Neulich hat mich Trump so fuchtig gemacht, dass ich lieber ganze Johannisbeersträucher leer geerntet habe. Im Akkord. Anschließend wollten die Beeren von den Rispen gezupft werden, bevor sie ihrer weiteren Bestimmung nachgehen konnten. Da fiel mir plötzlich wieder Gerald Hüther ein, der im Interview mit Jeannine von „Mini and Me“ über Momente gelingender Beziehung sprach. Schon geliket und geteilt – aber noch nicht angehört. Die liebe Zeit… Aber jetzt!
Und so kommt es, dass die roten Beeren in die Schüssel purzeln und ich angesichts des Gehörten nicke und hin und wieder sehr berührt bin. Gerald Hüther ist mir zuerst beim Schauen des Films „Alphabet – Angst oder Liebe“ untergekommen. Dieses sagenhafte Werk von Erwin Wagenhofer beschäftigt sich mit dem Thema „Bildung“ – was macht die herkömmliche Schulbildung mit uns als Gesellschaft, was verändert sie im Kind? Mich hat der Film so nachhaltig beeindruckt, dass mir erst dann klar wurde, wie das Wesen von Kindern eigentlich ist, obwohl ich damals noch kein eigenes hatte. Und mir (und auch meinem Mann) wurde klar, wie ich mit meinem Kind einmal umgehen möchte – und dass es gewiss keinen Regelkindergarten und keine Regelschule besuchen wird.
Uns wurde das freudvolle Entdecken der Welt ab-erlernt
Warum nicht? Davon spricht Gerald Hüther auch im Interview. Ich wage zu behaupten: Wir alle haben wohl mehr oder weniger die Erfahrung gemacht, dass unsere Eltern uns zum Objekt gemacht haben. Das heißt, uns wurde gelernt, wie das Leben geht. Wir durften uns meist nicht selbst neugierig ins Leben tasten, Fehler machen, nochmal von vorn anfangen und so unseren eigenen Weg herausfinden, mit eigenem Tempo, nach eigenem Bedürfnis. Unsere Umwelt hat von uns erwartet, wie und wann wir gewisse Dinge machen: „Was, der ist schon eineinhalb und kann noch immer nicht richtig laufen?“ – „Schau mal, das Puzzle geht so!“ – „Nach der ersten Klasse musst Du schreiben können.“ – „Sag schön Danke, sonst gibt’s nächstes Mal nichts mehr!“ – „So wird das aber nichts!“ (…)
Was auf Anhieb nicht so überaus dramatisch klingt, ist es bei genauerem Hinschauen aber: dramatisch – oder besser gesagt traumatisch. Indem das Kind zum Objekt der eigenen Erwartungen und Vorstellungen gemacht wird, verlernt es, auf sich selbst zu hören. Weil es den Eltern gefallen will – weil es um die (oft lästige) Abhängigkeit weiß, weil es die Eltern liebt. Dadurch entsteht Distanz – Distanz zu unseren Eltern und Distanz zu uns selbst. Uns wurde das freudvolle Entdecken der Welt ab-erlernt. Wahrscheinlich hat uns das gefrustet, was zum Beispiel Lernverweigerung zur Folge hatte. Oder Bauchweh, wenn wir zur Schule mussten. Oder Insbettbieseln. Irgendwann aber haben wir gelernt, dass Frust auch nicht gut ankommt – und wir haben es hingenommen. Im Leben ist es nun mal so, dass nicht alles Freude macht. Im Leben ist es nun mal so, dass man Leistung bringen muss, wenn man erfolgreich und geliebt werden will.
Und so kam es, dass wir uns selbst unterdrückten und hintergingen. Wir ließen uns zunächst unsere Würde rauben, um sie uns schließlich selbst zu rauben, weil wir nicht mehr auf unser Innerstes hörten. Gerald Hüther nennt das Beispiel eines Vaters, der Vollzeit rackert, den all die Dienstreisen ankotzen und der eigentlich mehr Zeit für seine Familie, für sein Leben haben möchte. Der harte Panzer um sich selbst führt zur Gefühlskälte sich selbst und anderen gegenüber, ist aber nötig, um in der Leistungsgesellschaft zu bestehen. Weil er es verinnerlicht hat, zu funktionieren, den Erwartungen „der Gesellschaft“ zu entsprechen, bleibt ihm nur der Burn-Out. Oft fehlt jedoch der Mut, dem Dilemma zu entkommen – und noch gibt es kein bedingungsloses Grundeinkommen.
Die Lösung: Bedingungslose Liebe – doch leicht ist das nicht
Oh ja, das Wort „bedingungslos“! Das wäre die Lösung schlechthin, sagt der Hirnforscher. Wenn wir unsere Kinder bedingungslos lieben würden, könnte sich die Gesellschaft verändern. Und was heißt bedingungslos? Dass wir sie ohne Erwartungen an sie lieben, dass wir sie in ihrem Wesen anerkennen, dass wir ihnen erlauben, so zu sein, wie sie sind und sie liebevoll begleiten beim freudigen Entdecken der Welt. Klar geben wir einen Rahmen vor und lassen sie nicht blind dahinstolpern – aber wir sind uns dessen bewusst, dass wir unsere Kinder lediglich begleiten und nicht anleiten. Dasselbe gilt übrigens auch für alle anderen Beziehungen. Leicht ist das nicht…
Und warum ist es so schwer? Gerald Hüther hat dafür mehrere Antworten: Zum einen haben wir selbst keine bedingungslose Liebe erfahren. Und unsere Eltern nicht von ihren Eltern. Und unsere Großeltern nicht von ihren Eltern. Und unsere Urgroßeltern nicht, die Ur-ur-ur-… Wie sollen wir also etwas geben können, das wir nicht kennen? Durch Reflexion, immer wieder Reflexion. Das ist anstrengend. Aber muss sein, wen sich was ändern soll. Zum anderen nennt Gerald Hüther die 10.000 Jahre alte Tradition der Hierarchien. Alles begann mit der Sesshaftwerdung. Ich muss sofort an eines meiner liebsten Bücher denken: „Ismael“ von Daniel Quinn. Mit der Sesshaftwerdung ging der Besitz von Land einher und es begannen sich eindeutige Hierarchien zu bilden. Derjenige mit mehr Land und mehr Ziegen war mächtiger als derjenige mit weniger Land und weniger Ziegen. Und was wollte derjenige mit dem „weniger“? Klar! Mehr!
Und wie kommt man zu dem Mehr? Durch Leistung. Die, die sich besonders anstrengten, die mit den tollen Ideen, die mit Erfindungsgeist, ja, auch die mit viel Vitamin B, die mit korrupten Tendenzen – die brachten es weiter. Die Leistungsgesellschaft war geboren. Die Stammesgesellschaft, in der jeder seinen Platz und seine Aufgabe innehielt, hatte ausgedient. Und in einer Leistungsgesellschaft geht es nicht nur darum, Leistung zu erbringen, sondern auch darum, sich etwas leisten zu können. Darum ist unsere Gesellschaft auch eine Konsumgesellschaft. Was wir heute vielleicht ein bisschen vergessen, sind die Hierarchien, die uns maßgeblich beeinflussen. Es wird uns vorgegaukelt, dass wir selbst der Schmied unseres Glücks sind, indem wir uns einfach anstrengen.
Menschen wollen nicht mehr diesem Diktat unterliegen
Aber was ist Glück? Gerald Hüther bringt an diesem Punkt die Würde ins Spiel. Wenn wir unser Sein und Tun als unser selbst würdig empfinden können, dann ist unser Leben stimmig. Und wenn wir das nicht können? Ich habe den Eindruck, dass sich gerade an diesem Punkt etwas tut. Viele Menschen in meinem Umfeld empfinden die Leistungs- und Konsumgesellschaft als unwürdigen Zustand. Sie wollen nicht mehr diesem Diktat unterliegen, wollen nicht mehr nicht-sinnige Arbeit verrichten, wollen nicht mehr so viel arbeiten, weil sie mehr und mehr erkennen. Sie schaufeln ihre verkrusteten Bedürfnisse frei und fordern sie langsam ein. Langsam, weil oft noch keine guten Alternativen da sind. Langsam, weil das alte Muster noch (nach)wirkt, das sagt: „Hab Dich nicht so, so funktioniert das Leben nun mal. Ohne Arbeit kein Geld. Und Du willst es doch, das eigene Haus, die zwei Autos, den proppenvollen Kühlschrank, die zwei Urlaube im Jahr, das neue Dingsda.“
Aber nein. Da ist noch eine Bewegung im Gange, die eben das nicht mehr will. Die sagt: Ich brauch nicht so viel Zeugs. Ich brauch nicht so viel Geld. Ich mach das mal anders mit dem Urlaub, mit dem Einkaufen, mit dem Wohnen. Ich trampe, containere, tausche, teile, miete, campe. Ich organisiere mein Leben anders, weil ich es nicht mehr anders ertrage – und weil auch unser Planet es nicht mehr erträgt.
Ja, Gerald Hüther zählt auch die Würde der Tiere auf – ist Massentierhaltung würdevoll? Wohl kaum einer würde jetzt Ja! schreien – und doch landet dann wieder unhinterfragt das entsprechende Stück Fleisch auf dem Teller. Ja, auch beim kleinen Metzger liegen Schnitzel und Würstel in der Auslage, die aus konventioneller Haltung stammen.
Der Tod ist sicher – damit müssen wir leben
Ein stiller Begleiter dieser stillen Revolution ist die Angst, die sich oft als Sicherheitsbedürfnis tarnt, wie ich meine. Wir leben in einer der sattesten Gesellschaften dieses Planeten. Und dennoch fürchten wir um unsere Sicherheit – wie verrückt. Dabei ist nur eins sicher – der Tod. Damit müssen wir leben. Befeuert wird diese Angst natürlich von Medien, Wirtschaft, Politik – von der Konsumgesellschaft letzten Endes. Denn wer Angst hat, kauft Versicherungen, Impfungen, Förderprogramme, Nachhilfe, Eintrittskarten in vermeintlich höhere soziale Welten, Schichten, was weiß ich.
Ich plädiere daher für mehr Mut. Und das geht etwa so: In den Spiegel schauen und sich fragen: „Lebe ich ein mir selbst würdiges Leben? Kann ich mich, meine Kinder, meinen Partner bedingungslos lieben? Was brauche ich wirklich?“ Ich wette, Euch kommen die Tränen. Mir ging’s schon so. Und dann habe ich so manches bleiben lassen. Hat im Herzen weh getan, hilft mir aber langfristig. Ich weiß das. Und jetzt gehe ich in den Wald zu den Heidelbeeren! Ich pflücke sie wie damals, als die Leistungsgesellschaft noch lange Sternderl putzte…
Eva Hörhammer
Ein wunderbarer Bericht!
Er ist wunderbar, denn er regt zum Nachdenken („Reflektieren“) an. Dabei kommt immer was Gutes raus; auch wenn ich mich von der Autorin entferne, und mein eigenes Bezugssystem entdecke, ihr Beitrag hilft mir, mich und meine Haltung zu finden.
Weil das so ist, möchte ich bei aller Übereinstimmung eine Meinung aus einem anderen, meinem (psychologischen, nicht sozialen) Bezugssystem äußern: „bedingungslose Liebe“ und „Würde“ verstehe ich anders.
Bedingungslose Liebe gibt es aus meiner Sicht nicht, den meine Liebe ist an meine Bedingungen geknüpft. Meine Bedingungen sind meine Bedürfnisse. Wenn ich Vater/Mutter bin, tue ich mich leicht, alles zu akzeptieren, was mein Kind mit mir macht, denn ich will aufgrund meiner assoziierten Bedürfnisse Vater/Mutter bleiben.
Beim Partner wird es schon schwieriger! Bedingungslose Liebe würde in einer partnerschaftlichen Beziehung bedeuten, dass ich bestimmte assoziierte Bedürfnisse verrate, um die Beziehung und damit die Liebe aufrecht zu erhalten. Dazu bin ich nur bedingt bereit. Sind die verratenen Bedürfnisse nicht existenziell, dann soll mein Partner wissen, dass die Erhaltung der Beziehung die Form von Liebe ist, die diesen Verrat kompensiert. Sind die verratenen Bedürfnisse existenziell, dann werde ich einen Teufel tun, bedingungslos zu lieben! Ich werde mich also nur in den Bedürfnissen anpassen, die ich für richtig halte. Und damit sind wir bei meinem Begriff der „Würde“ angelangt: Würde gibt es für mich in der beschrieben Form gar nicht. Ich verstehe Würde eher als etwas, was dem Selbstwert entspricht. Der Respekt des Wertes meines Gegenüber und der Respekt meiner Selbst (also Selbstwert) ist eine Grundvoraussetzung für eine liebevolles Miteinander: Eva würde es vielleicht mit sozialer Kompetenz bezeichnen. Klingt kopflastig, ich weiß, aber meine Gefühle sollten an anderer Stelle diskutiert werden, wenn nötig…