten soll. Mittels diesen sollen „Asylbewerber, für deren Asylverfahren andere EU-Länder zuständig sind, an der Einreise“ gehindert werden – und „direkt in die zuständigen Länder zurückgewiesen werden“. Seehofer ist über das Ergebnis sichtlich erfreut, auch das Amt des Bundesinnenministers wird er weiterhin bekleiden: „Diese klare Übereinkunft, die in allen drei Punkten meiner Vorstellung entspricht, erlaubt mir, dass ich das Amt des Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat weiterführe.“
Habemus Einigung! @csu @cdu @cducsubt pic.twitter.com/DKr0aFZ3td
— Dorothee Bär (@DoroBaer) July 2, 2018
Auch Kanzlerin Merkel spricht von einem „wirklich guten Kompromiss.“ Denn: „Damit ist genau der Geist der Partnerschaft in der Europäischen Union gewahrt und gleichzeitig ein entscheidender Schritt getan, um Sekundärmigration zu ordnen und zu steuern“, heißt es von der Kanzlerin im Anschluss an die Einigung. Das Brisante: Die Forderungen nach Transitzentren stand bereits 2015 zur Disposition – die SPD erteilte diesem Vorschlag damals eine deutliche Absage.
SPD: Zwischen Prinzipientreue und Umfaller
Denn auch die Sozialdemokraten haben in dem ganzen Disput noch ein Wörtchen mitzureden. Im Koalitionsvertrag ist von „Transitzentren“ keine Rede, lediglich von einer „flexiblen Obergrenze“ von 180.000 bis 220.000 Migranten und Migrantinnen jährlich. Diese Zentren sind nicht nur rechtlich umstritten, sondern auch in Teilen der SPD ziemlich unbeliebt. Die Sozialdemokraten stehen nun vor der Wahl: Den eigenen Prinzipien treu bleiben, die Zentren wie bereits 2015 ablehnen – und damit (leichtfertig?) den Koalitionsbruch riskieren. Oder aber: Den Vorschlag der Union annehmen, den Frieden in der Koalition wiederherstellen – und damit weiter an Glaubwürdigkeit einbüßen.
Vieles wird sich dabei auch um die Frage drehen, wie diese „Transitzentren“ genau aussehen sollen. Ein Knackpunkt für die SPD: „Wir wollen keine geschlossenen Lager“, beteuert SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Aus Unionskreisen ist inzwischen zu vernehmen, dass genau dies der Plan sei. Im ZDF Heute-Journal bekräftigte CSU-Ministerpräsident Söder, es werde in diesen Zentren eine Residenzpflicht geben: Asylwerbende dürfen in der Zeit, in der über ihr Verfahren entscheiden wird, das Zentrum also nicht verlassen. Außerdem, so Söder weiter, stehe ihnen während dieser Zeit keine Rechtsmittel und keine Geldmittel zur Verfügung. Seehofer konkretisierte tags darauf: Maximal 45 Stunden werden sich Personen in den Zentren aufhalten müssen. Danach solle es zurück gehen.
Zuprosten darf sich nur die AfD
Ein weiterer Streitpunkt: Die Zentren können nur in Kraft treten, wenn es ein Abkommen mit Österreich gibt, Flüchtlinge wieder zurückzunehmen. Die Antwort aus des Nachbarn lässt nicht allzu lange auf sich warten: Man sei „sicherlich nicht bereit, Verträge zulasten Österreich abzuschließen“ – und bereitet sich zwischenzeitlich für die Sicherung der „Südgrenze“ vor. Der vielbesagte „Dominoeffekt“ könnte also Wirklichkeit werden. Kanzler Kurz, lautstarker Verfechter einer Begrenzung von Migration und bekennender Unterstützer der CSU, muss nun zusehen, wie sich die Katze in den Schwanz beißt.
Die #SPD hat sich durchgesetzt. #Transitzonen sind vom Tisch. Keine Haft, kein Zaun.
— Sigmar Gabriel (@sigmargabriel) November 5, 2015
Auch im EU-Parlament stoßen die aktuellen Entwicklungen nicht unbedingt immer auf Verständnis. Der Vorsitzende der liberalen Fraktion ALDE, Guy Verhofstadt, kritisierte in einer emphatischen Rede, hier handele es sich schon lange um keine Flüchtlingskrise mehr, sondern um eine „politische Krise“, die auf den Rücken der Flüchtlinge ausgetragen werde. Waren es im Jahr 2015 noch eine Million Menschen, die mit einem Boot das Mittelmeer überquerten, seien es in der ersten Hälfte des Jahres 2018 gerade einmal 45.000 gewesen. Das macht laut Verhofstadt gerade einmal 0,07 Prozent der insgesamt 68,5 Millionen Menschen aus, die derzeit weltweit auf der Flucht sind. Dass man hier zu keiner Einigung kommen könne, sei eine reine Farce.
Nun liegt der Ball bei der SPD. Sie wird nun parteiintern beraten, ob sie dem Vorschlag der Union zustimmen wird. Doch egal wie dieser Streit ausgehen wird – am Ende gibt es nur Verlierer: Eine CSU, die massiv an Glaubwürdigkeit einbüßte. Eine CDU, der man einen „Umfaller“ vorwirft. Eine SPD, die ohnehin nur als Verlierer aus dieser Sache gehen kann. Millionen von Wählerinnen und Wählern, die sich eigentlich um Dinge wie unsichere Jobs, steigende Mieten und ihre Rente sorgen. Und Tausende Menschen, denen auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Verfolgung in eine der reichsten Regionen dieser Erde die kalte Schulter gezeigt wird.
Zuprosten darf sich höchstens die AfD, welche ihre Ankündigung unmittelbar nach der Bundestagswahl – „wir werden sie jagen!“ – erfolgreich in die Tat umgesetzt hat. Die „Jagd“ sei „erfolgreich“ gewesen, bewertete AfD-Vorsitzende Alice Weidel den Asylstreit der Union. Nicht ganz zu unrecht schraubt die AfD ihre Erwartungen für die bayerische Landtagswahl sukzessive hoch. Die CSU hat den Rechtsnationalen einen Teppich ausgelegt, den sie nun munter abschreitet…
Analyse: Johannes Greß
csu cdu spd haben die Asyl-Industrie gemeinsam geschaffen, alle Spitzenpolitiker dieser Parteien sind dafür verantwortlich, alles andere ist dummes bzw. dümmlichstes Bauerntheater