Ich sitze am Esstisch und lese, der Bub spielt nebenan. Plötzlich dringen wütende Knurrlaute aus dem Spielzimmer – und ein paar bunte Teile fliegen durch die Luft. Der Bub läuft zu mir und Tränen des Zorns rinnen über sein kleines Gesicht. „Das geht nicht!“ schreit er. Gemeinsam gehen wir zum kritischen Spielzeug und er zeigt mir die Kugelbahn, die ich ihm vorgestern gegeben habe.
Sie lässt sich nicht so leicht zusammenbauen wie erhofft. Ich muntere ihn auf, es nochmal zu probieren. „Ich kann das aber nicht!“ sagt er weinerlich. Ich sage ihm, dass ich überzeugt bin, dass er es kann – und dass er es nochmal probieren soll. Gemeinsam atmen wir tief durch und ich ziehe mich wieder zurück. Aus dem Spielzimmer ist lange Zeit stille Geschäftigtkeit zu vernehmen – und auf einmal ein frohes: „Mama, schau mal!“
Gleichzeitig wissen wir: Nein, so ist das Leben nunmal nicht
Freilich hätte auch alles anders laufen können. Ich hätte sagen können: „Schau mal, so geht das.“ Dann hätte ich die Kugelbahn aufgebaut und fertig. Er hätte gesehen, wie es geht und es beim nächsten Mal wahrscheinlich alleine gekonnt. Keine Tränen, keine Wut, ein glückliches Kind. Aber wohl auch ein Kind, dem ich die Möglichkeit genommen hätte, sein Scheitern zu ertragen und das Beste draus zu machen. Ein Kind, dem ich die Lösung präsentiert hätte, anstatt es selbst eine finden zu lassen. Ein Kind, dem ich die Freude und den Stolz über das selbst Erreichte verwehrt hätte. Ein Kind, dem ich lediglich gezeigt hätte: „Du kannst das nicht, aber ich.“ Dass ich eine Kugelbahn aufbauen kann, ist mir klar. Ich muss mir das nicht beweisen.
Und so gilt es die wütenden Kindertränen auszuhalten und nicht persönlich zu nehmen. Geduld zu haben. Vertrauen zu zeigen. Er hätte es auch nicht schaffen können, klar. Und vielleicht schafft er es beim nächsten Mal auch wieder nicht. Aber ja – obacht, jetzt kommt eine Floskel: So ist das Leben! Nur mögen wir es nicht wahrhaben. Wir wünschen uns ein gelungenes Leben. Eins ohne Sorgen, Fehltritte, Umwege, schlechte Erfahrungen. Gleichzeitig wissen wir: Nein, so ist das Leben nunmal nicht. Und doch haben wir das Ideal im Kopf. Weil wir so schlecht über das Scheitern denken.
Doch was ist Scheitern eigentlich? Wie so manches Wort kommt „Scheitern“ aus der Seefahrt. Ein Schiff, das Schiffbruch erlitten hatte, „zerscheiterte“, ging „zu Scheitern“, brach also in Stücke. Da hat man sie also, die einzelnen Stücke eines Ganzen. Und dann? Dann kann man freudig rufen: „Ist doch großartig!“ Ja, denn dann besteht die große Chance, ein jedes zu betrachten und neu zusammen zu setzen. So wie die Kugelbahn des Buben. Oder wie sich selbst.
Stücke meines Selbst schienen auseinander zu brechen
Denn ist es nicht so? Ich erinnere mich an geplatzte Vorstellungsgespräche, an ein Verlassenwerden, an schreckliche Streits, an das Sitzenbleiben in der achten Klasse. An das heißkalte Gefühl im Bauch, diese Ohnmacht, diese Wut und die darauffolgende Traurigkeit. Nicht geschafft! Gescheitert! Kein neuer Job, keine Liebe, keine Harmonie, kein Vorrücken in die neunte Klasse. Gescheitert!
Nach der Traurigkeit breitete sich irgendwann eine große Weite aus, die sich gut anfühlte. Das war die Chance, eine andere dieser tausend Möglichkeiten zu leben. Die Freiheit zu spüren. Und da war das feste Gefühl, dass alles gut werden würde – und nichts umsonst ist. An dieser Stelle möchte ich meinen Eltern danken, dass sie mir so viel Urvertrauen mitgegeben haben, die Dinge so sehen zu können. Ich fand eine andere Arbeit, eine neue Liebe, sprach mich aus und versöhnte mich, wiederholte die achte Klasse, fand neue Freunde und festigte manch alte Freundschaft – und machte eben ein Jahr später Abitur.
Die Stücke meines Selbst schienen zunächst auseinander zu brechen – aber es gelang mir bisher noch jedes Mal, sie wieder zusammen zu setzen. Danach war ich eine andere. Keine bessere, darum geht es gar nicht. Aber eine andere, die einmal mehr die Erfahrung gemacht hatte: Scheitern bringt mich nicht um – es bereichert mich sogar.
Es wäre vielleicht ein wenig vereinfacht, zu sagen, hinter dem schlechten Ruf des Scheiterns stecke letztenendes die Angst vor dem sozialen Ausschluss. So nach dem Motto: „Hat’s nicht drauf, kann nix und wird auch nix mehr.“ Aber warum wird Scheitern so oft als Versagen interpretiert? Ich denke, da steckt eine ganz alte Geschichte dahinter…
Darum zurück zum Buben und der Kugelbahn. Er probiert aus, die Bahn alleine aufzubauen. Es gelingt ihm nicht sofort, die verschiedenen Teile und die unterschiedlichen Bahnhöhen in Einklang zu bringen – mal bricht das Ganze zusammen, mal rollt die Kugel nicht so wie erwünscht. Und das ist so, weil er dreieinhalb Jahre jung ist und kaum Erfahrung mit diesem Ding hat. Es fordert ihn heraus. Er will die Welle reiten und probiert herum, wird zornig, probiert weiter und irgendwann wird es ihm gelingen – vielleicht.
Vielleicht muss die Bahn in ihren Einzelteilen aber auch nochmal in die Schachtel, um ein halbes Jahr später wieder hervorgeholt zu werden. Und hier kommen wir als Eltern ins Spiel: Gestehen wir dem Buben sein eigenes Tempo zu? Haben wir die Geduld, ihn probieren zu lassen? Können wir sein Scheitern akzeptieren? Oder sind wir von der Erwartung getrieben, dass er die Bahn aufbauen können muss? Weil das der Benjamin auch schon kann – und der ist aber ein halbes Jahr jünger? Und außerdem sind die wütenden Tränen auf den kleinen, goldigen Gesichtern kaum anzuschauen, der arme Schatz…
Es geht noch weiter: Er wird sich trauen, selbst zu denken
Wie war das damals bei uns, als wir noch Kinder waren? Durften wir uns in unserem eigenen Tempo entwickeln? Wurden wir trotzdem geliebt, weil wir so angenommen wurden, wie wir waren? Oder haben unsere Eltern ihre Erwartungen auf uns übertragen und wir bekamen mal weniger, mal mehr zu spüren, dass unser Scheitern unerwünscht war? Weil sich Eltern gute, erfolgreiche, funktionierende Kinder wünschen, die gleichzeitig genug Kreuz haben, um in der Gesellschaft bestehen zu können. Weil sie sich kreative Kinder wünschen, die mit den geforderten Lösungskompetenzen aufwarten können.
Genau darin liegt jedoch der Widerspruch. Kinder, die keine Erfahrung mit dem Scheitern haben, können auch keine Lösungskompetenzen entwickeln. Zeige ich dem Buben, wie der Aufbau der Kugelbahn gelingt, wird er sie höchstwahrscheinlich immer gleich aufbauen. Und zwar so, wie ich es gemacht habe. Darf er sich aber selbst ausprobieren, wird er merken, dass es viele Wege gibt, die zum Ziel führen. Und es geht noch weiter: Er wird sich trauen, selbst zu denken.
Echtes Lernen ist nur durch Versuch und Irrtum möglich
Man weiß es nicht. Fest steht, dass die „herkömmliche“ Wirtschaft scheinbar bislang keinen allzu großen Wert auf selbst denkende Individuen gelegt hatte. Sondern vielmehr auf leistungsstarke, funktionierende, eher weniger hinterfragende Arbeitnehmer, die der monatliche Gehaltszettel ruhig stellen sollte.
Das heute noch bestehende Schulsystem hat sie darauf hingetrimmt. Und ich glaube nicht, dass dieses Modell in der weiterhin bestehenden Leistungs- und Konsumgesellschaft bereits ausgedient hat. Immerhin hätte dann wohl das Scheitern schon einen besseren Ruf. Der wahrlich innovative Mensch weiß nämlich: Echtes Lernen, echte Kreativität ist nur durch das Prinzip „Versuch und Irrtum“ möglich.
Und so stehe ich vom Tisch auf und sage: „Zeig doch mal!“ – und freue mich mit dem Buben mit, dass die Kugel so rollt, wie sie nach seiner Fasson rollen soll. Die Bahn steht etwas schief, die Kugel kommt an einer Stelle etwas ins Holpern, aber irgendwann plumpst sie am richtigen Ende aus der Bahn. Und ich sehe die wahre Freude in den Augen des Buben, der die Kugeln immer und immer wieder durch das von ihm erdachte System rollen lässt.
Eva Hörhammer
Ein wahrhaftiger Artikel, denn sich alle, die Umgang mit Kindern haben, zu Herzen nehmen dürfen. Wir dürfen scheitern und „Erfahrung macht vielleicht klug“ – wenn wir sie selbst machen können.