Oberfrauenau. Das Wandern ist des Müllers Lust – aber nicht nur die seine, sondern auch die von Hog’n-Redakteur Stephan Hörhammer und seinem Kumpel Florian, die sich im Spätsommer ’17 eine fünftägige Hütten-Auszeit auf dem Verlorenen Schachten mitten im Bayerischen Wald gönnten. Nach einer ersten wohltuenden Umarmung durch dieses wunderbare „Nichts“, das kein Klingeln, kein Vibrieren und keinen sonstigen Ton von sich gibt (siehe Teil 1), machten sich die beiden wagemutigen Waidler auf zum Gipfel des Rachels. Eine Tour, die Blut, Schweiß und Tränen forderte (siehe Teil 2). Am dritten Tag des Aufenthalts stand eine idyllische Schachtenwanderung auf dem Programm, die, wie sich herausstellte, auch für blasenlädierte Wandersleut‘ geeignet ist…
Als sich die (erneut) nicht allzu lange Nacht mit etwa fünf bis sechs Stunden Schlaf dem Ende zuneigte, bin ich durch das rührige Gezwitscher der Vögel und das erste Sonnenlicht, das bereits durch die Ritzen zwischen den Holzbalken der Hütte hindurchblinzelte, aufgewacht. Während sich mein Zimmergenosse und langjähriger Freund, der sich erneut in Ekstase geschnarcht und sich von nun an den Titel „Snorr-Lord“ auf immer und ewig verdient hatte, sich auf seiner Pritsche nochmals gemütlich umdrehte, küsste mich bereits die Muse des bevorstehenden Tages.
Wahre Schachtengenüsse: von Zittergras bis Schwammasterz
Nach einer erfrischenden Solar-Dusche, einer entspannten Morgenmeditation und der generellen Freude darüber, dass wir hier an diesem schönen Ort sein dürfen, trudelte auch schon die erste Wandergruppe auf dem Verlorenen Schachten ein. Eine echte Rangerin (Nationalpark-Führerin) begleitete ein älteres Ehepaar aus Heidelberg auf seiner Tour. Das Trio machte es sich auf der Sitzgruppe neben der Hütte bequem, um eine kurze Verschnaufpause einzulegen. Ein kleines Pläuschchen und die Erkenntnis, dass wir gestern über den sogenannten „Waldriegel“ zum Rachel hinaufgestiegen waren, später, erkundete ich die unmittelbare Umgebung unserer urigen Unterkunft.
Weitläufig und mit schier unendlichen „Graswirbeln“ übersät, lag sie da, die ehemalige Weidefläche, die dem Hirten-Vieh als Futterressort diente. Bei jenen Wirbeln handelt es sich um einen zusammenhängenden Seegras-Bewuchs (auch Zittergras-Segge genannt). Zur weiteren Vegetation zählen einzeln dastehende, recht mächtig erscheinende und aufgrund ihrer zahlreichen Verschnörkelungen etwas furchterregend daher kommende Buchen und Bergahorne, die gefühlt seit tausenden von Jahren dort Wache halten. Junge Exemplare dieser Baumarten wurden in kleinen, eingefriedeten Flächen auf der Schachtenweide gerade nachgezüchtet. Rings um die freie Pläne waren mächtige Tannen, Buchen und Fichten positioniert – die äußeren Grenzen des Schachtens.
Apropos Grenze: Nur ein paar hundert Meter von der Hütte entfernt befindet sich die Demarkationslinie zwischen Deutschland und Tschechien. Eine Reihe von Grenzsteinen im Abstand von etwa 20 Metern weist darauf hin.
Ich bin darauf gestoßen, als es mich nach meiner Erstbegehung der Zittergras-Wiese ins wenige Meter weiter östlich gelegene Wäldchen verschlug, um dort nach ein paar Schwammerl für den „Frühstücksbrunch“ Ausschau zu halten. Schon nach kurzer Suche sprangen mir die ersten Maronen und Steinpilze förmlich entgegen. Prächtige Exemplare, die einen feinen „Schwammasterz“ (in der Eisenpfanne gebratene Pilze mit Zwiebeln, Speck und Eier) ergeben sollten.
Und so staunte der inzwischen erwachte Spezl Florian nicht schlecht, als ich mit der „fetten Beute“ heimgekehrt war – und diese putzend und zurecht schneidend auf der Holzbank Platz genommen hatte. Noch schnell Tomaten, Käse, ein paar Würstl, Butter und Brot bereit gestellt – und fertig war das Festmahl „al Natura“. Das in der Regentonne gekühlte, alkoholfreie Radler mundete dazu ganz besonders.
Der Abwasch in unserer eigens auf einer hölzernen Langbank eingerichteten „Waschstraße“ ging auch an diesem Morgen locker von der Hand. Nach getaner Arbeit war zunächst eine kleine „Siesta“ angesagt. Sprich: Chillen auf dem Feldbett, das ich kurzerhand aus der Hütte schaffte und auf der Grünfläche davor aufstellte.
Mit Benjamin von Stuckrad-Barre unterm Schattenbaum
Genauer gesagt im Schatten meines Lieblingsbaums, einem recht betagten Exemplar mit weit durchgebogenem Stamm, mit dem ich mich bereits kurz nach der Ankunft angefreundet hatte. Flo nahm mit der Bank vorlieb – und riskierte dadurch einen Sonnenbrand, der sich nach etwa einer dreiviertel Stunde heftigster Dauerbescheinung auch so langsam aber sicher ankündigte…
Das Buch in meiner Hand trägt den Titel „Soloalbum“ und stammt aus der Feder von Benjamin von Stuckrad-Barre. Eine Geschichte über das Leben, die Liebe, die Einsamkeit, Selbstzweifel, Enttäuschung und Flucht. Solo war es hier droben definitiv, aber nicht einsam. Diejenigen Menschen, die einem über den Weg gelaufen sind, konnten wir an einer Hand abzählen. Die Liebe zur Natur war immer schon da – hier heroben bekam sie ihr nachhaltiges Upgrade. Selbstzweifel begleiten einen ohnehin ständig – auch Enttäuschungen sind im Leben unvermeidbar und gehören nunmal dazu.
Mit Frau und Sohn hatte ich seit unserer Ankunft keinen Kontakt mehr – das Handynetz war hier droben nicht sonderlich gut ausgebaut, was ich als sehr positiv wertete, da ich ja die Tage auf dem Schachten möglichst handyfrei verbringen wollte. Weg von der Permanent-Erreichbarkeit, weg vom ständigen Social-Media-Wahnsinn, hin zu mehr Ruhe, Achtsamkeit und Momentaufnahmen. Ob unser Trip eine Flucht war? In gewisser Weise vielleicht – eine Flucht aus dem Alltagstrott, die es in regelmäßigen Abständen zu begehen wert ist…
Die nächste Wander-Dreiergruppe kündigte sich an: Hiesige aus dem Raum Lindberg-Spiegelhütte, die sich ebenfalls auf Schachtentour befanden. Sie möchten gerne die Hütte von Innen begutachten, weshalb wir sie in unser Domizil bitten. Einer von ihnen, so erfahren wir, hatte schon mal auf der Eckbank seinen Rausch ausgeschlafen. Anekdoten wie diese bekommen wir „Teilzeit-Senner“ auf dem Verlorenen Schachten immer wieder zu hören.
„Wandermannsgarn“, wenn man so will. Und weil sie gar so verdurstet dreinsahen, erbarmten wir uns ihrer und labten sie mit einer frischen und immer noch recht kühlen Hütten-Halbe. „Freunde, ihr habt uns das Leben gerettet“, bekommen wir daraufhin auf sehr dankbare Weise zu hören. Jeden Tag eine gute Tat…
Vom Aussteigen, Blodan-Wandern und Marco-Polo-Reisen
Kurz darauf traf ein weiterer Besucher ein: Ein Mann mit E-Bike, der, wie er uns im Gespräch berichtete, schon mal „ausgestiegen“ war: für mehrere Monate nämlich, als er zu Fuß vom Bayerischen Wald aus nach Rom ging. Eine Tour über die Alpen, die er innerhalb von vier Monaten bewältigte. „An sonnigen Tagen wie diesen brauche ich meine Auszeiten. Dann fahr ich mit meinem Radl los, um mich vom zunehmenden Druck in der Gesellschaft zu erholen“, teilte er uns offen und ehrlich mit. „Du musst mitmachen in dem Spiel, in dem System, sonst gehörst Du nicht dazu“, fügte er mit etwas trauriger Stimme hinzu.
Als wir den Proviant in unsere Rücksäcke gepackt hatten, begaben auch wir uns auf den nur wenige Meter an unserer Hütte vorbeiführenden Schachten-Wanderweg. Das Wetter war bestens, die Stimmung sehr gut. Bevor ich losmarschierte, begutachtete ich mit leichter Sorgenmine meine vom Vortag geschundenen Fersen: Die Blasen (auf Bairisch: Blodan) an den Hacken „nässelten“ immer noch, weshalb ich mich für die „nach hinten offenen“ Freizeit-Sandalen entschied. So konnte während des Wanderns nichts scheuern, für eine ausreichende Frischluft-Kur war gesorgt.
Die mehr als beeindruckende Fußreise führte uns von unserer „Home-Base“, dem Verlorenen Schachten, über den Almschachten und den Hochschachten sowie den Latschenfilz (inklusive Abstecher zum Latschensee) zum Kohlschachten – und wieder zurück. Ein einzigartiger Streifzug durch die berauschende Natur des Bayerischen Waldes: einfach zu bewältigen, kaum Steigungen, mit vielen Rastmöglichkeiten und Halts, an denen das fotografische Auge voll auf seine Kosten kommt. Immer wieder führte unser Weg über beplankte Wege durch hochmooriges Gebiet, vorbei an einer einmaligen Vegetation und sehenswerten Landschaften. Klingt wie aus einer Marco-Polo-Reisebeschreibung? Tut es, ja – aber in diesem Fall traf (und trifft) es tatsächlich zu. Das Beste daran: Die rund 2,5-stündige Tour ist auch bestens für „fußkranke“ Wanderer wie mich geeignet…
Tagesausklang mit Grillfleisch, Woidschratzl und Musik
Nach unserer Rückkehr hatten wir einen Bärenhunger, weshalb wir sogleich genüsslich den Grill (ein über der Feuerstelle per Dreibein arretierter Rost) anschmissen und einige Flanken Grillfleisch, Berner und Schweins-Würstl darauf positionierten. Als Beilage gab’s Bratkartoffeln, Zwiebeln und Zucchini, zubereitet in der zum Hütten-Equipement gehörigen Eisenpfanne.
Bei Lagerfeuerromantik, dezenter Musik aus der mitgebrachten Subwoofer-Tube, einer kühlen Blonden aus dem sich langsam aber sicher dem Ende zuneigenden Bier-Depot, einem wohl-bekömmlichen Schnaps-Stamperl „Woidschratzl“ (so sahen wir irgendwann aus…) sowie anregenden Gesprächen über den Schöpfer und die Welt ließen wir unter einem sternenklaren Nachthimmel den dritten Tag unserer Hütten-Auszeit ausklingen. Ja, der Herrgott muss ein Waidler sein!
- „A Blodan kann mi net vom Wandern obhoidtn“
- Bei der Zubereitung der Malzeiten (mit äußerst zuverlässigem Hütten-Equipement) können auch reine Männerwirtschaften zur Perfektion gereifen
- Nächtliche Geräusche (Knacken) im Wald müssen nicht zwangsläufig auf einen Elch hindeuten
- „Never dance with a Christmas tree“ – ein Satz, dessen Inhalt sich Kumpel Florian zu fortgeschrittener Stunde durch den Kopf gehen ließ, als er im nicht mehr ganz nüchternen Zustand ausgiebig die vor der Hütte stehende Jungtanne umarmte…
Stephan Hörhammer
Im vierten und letzten Teil der Hütten-Auszeit-Serie erfahrt Ihr, wie es ist, einen ganzen Tag lang einmal (fast) nichts zu machen – und wie man im strömenden Regen mit Sack und Pack die Heimreise am besten antritt…