Bad Füssing. Minusgrade, Schneefall, Waidler-Wetter – frisch angekommen in Bad Füssing, stellt sich zunächst einmal die pure Erleichterung bei mir ein. Die Rahmenbedingungen stimmen: Der Thermenmarathon präsentiert sich bei ähnlichen Temperaturen wie bei meinen Trainingseinheiten im Bayerischen Wald. Bei der Premiere im Vorjahr wurde ich noch vom relativ milden Rottaler Klima überrascht: Während des Laufes hatte ich mich meiner Mütze entledigt – und der Pullover über dem Laufshirt war eindeutig zu warm. Ich ließ damals aufgrund der falschen Kleidung einige Körner auf der Strecke, davon war und bin ich fest überzeugt. Heuer wird das alles anders vonstatten gehen. Eine neue Bestzeit scheint vorprogrammiert. Ein Einblick in die Seele eines Kämpfers.
„Du schaffst es“, „Du bist fit“, „Du hast Kondition“, „Du hast Kraft“. Immer und immer wieder kreisen diese Gedanken vor dem Start durch meinen Kopf. In meinem Innersten pushe ich mich mantramäßig in die richtige Stimmung. Einen Halbmarathon – also genau 21,0975 Kilometer – schafft man nicht nur aufgrund einer guten Kondition und der nötigen Kraft in den Oberschenkeln. Diese Strecke meistert man vor allem dann, wenn man auch mental dazu bereit ist. Anfangs schmunzele ich noch über diese häufig gedroschene Phrase. Inzwischen kann ich sie mehr als bestätigen. Dazwischen liegen allerdings viele Kilometer – und noch mehr Schweiß…
Mein bester Freund: der „innere Schweinehund“…
Ein Blick zurück: Seit meiner Kindheit spiele ich Fußball – wobei meine Fähigkeiten eher überschaubar sind. Dennoch hielt ich mich aufgrund meiner Leidenschaft immer fit. Wobei das Wort „fit“ in diesem Zusammenhang relativ betrachtet werden muss. Ähnlich wie wohl andere Kicker auch hatte ich stets gehörigen Respekt vor den Laufeinheiten über Stock und Stein während der Vorbereitungszeit für die jeweils neue Saison. „Ein Fußballer gehört auf den Platz, nicht auf die Straße“ – dieser Meinung schloss ich mich gerne an. Doch irgendwann reifte in mir der Gedanke, dass Laufen doch nicht so schwer sein kann. Dass das Ganze sowieso nur ein Kampf gegen das eigene Ich ist.
Während des Winters 2016/17 packte mich dann der Ehrgeiz. Ich lief und lief und lief. Schnee und Frost beeinträchtigten jedoch meine Trainingsmöglichkeiten. Meistens sah man mich – mit hell-leuchtender Warnweste – auf den Straßen rund um mein Heimatdorf dahingaloppieren. Jeden zweiten Tag mindestens zehn Kilometer. Insgesamt 400 sollten es am Ende werden. Und ja: Mit jeder Einheit wurde ich fitter, machte das Laufen mehr Spaß. Ich war erstaunt: Dieser in vieler Augen etwas einfältig und langweilig anmutende Sport konnte tatsächlich Freude bereiten. Das Überwinden des „inneren Schweinehundes“, das Ausloten der eigenen Grenzen – aus der anfänglichen Qual wurde langsam aber sicher eine Art Leiden-schaft.
Und als ich vom Thermenmarathon in Bad Füssing hörte, war für mich klar: Da will ich hin. Ich wollte es mir selbst und – zugegebenermaßen – auch den anderen beweisen. Wollte zeigen, dass ich diese Distanz bewältigen und eine für meine Verhältnisse herausragende sportliche Leistung abliefern kann. Letztlich absolvierte ich die rund 21 Kilometer in einer Zeit von etwas mehr als zwei Stunden. Das rockte gewaltig!
Bleibe ich an meinem schnelleren Nebemann dran oder nicht?
Heuer – mit etwas mehr „Erfahrung“ – sollte eine noch bessere Zeit drin sein. So dachte ich zumindest. Die diesjährige Vorbereitung lief ähnlich wie im Vorjahr. Ich wollte mein monatliches Pensum zudem steigern. Doch diese Rechnung hatte ich ohne meinen Körper gemacht, denn: Anfang Januar bremste mich sogleich eine Grippe aus – 14 Tage kein Training. Erst nach und nach kämpfte ich mich wieder heran, doch das 2017er-Niveau blieb unerreicht. Trotzdem: Der Wille war da, um nochmals abzuliefern…
4. Februar, 10 Uhr, Bad Füssing, Johannesbad: Ich fühle mich gut. Die Beine sind locker, der Kopf fokussiert. Nach dem Startschuss durch die ehemalige Box-Weltmeisterin Regina Halmich geht es gemeinsam mit über 2.000 weiteren Läufern – darunter Größen wie Marco Bscheidl und Philipp Pflieger – los. Drei Kilometer, fünf Kilometer, acht Kilometer – ich fühle, dass es nicht so „rund läuft“ wie bei meiner Halbmarathon-Premiere im Vorjahr. Ich will mir jedoch keine Schwäche eingestehen – und so nehmen die Gedanken ihren Lauf – buchstäblich.
Ich beginne zu rechnen: In welcher Zeit muss ich den jeweiligen Lauf-Kilometer absolvieren, um am Ende unter zwei Stunden zu bleiben? Kann ich mir zwischendrin eine etwas weniger gute Phase leisten? Was passiert, wenn ich mich an meinen schnelleren Nebenmann dranhänge? Obwohl meine Gedanken während des Wettkampfes immer wieder abdriften und ich es irgendwie schaffe, mich selbst abzulenken, spüre ich ab Kilometer 15 dann doch relativ deutlich, dass meine Füße immer schwerer werden. Jeder einzelne Laufschritt macht sich bemerkbar. Ich kämpfe – gegen mein eigenes Ich.
Die Motivationsrufe der Zuschauer, die Musikkapellen neben der Strecke, die kurzen Trinkpausen an den Verpflegungsstationen – ich fühle mich wie im Tunnel. Das ganze Drumherum verschwimmt zu einem für mich nicht mehr erkennbaren Einheitsbrei. Ein Nebelschleier. Das einzige, was für mich jetzt noch zählt: Die Schilder mit den Kilometerangaben, die Kondition, die Kraft – und mein Handy, das mir regelmäßig meine Zeiten übermittelt. Ansonsten: Stille – nur unterbrochen durch meinen Herzschlag und ein bewusst ruhiges und gleichmäßiges Atmen. Sekunden werden zu Minuten – und Minuten zu Stunden…
Eigenlob stinkt zwar, aber: Ja, ich bin stolz auf mich!
4. Februar, 14 Uhr, Bad Füssing, Johannesbad: Zwei alkoholfreie Weißbier, ein entspannender Aufenthalt in der Therme und Zufriedenheit in den Gesichtern meiner Begleiter. Ich fühle mich wieder um einiges wohler. Vergessen die Qualen der vergangenen Stunden auf den Straßen rund um Bad Füssing. Vergessen die eigenen, an diesem Tage unerfüllten Ansprüche. Die Stoppuhr ist mein Zeuge: Ich war langsamer als im Vorjahr. Egal. Hauptsache geschafft. Noch Tage später vernehme ich einen gewissen Stolz – und einen unbändigen Muskelkater in meinen Beinen.
Helmut Weigerstorfer