Deggendorf. Rund 200 Flüchtlinge, Bewohner des Deggendorfer Transitzentrums, traten im Dezember in den Hungerstreik. Die Bedingungen dort – insbesondere das Essen und die Hygiene – seien unzumutbar, so der Vorwurf der überwiegend aus Sierra Leone stammenden Asylwerber mit geringfügiger Bleibeperspektive. Der Vorsitzende der JU Niederbayern und Fraktionsvorsitzende der CSU Deggendorf, Paul Linsmaier, zeigte für diesen Protest damals öffentlichkeiswirksam „NULL Verständnis“. Für sein Facebook-Posting erntete er viel Zustimmung – aber auch Kritik, unter anderem vom Hog’n Mitarbeiter Johannes Greß sowie dem evangelischen Pfarrer und Flüchtlingshelfer Gottfried Rösch. Im Hog’n-Interview erklärt Linsmaier nun seine Sicht auf die Deggendorfer Integrationspolitik.
Herr Linsmaier: In den Medien gilt Deggendorf seit der Bundestagswahl als „AfD-Hauptstadt“. Wie geht man mit dem Erstarken der AfD – vor allem in Südostbayern – um?
Zunächst müssen wir feststellen: Es gab Gemeinden, wo die AfD deutlich stärker war. In Deggendorf ist aber richtig, dass die AfD beim Wahllokal in der Nähe der Erstaufnahmeeinrichtung stark war sowie in dem Lokal nahe der neuen Moschee. Das gibt zu denken. Auf Südostbayern umgelegt, war es wohl so, dass hier bei den Leuten eine Sorge da ist, eine gewisse Sorge des Abgehängtseins oder des Vergessenwordenseins. Das heißt: Wir als CSU haben den Nerv der Leute nicht getroffen bzw. sie trauen uns nicht zu – selbst wenn wir den Nerv getroffen haben – ihre Probleme zu lösen. Wobei man festhalten muss: Wir haben mehr Stimmen an die FDP verloren als an die AfD. Das zeigen die Wählerbewegungen sehr genau.
„Wir Bürger da unten“ und „Ihr Politiker da oben“
Horst Seehofer hatte unmittelbar nach der Bundestagswahl angekündigt, die rechte Lücke schließen zu wollen. Versucht man das auch in Deggendorf?
Ich bin kein großer Freund dieser Argumentation, denn ich glaube – egal wie gut man diese Lücke schließt -, dass die AfD sie immer weiter nach rechts verschieben wird. Also unabhängig davon, wie man diese Lücke definiert, kann die AfD immer sagen: Okay, wir rücken noch eins weiter nach rechts. Ich denke, das größere Problem ist nicht die Diskussion „Rechte-Linke Flanke“, sondern: „Wir Bürger da unten“ und „Ihr Politiker da oben“. Dieses Verhältnis läuft stärker auseinander als die Diskussion zwischen den Flanken. Auch wenn wir durch die CDU natürlich den ein oder anderen konservativen Punkt aufgegeben haben.
Das Problem „Wir da unten“ und „Die da oben“ ist jetzt kein unionsspezfisches. Wie möchte man dieses in Zukunft konkret angehen?
Wir müssen ein Stück weit genauer hinhören. Wobei wir nicht das Problem haben, dass wir es nicht genau wissen, sondern dass wir es nicht immer genau so umsetzen oder umsetzen können, wie wir bzw. die Bürger es wollen. Das macht es schwieriger. Und dann haben wir natürlich die bayerische Sondersituation, dass wir natürlich gern möglichst viel bayerische Politik in Berlin machen würden. Aber es muss auch klar sein, dass wir bundesweit nicht 100 Prozent CSU in der Großen Koalition machen können.
Ich glaube, es ist keine Frage davon, dass die Themen falsch sind, sondern eine Frage dessen, ob der Wähler glaubt, dass wir diese Punkte umsetzen können. Da müssen wir deutlich stärker werden. Hinzu kommt noch ein weiter Punkt: Wir sagen immer: Bayern und Deutschland geht es gut. Das stimmt! Das bedeutet aber nicht, dass es jedem Einzelnen gut geht – und ich verspüre eine große Unsicherheit – vielleicht sogar Angst – bei den sozialen Themen, wie z.B. Rente oder Mietpreise. Da haben wir eine Flanke offen.
200 Flüchtlinge im Hungerstreik und „NULL Verständnis“?
Kommen wir zum Deggendorfer „Aufregerthema“ vom Dezember: 200 Flüchtlinge haben in Form eines Hungerstreiks gegen die Bedingungen im dortigen Transitzentrum protestiert. In einer Aussendung zeigten Sie für diese Aktion „NULL Verständnis“. Warum?
Wir haben in Deggendorf während der Hochzeit der Flüchtlingsbewegung rund 100.000 Asylsuchende in einem Jahr in Erstaufnahmeeinrichtungen betreut. Deggendorf hat da unglaublich viel geleistet. Und wenn die Flüchtlinge und Asylsuchenden die Situation dann so darstellen, als sei sie noch viel schlechter als dort, woher sie eigentlich geflüchtet sind, dann habe ich dafür einfach kein Verständnis.
Wenn die Not so groß ist – Flüchtlinge aus Sierra Leone sind zu einem großen Teil Wirtschaftsflüchtlinge – und sie dann aber sagen, das Essen sei schlecht, dann stimmt das einfach nicht. Mitarbeiter der Einrichtung gehen dort teilweise selbst zum Essen hin. Auch ich habe darin gegessen. Und bei der Demo tauchen dann plötzlich Plakate, Transparente und Megafone auf – von wem das gesteuert und organisiert worden ist, ist da die andere Frage… Unglaublich viele Ehrenamtliche, Personal und Sicherheitsdienst haben in Deggendorf alle gut behandelt. Wenn die Not scheinbar so groß ist und es dann heißt „Es ist alles so schlimm bei euch“, dann frage ich mich, wieso seid ihr dann gekommen, wenn’s so schlimm ist? Dafür hatte in Deggendorf wirklich keiner Verständnis. Das haben auch die Reaktionen auf mein Facebook-Posting hin gezeigt.
Unabhängig davon, wie die Bedingungen tatsächlich sind: Eine Demonstration ins Leben zu rufen, steht jedem in Deutschland offen…
Genau – und wenn man das Grundgesetz liest, steht dort auch drin: Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln…
… und wenn man ein bisschen weiter liest, seht drin, dass dieses Recht auch Asylsuchenden zusteht.
Also, ich hab‘ ihnen ja auch nicht abgesprochen, dass sie demonstrieren dürfen. Sie dürfen doch gerne demonstrieren. Wenn sie das Gefühl haben, es ist jetzt schlechter als vorher, naja dann okay… Aber es ist doch bemerkenswert, dass sie in Deggendorf ein Dach über dem Kopf haben, etwas zum Essen haben und ärztlich versorgt werden – und es jetzt schlechter sein soll als vorher. Das versteht keiner – und das glaubt auch keiner.
Ist die Integration in Bayern tatsächlich gescheitert?
Im Anschluss an die Demo hat Pfarrer Gottfried Rösch den Matteo-Helferkreis gegründet. Wäre es nicht eine Alternative gewesen, dass man hingeht, sich die Lage vor Ort anschaut, einen Kontakt aufbaut und gemeinsam nach einer Lösung sucht – anstatt zu sagen, diese Demonstration ist ein Missbrauch des Gastrechtes und man dafür null Verständnis hat?
Dass sich ein zweiter Helferkreis gegründet hat – obwohl es bereits einen gibt – und eine große Facebook-Gruppe existiert, wo in regelmäßigen Abständen versucht wird Leuten zu helfen, finde ich bemerkenswert. Die Familienbeauftragte und der Integrationsbeauftragte sind im eigentlichen Helferkreis unglaublich engagiert. Dass jetzt ein zweiter Helferkreis gegründet wurde, weil der bestehende vielleicht nicht der politischen Richtung entspricht, das sagt eigentlich schon alles über diese Strukturen…
Ihr Parteikollege Christian Bernreiter hat kürzlich gesagt, die Integration ist gescheitert. Woran ist sie gescheitert?
Da müssen wir als politisch Verantwortliche der CSU – und auch CDU – kritisch anerkennen, dass die Situation, für jemanden der aus verständlichen oder auch nicht verständlichen Gründen zu uns kommt und dann für eineinhalb Jahre in einem Transitzentrum sitzt, obwohl er weiß, er wird abgeschoben, eine schlechte Situation ist. Eine Situation, die es eigentlich nicht geben dürfte, da die Verfahren viel, viel schneller sein müssten. Entweder jemand hat Asylrecht oder er hat es nicht. Entweder jemand hat subsidiären Schutz oder nicht. Und wenn jemand kein Asylrecht oder subsidiären Schutz hat, muss er auch wieder gehen. Diese Entscheidung darf aber nicht Monate oder gar Jahre dauern.
Das alles sagen wir zwar so, aber umgesetzt wird es kaum. Das führt zu einer Situation, die extrem schlecht ist – und aus Sicht derer, die davon betroffen sind, ist das natürlich nicht optimal. Das ist eine große Baustelle, die aktuell noch nicht gelöst ist. Und wenn dann jemand bereits integriert ist und abgeschoben werden soll, haben wir den umgekehrten Effekt…
Man muss schauen, dass die, die da bleiben dürfen, integriert werden – und die, die nicht hierbleiben dürfen, abgeschoben werden. Das können wir derzeit nicht so umsetzen wie wir es eigentlich umsetzen müssten.
„Bezüglich Ministerien haben wir einen guten Griff gemacht“
Im Laufe der Koalitionsverhandlungen hat sich vor allem die CSU dafür stark gemacht, dass sogenannte Anker-Einrichtungen deutschlandweit zur Anwendung kommen. In diesen Zentren sind Flüchtlinge bis zu 24 Monate teilweise in Mehrbettzimmern ohne Arbeitserlaubnis am Stadtrand untergebracht. Wird dies zu einer Verbesserung der Lage in puncto Integration führen?
Der Sinn dieser Zentren ist es, die Prozesse zu beschleunigen. Dort ist von medizinischer bis rechtlicher Versorgung alles vorhanden, dass es dann – je schneller, desto besser – zu einer Entscheidung kommt. Dass es keine befriedigende Situation ist, wenn jemand dort 24 Monate drin steckt, ist klar. Wenn jemand jedoch hier bleiben darf, müssen wir natürlich schauen, dass wir ihn möglichst schnell und möglichst dezentral integrieren.
Es befinden sich auch Personen in diesen Zentren, die – trotz schlechter Bleibeperspektive – letzten Endes Asyl gewährt bekommen…
2017 gab es zum Beispiel nur 21 Prozent, die als Flüchtlinge anerkannt wurden und nur 16 Prozent, die subsidiären Schutz erhalten. Die mit Abstand meisten Anträge wurden letztes Jahr von Syrern und Irakern gestellt. Da versteh‘ ich die Diskussion, denn das fußt auch darauf, dass der Syrienkonflikt relativ schnell gelöst wird – theoretisch betrachtet. Das wird allerdings so schnell nicht der Fall sein…
Weg vom Thema Asyl: Nach langwierigen Verhandlungen hat man sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Wie zufrieden sind Sie persönlich damit? Trägt er eine deutliche Handschrift der CSU?
Ja. Beginnend beim Asylthema ist hier ein wichtiges Zeichen gesetzt worden, die Zuwanderung zu begrenzen. Das steht auch klar im Vertrag drin. Genau so ist wichtig, dass es keine Steuererhöhungen gibt und der Soli abgebaut wird. Auch für uns Jüngere ist ein ausgeglichener Haushalt ein starkes Signal für die Zukunft. Insgesamt sind für die CSU einige Punkte drin. Am Ende des Tages muss, wie bereits erwähnt, natürlich auch klar sein: CSU pur können wir in Bayern im Landtag umsetzen, aber in Berlin haben wir 50 Abgeordnetensitze von über 700 – da wird’s das nicht geben können.
Bezüglich Ministerien haben wir einen guten Griff gemacht, weil durch das Innenministerium das Thema innere Sicherheit – ein Kerngebiet der CSU – in unserer Hand liegt. Aber auch mit dem Thema Verkehr, Digitalisierung, Infrastruktur und Bau sowie Heimat und dem Entwicklungshilfeministerium sind wir als CSU sehr gut aufgestellt. Die CDU führt da aktuell, glaube ich, eine andere Diskussion – doch als CSU können wir zufrieden sein.
Merkel: „Diskussion, ob sie noch die Richtige ist oder nicht“
Innerhalb der Union gibt es immer wieder Stimmen hinsichtlich einer personellen Neuaufstellung. Braucht es neue Köpfe?
Wir in Bayern haben den Wechsel an der Spitze mit Markus Söder jetzt vollzogen. Und natürlich gibt es nach zwölf Jahren Kanzlerschaft Merkel – vielleicht auch zu Recht – die Diskussion, ob sie noch die Richtige ist oder nicht. Ich denke aber, dass die Kabinettsaufstellung der CDU derzeit auch die Chance bietet, für Jüngere ein Amt zu übernehmen.
Ich persönlich bin in unserer Stadtratsfraktion von 19 Mitgliedern der Jüngste und darf die Fraktion führen. Dabei habe ich sehr schnell gelernt, dass der Erfahrungsschatz der älteren Kollegen unverzichtbar ist. Hier muss es ein Zusammenspiel geben von junger Dynamik einerseits und der Erfahrung andererseits. Die Mischung macht’s.
Ist Frau Merkel noch die Richtige für den Job als Kanzlerin?
Die Bundeskanzlerin wird von den Abgeordneten des Deutschen Bundestags mehrheitlich gewählt – und die werden die richtige Entscheidung treffen. Sowohl die CDU als auch die CSU sind mit ihr als Spitzenkandidatin in den Wahlkampf gezogen. Grundsätzlich denke ich, sollte man nach der Wahl zu dem stehen, was man auch vor der Wahl gesagt hat. Es wäre bestimmt eine schwierige Diskussion, wenn man nach der Wahl plötzlich doch alles anders macht.
Ist das Ende der großen Volksparteien gekommen?
Laut dem aktuellen Deutschlandtrend steht die Union derzeit bei unter 30 Prozent, die SPD sogar bei nur 16,5 Prozent. In anderen europäischen Ländern lassen sich ganz ähnliche Beobachtungen machen. Ist die Zeit der „großen“ Volksparteien vorbei?
Ich bin eigentlich ein Fan von der Idee Volkspartei. Es ist eine Chance innerhalb einer Partei einen breiten Diskurs über den richtigen Kurs führen zu können. Aber hierzu braucht es eine gewisse Kompromissbereitschaft. Ich stelle fest, dass es diese immer weniger gibt und der Drang, mit meiner eigenen Meinung durch die Wand zu müssen, immer größer wird – bei den Bürgern genauso wie in den Parteien. Genau das erlebt die SPD gerade ganz bitter, denn egal was sie verhandelt hätte, es hätte wahrscheinlich immer einen Prozentsatz X der Parteimitglieder gegeben, der gegen eine große Koalition gewesen wäre.
Ich glaube, wenn es jetzt eine große Koalition gibt, etwas Ruhe einkehrt und auch wieder Themen im Vordergrund stehen, dann ist die Chance schon da. Dennoch: Einzelinteressen, die das System aufspalten, werden immer größer und als Volksparteien müssen wir aufpassen, dass das nicht aus dem Ruder läuft.
Wenn ich mir das genauer ansehe: Die AfD will in die Opposition. Die Linke würde vielleicht gern regieren, stellt aber inhaltlich klar – zum Beispiel in der Außenpolitik -, dass sie ganz weit weg sind von einer Koalition – mit wem auch immer. Die FDP hat sich jetzt aus der Verantwortung davongestohlen, ohne dass ich je einen inhaltlichen Punkt mitbekommen hätte, an dem das Ganze scheitern hätte können. Und die SPD führt nun intern eine Diskussion darüber, ob sie eigentlich regieren will oder nicht.
Dann bleiben ehrlicherweise nur die Union und die Grünen übrig. Also gibt es zwei von sechs Parteien, die wirklich regieren wollen. Doch wie soll das weitergehen, wenn es immer mehr in die Richtung geht: Entweder ich bekomme 100 Prozent meines Parteiprogramms oder ich schmeiße hin und mach chillige Oppositionspolitik. Immer alles zu fordern und nie auf einen Kompromiss einzugehen – wie soll da eine Mehrheit zu Stande kommen? Das bereitet mir große Sorgen – und wenn das so weitergeht, wird das die Volksparteien nicht stärken – aber die anderen Parteien auch nicht.
Vielen Dank für das Gespräch.
Interview: Johannes Greß