Schliersee/München. Seine Pointen sitzen immer noch. Und wenn er auf oder neben der Bühne den Mund aufmacht, sperren seine Zuhörer in freudiger Erwartung eines tiefgängigen Kalauers die Lauscher auf. Dabei muss er sich gar nicht großartig verstellen. Er ist wie er ist, der Gerhard Polt. Ein Soziologe par excellence, der die Marotten der Menschen wie kaum ein anderer zu deuten und in sich aufzusaugen versteht. Ein Genie ohne Wahnsinn, das auf klare Fragen noch viel klarere Antworten gibt. Es geht um Heimat, Schweinsbraten, Sprache und das Leben auf dem Land und in der Stadt.
Herr Polt, kann ein Ministerium bestimmen, was Heimat ist?
Nein, aber die Politik will genau das. Der Heimatbegriff ist jetzt wieder angesagt. Und die Politiker springen auf den Zug auf, um sich von einer anderen Partei nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Die Politik speist sich von einem diffusen Bedürfnis nach Heimat, einer Schimäre. Konservativ sein heißt oft auch intellektuell stehenbleiben. Dabei ist Gesellschaft etwas Lebendiges, der Staat ist etwas Statisches. Der Staat kann nicht bestimmen, was Heimat oder Sprache ist. Der hat nur da zu sein, um die Lebendigkeit der Gesellschaft zu schützen oder sogar zu verbessern.
„Vielen Menschen fehlt es leider Gottes an Skepsis“
Würden Sie im Heimatministerium arbeiten wollen?
Nicht ums Verrecken.
Politiker benutzen in diesem Kontext gerne den Begriff „Wir“.
Das „Wir“ kann man wunderbar instrumentalisieren. Vielen Menschen fehlt es leider Gottes an Skepsis, um immun gegen Aufforderung dieser Art zu sein – eine Art Leck-mich-am-Arsch-Gefühl. Das heißt nicht, dass ich für jede Form des Asozialen offen bin. Aber es gibt bestimmte Dinge, bei denen asozial sein auch eine Leistung ist – als Verweigerungshaltung.
Haben Sie sich jemals heimatlos gefühlt?
Nein, entheimatet würde ich mich erst fühlen, wenn ich einsam wäre. Ich komme aber überall mit den Menschen in Kontakt. Selbst im Lift kann es passieren, dass ich jemanden anrede. Ich fange meistens an und frage: So, wie schaut’s aus? Die meisten Leute sind peinlich berührt, aber manchmal komme ich so ins Gespräch. Und dann rede ich über alles Mögliche, von Wladimir Putin bis hin zu der Tatsache, dass der Schweinsbraten schlechter geworden ist. So erfahre ich, was die Menschen beschäftigt, was sie verdienen, wie sie leben, wie sie sich durchs Leben schlagen, worüber sie sich amüsieren und welche Befürchtungen sie haben.
Ist der Schweinsbraten denn wirklich schlechter geworden?
So pauschal kann man das nicht sagen, aber bestreiten kann man es auch nicht. Ein guter Schweinsbraten hat etwas mit Handarbeit zu tun. Die Besitzer von Wirtschaften waren früher noch Handwerker und haben den Schweinsbraten noch von der eigenen Oma gelernt. Das Fleisch wurde beim Metzger in der Nähe bestellt, bei dem man noch wusste, wo er die Sau kauft.
„Früher hatten die Menschen mehr Respekt vor dem Essen“
Was macht einen guten Schweinsbraten aus?
Das ist keine Kunst. Er muss frisch sein und eine Kruste haben. Außerdem sollte er in der eigenen Soße serviert werden, keine Packerlsoße. Man braucht auch einen echten Knödel und – je nach Region – Blaukraut, Sauerkraut oder Kartoffelsalat. Und er muss mittags gegessen werden.
Kann man denn Fleisch heute noch guten Gewissens essen?
Ich kann Vegetarier durchaus verstehen. Ich bin in einer Metzgerei aufgewachsen und habe noch die Schreie von den Tieren im Kopf, als sie geschlachtet wurden. Es ist nicht so, dass mich das überhaupt nicht beeindruckt hätte. Aber man sah damals solchen Dingen etwas stoischer entgegen. Weil man wusste, dass der Hase nur da ist, damit er irgendwann auf dem Teller landet.
Was war früher anders?
Früher hatten die Menschen mehr Respekt vor dem Essen, weil es knapper und teurer war. Als ich noch ganz jung war, hat es sogar noch Lebensmittelmarken gegeben. Damals hat man die Innereien auch noch mitgegessen. Die gibt es heute gar nicht mehr auf der Speisekarte. Dementsprechend war der Sonntagsbraten etwas Besonderes. Heute hat man dem Essen gegenüber eine größere Gleichgültigkeit. Die Leute hauen sich in der Bahn nebenbei einen Döner rein, während sie abwesend auf ihr Handy starren.
War es in der Bahn damals einfacher, mit Menschen ins Gespräch zu kommen?
Wenn du früher in der Tram gefahren bist, haben die Leute anders miteinander verkehrt. Heute hocken sie dort mit den Stöpseln im Ohr, wischen auf ihrem Smartphone herum und beschäftigen sich nur noch mit sich selbst. Das war damals anders, da hat man sich in der Tram noch miteinander unterhalten.
„Deutschland war immer eine internationale Gesellschaft“
Sie kommen mit anderen Menschen ins Gespräch. Sprechen wir aber mal über einen anderen Aspekt: Glauben Sie, dass heute noch genug gestritten wird?
Ja, aber anders. Die Leute sagen heute nur noch Arschloch oder Idiot. Früher hat man sich noch Zeit genommen, um Menschen anständig zu beleidigen. Da wurden ganze Kunstwerke angelegt, um jemanden zu schmähen. Man hat der Fantasie freien Lauf gelassen, damit derjenige sein Fett wegkriegt. Das hat auch viel mit den Möglichkeiten des Dialekts und der Sprache zu tun.
Es gibt eine Partei im Bundestag, die Deutsch als Sprache im Grundgesetz verankern will.
Wenn man eine Vorstellung hat, was im Lauf der Jahrhunderte auf deutschem Boden los war, wer hier alles gekommen und gegangen ist, sei es Mozart oder ein einfacher Handwerkslehrling aus Italien. Dann müsste man eigentlich wissen, dass Deutschland immer eine internationale Gesellschaft war. Ein Kommen und Gehen. Beeinflussen und beeinflusst werden.
Welche deutschsprachigen Autoren fallen Ihrer Meinung hinten über?
Wir haben auch so viele tolle Schriftsteller in diesem Land, noch dazu aus München. Aber wer kennt hier Oskar Maria Graf? Der ist für mich sogar besser als Thomas Mann, weil er die Widersprüchlichkeiten des Menschen beschrieben hat. Wer kennt Lion Feuchtwanger? Oder Karl Valentin? Einer der größten deutschsprachigen Komiker, wenn nicht vielleicht der allergrößte. Es ist unglaublich, wie wenig er in seiner eigenen Stadt, München, bekannt ist. Mir tut leid, dass man diese Art der Komik so brach liegen lässt. Es ist schade, dass all diese Menschen nicht Teil des Bildungskanons an Schulen sind. Wäre eine Demokratie ohne Humor überhaupt denkbar? Komik ist nämlich nicht nur Privatsache.
Haben junge Leute heute weniger Freiheiten als früher?
In einer gewissen Weise ja. Das geht schon an der Schule oder Uni los. Das humboldt’sche Ausbildungssystem gab den Studenten mehr Freiheit. Die hatten dann zum Beispiel die Möglichkeit, ein Jahr lang zum Jobben oder Bummeln in die Welt rauszufahren. Ohne gleich das Gefühl zu haben, Zeit zu verlieren.
„Gastwirtschaft war ein Ort des Aufenthalts, der Kommunikation“
Was würden Sie den jungen Leuten heute empfehlen?
Mindestens ein Jahr ins Ausland gehen. Andere Leute, andere Sprache, anderes Milieu. In meinem Heimatdorf Schliersee gibt es 17- bis 18-Jährige, die schon in Australien oder Kambodscha waren. Ich glaube, dass man bestimmte Qualitäten seiner Heimat erst schätzt, wenn man weg war. Oder auch das Gegenteil: Man sieht seine Heimat differenzierter.
So global dachten die Menschen nicht immer.
Die Menschen waren früher provinzieller. Vor drei Jahren ist mein Nachbar gestorben. Der war in seinem ganzen Leben nur drei Mal in München. Das erste Mal ist er nur am Bahnhof umgestiegen, um zum Reichsparteitag nach Nürnberg zu fahren. Das zweite Mal ist er als Gebirgsschütze ins Oktoberfest-Zelt. Das dritte Mal war er in der urologischen Abteilung. Der hat in seinem Leben nie was anderes kennengelernt als Schliersee.
Was hat sich seitdem getan?
Früher standen an jeder Ecke Münchens Handwerkbetriebe. Da war eine Polsterei, eine Schreinerei, eine Metzgerei. Es war lebendig. Heute ist die Stadt zubetoniert, geschleckt und steril. Außerdem gab es in München viel mehr traditionelle Gaststätten, wo man sein Bier trinken, seine Wurst essen und Karten spielen konnte. Mit normalen Leuten: Trambahner, Handwerker, kleine Gewerbetreibende. Die Gastwirtschaft war ein Ort des Aufenthalts und der Kommunikation.
„Dem Geld wohnt eine Auslösung dörflicher Strukturen inne“
Und auf dem Land?
Am Land gab es in jedem Ort Bars oder ein Wirtshaus. Meistens eins, manchmal zwei. Da kamen alle Leute zusammen, auch die Vereine trafen sich dort. Am Montag die Briefmarkensammler, am Dienstag die Musiker, am Mittwoch die Feuerwehr. Wegen des Reichtums fingen die Vereine an, sich ihre eigenen Vereinshäuser zu bauen, sodass sie nun alle autark und unter sich sind. Ich will den Vereinen nicht die Freude nehmen, aber dem Geld wohnt auch eine gewisse Auslösung der dörflichen Strukturen inne.
Rührt daher dieses diffuse Gefühl von Heimatlosigkeit, das viele Menschen verspüren? Ein ehemaliger Bundesminister sagt, die Konservativen brauchen eine Revolution.
Wenn der Kartoffelknödel wieder handgerieben wäre, nicht der Fertigteig aus China oder Rumänien. Das wäre für mich eine Revolution.
Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin alles Gute.
Interview: Robert Meyer