Prag. Die Tschechoslowakei sorgt im September 1967, also wenige Monate vor dem Prager Frühling, im gesamten westeuropäischen Raum für Aufsehen. Doch damals, im September ’67, vermutet noch keiner der Beteiligten, dass kurze Zeit später die kommunistische Regierung in dem kleinen Land zur Disposition – und im Mittelpunkt einer ersten, öffentlichen Diskussion steht, die sich mit der Frage beschäftigt: Wie reformfähig ist der Kommunismus?
Auf ihrer Titelseite veröffentlicht das renommierte Wochenblatt ein „Manifest der tschechoslowakischen Schriftsteller an die Weltöffentlichkeit„. Mehr als 300 Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler sollen den Appell an westliche Intellektuelle, sich gegen die Zensurmethoden der sozialistischen tschechoslowakischen Regierung zu erheben, unterschrieben haben. Der Hilferuf aus dem Osten schlägt ein wie eine Bombe. Günter Grass, der neben Arthur Miller und Heinrich Böll namentlich angesprochen und um ein Eingreifen gebeten wird, reagiert in der „Zeit“ mit einem offenen Brief an den Staatspräsidenten und Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ), Antonín Novotný.
„Die tschechischen Künstler haben mit ihrer Arbeit in wenigen Jahren der Tschechoslowakei ein weltweites Ansehen gegeben: nicht meinungskonformen Parteitagen, auf denen mürrisch gemaßregelt wird, entnehmen wir die Botschaft ihres Landes; aber die tschechische Lyrik, der tschechische Film, das junge tschechische Theater erreichten, berührten, änderten uns. Und auf diesen Reichtum wollen Sie verzichten? (…) Zum Nutzen Ihrer Partei und Ihres Landes rufe ich Sie auf: Geben Sie Gedankenfreiheit!“
Die deutlichen Worte, die Günter Grass an Novotný richtet, bleiben nicht ungehört.
Offener Briefwechsel über den Eisernen Vorhang hinweg
Eine Woche später druckt die „Zeit“ einen offenen Brief des tschechischen Schriftstellers und KSČ-Mitglieds Pavel Kohout. Es markiert dies den Beginn eines öffentlich ausgetragenen Briefwechsels über die Grenze des Eisernen Vorhangs hinweg und ist, weil sie den Prager Frühling überdauerte, heute eine einmalige historische Quelle für die Wahrnehmung der tschechoslowakischen Reformbewegung in Ost und West.
Nicht nur die „Zeit“ veröffentlichte diese Briefe – auch im tschechoslowakischen „Student“ erscheint die einem Streitgespräch gleichende Korrespondenz. Der strittige Faktor zwischen den Schriftstellern bezieht sich nicht nur auf deren jeweilige Grundsatzhaltung gegenüber den Systemen „westliche Demokratie“ und „Kommunismus“. In seinem Antwortschreiben an Günter Grass äußert Pavel Kohout auch einen Verdacht, der sich wenig später bewahrheiten soll: Das angebliche Manifest sei gar nicht echt, meint Kohout. Zumindest aber halte er es für unwahrscheinlich, dass es von 300 tschechoslowakischen Schriftstellern unterschrieben worden sei, nachdem er selbst erst aus der „Sunday Times“ von der Existenz des Pamphlets erfahren habe.
Von seiner Kritik am Umgang des tschechoslowakischen Staates mit seinen Schriftstellern kann Günter Grass diese Unterstellung nicht abhalten. Noch als sich herausstellt, dass keine kollektive Verschwörung der unterdrückten Schriftsteller, sondern eine Eigeninitiative des Prager Schriftstellers und Historikers Ivan Pfaff zu der Veröffentlichung in der „Sunday Times“ geführt hat, verteidigt Günter Grass den Inhalt des „falschen Manifests“, wie die „Zeit“ es nun nannte.
Die größte Irritation verursacht jedoch Pavel Kohout…
Möglich, dass die Streitschrift keine 300 Unterzeichner gefunden habe – Recht habe der Autor dennoch, argumentiert Grass gegen den Sozialisten Kohout. Der wird sich schon bald danach von seinem Bekenntnis zur kommunistischen Ideologie abwenden. Jener, aus der Zerschlagung des Prager Frühlings siegreich hervorgegangene Staatspräsident Gustav Husák, schließt den unbequemen Regimekritiker 1969 aus der Partei aus – zehn Jahre später wird Kohout während eines Österreich-Aufenthalts ausgebürgert.
Auf das in englischer Sprache erschienene „Manifest“ reagiert die KSČ unter Novotný alarmiert. Denn es macht jene Kritik publik, die die Teilnehmer des Vierten Tschechoslowakischen Schriftstellerkongresses bereits im Juni 1967 geäußert hatten, die aber – wegen verstärkter Repressionen der Regierung gegenüber Kritikern, aber auch wegen deren Zurückhaltung aus prinzipieller Solidarität mit dem Staat – nicht an die allgemeine Öffentlichkeit gedrungen ist.
Es bleibt zunächst ein KSČ-interner Skandal, mit dem der Schriftstellerkongress am 29. Juni 1967 zu Ende geht: Mehrere Schriftsteller, darunter Milan Kundera, Ivan Klíma und der spätere Autor der „Zweitausend Worte„, Ludvík Vaculík, verlieren ihre Parteibücher, weil sie es auszusprechen wagten, wie die Parteispitze unter Novotný ihre Künstler und Journalisten in Schach hält: durch Zensur und repressive Methoden zur Einschränkung der geistigen Freiheit.
Die mit Abstand größte Irritation verursacht jedoch Pavel Kohout. Auf eine Mehrheitsentscheidung der Kongressteilnehmer hin verliest er einen offenen Brief des russischen Exilschriftstellers Alexander Solschenizyn an den Sowjetischen Schriftstellerkongress – eine unmittelbare Brüskierung der tschechoslowakischen Staatsspitze, die auf Entstalinisierung wenig Wert legt.
Und jetzt ein Manifest auf der Frontseite einer der auflagenstärksten britischen Zeitungen, das die Abkehr einer Mehrheit der tschechoslowakischen Kulturschaffenden von der kommunistischen Idee nahelegt. Die Novotný-Regierung steht unter Handlungszwang. Sie muss beweisen, dass der Autor des Manifests ein Einzeltäter ist – und nicht die Mehrheit der Intellektuellen im Land hinter sich hat.
Erfolgschancen für „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“
Pavel Kohouts Antwortbrief an Günter Grass kommt ihr da nicht ungelegen. Unfreiwillig bestätigt Kohout die Propaganda der Parteispitze, derzufolge das Manifest das Werk eines einzelnen Abweichlers ist, der zum Staatsfeind degradiert werden soll.
Lange dauert es nicht, bis die auf den Fall angesetzten Beamten des tschechoslowakischen Geheimdienstes StB den Urheber der sich anbahnenden Staatskrise ausfindig machen. Zu viel verrät der Inhalt der Streitschrift über ihren Verfasser – zum Beispiel die Tatsache, dass er beim Schriftstellerkongress anwesend gewesen sein muss. Der Autor hat Detailwissen, er weiß um die Konsequenzen der auf dem Schriftstellerkongress geäußerten Kritik. In seinem Manifest kritisiert er: „Alle, die diese Forderungen aussprachen, wurden sofort, brutal und in beispielloser Weise von den Vertretern der staatlichen Gewalt und insbesondere der regierenden Partei staatsfeindlicher Betätigung und gegnerischer Ziele beschuldigt.“
Anfang November holen Polizeibeamte den überführten Ivan Pfaff zu Hause ab. Er bleibt fünf Monate in Haft, bis der reformorientierte Alexander Dubček Generalsekretär der KSČ wird und die gegen politische Gefangene eingeleiteten Verfahren neu prüfen lässt. Mit einem Großteil der einstigen Staatsfeinde wird auch Ivan Pfaff während dieser Amnestie aus der Haft entlassen. Im Prager Frühling schlägt sich Ivan Pfaff – wie Pavel Kohout und viele andere Intellektuelle – auf die Seite der Reformkommunisten, die Dubček unterstützen und die Vorbereitungen für freie Wahlen im September 1968 treffen. Noch wünschen sich die Träger des Prager Frühlings keine Demokratie nach westlichen Maßstäben. Sie fordern einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz„, der die Planwirtschaft modernisieren, die Studienbedingungen verbessern und die Zensur von Presse und Literatur endgültig abschaffen soll.
Rückblickend ist den Reformkommunisten, die im Prager Frühling an einen erfolgreichen Systemwechsel glaubten, immer wieder Naivität vorgeworfen worden. Im Jahr 1968 aber halten selbst westliche Beobachter das „Experiment“ für realistisch. Während sich Pavel Kohout in seinen offenen Briefen an Günter Grass in Zurückhaltung übt und zur abwartenden Haltung gegenüber der Reformbewegung mahnt, preist sein deutscher Gesprächspartner die liberale Strömung in der tschechoslowakischen Gesellschaft und misst dem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ große Erfolgschancen bei.
Doch: Der Traum vom „menschlichen Sozialismus“ platzt
„Gestatten Sie dem ewigen Optimisten dieses Gesprächs, diesmal skeptischer zu sein als Sie, Günter Grass. Es ist nicht Misstrauen gegen die eigene Sache, nur eine nüchterne Rückkehr zur Realität der Welt. Das tschechoslowakische Experiment muss mit konkretem Widerstand rechnen. Von links wie rechts“, schreibt Kohout in seinem vierten Brief an Günter Grass. Der erscheint im Juni – fast genau zwei Monate, bevor der Traum vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz platzt und Panzer des Warschauer Paktes in Prag einrollen.
Ivan Pfaff ist am 21. August 1968 in Marienbad. Seine Frau und er machen dort Urlaub, in der Nacht vor der Invasion waren sie lange tanzen. Als sie am Vormittag aufwachen, befindet sich Marienbad in Aufruhr. Im Trubel der Menschenmassen erfährt Pfaff, dass das sowjetische Militär in Prag einmarschiert ist. „Niemand hätte gedacht, dass sie das wagen“, sagt der Historiker mehr als vier Jahrzehnte später. Pfaff und seine Frau brechen ihre Reise ab, nehmen am 22. August den Zug nach Prag, um nach ihrer Tochter und den eigenen Eltern zu sehen. Dort herrscht der Ausnahmezustand. Wer sich in der Reformbewegung gegen das stalinistische System ausgesprochen hat, muss um seine Freiheit fürchten – erst recht aber, wer unter Novotný in politischer Gefangenschaft war.
Im Oktober 1968 flieht Pfaff in die Schweiz. Kurz darauf wird er in seinem Heimatland in Abwesenheit zu einer erneuten Haftstrafe verurteilt. Tausende von Tschechoslowaken folgen in den nächsten Monaten seinem Beispiel und gehen ins Ausland. Bis 1990 werden die meisten von ihnen ihre Heimat nicht wiedersehen.
Und die Weltöffentlichkeit, die Ivan Pfaff in seinem Manifest einst angesprochen hatte? Sie schweigt zur blutigen Zerschlagung des Prager Frühlings. Niemand im Westen will die sich erstmals seit der erfolgreichen Abwendung der Kubakrise wieder einstellende Entspannung zwischen den Parteien des Kalten Krieges aufs Spiel setzen, um ein kleines Land gegen die sowjetische Besetzung zu schützen.
Pfaff verteidigte sein Manifest bis zum Schluss
Über sein „Manifest“ sprach Ivan Pfaff ungern. Doch wenn er es tat, verteidigte er es mit umso größerer Vehemenz. Noch im hohen Alter trieb die Idee des Sozialismus mit menschlichem Antlitz dem Historiker ein Funkeln in die Augen; der Gedanke an die brutale Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Rote Armee brachte ihn zur Weißglut. Nach ihrer Flucht in die Schweiz emigrierten Pfaff und seine Frau nach Süddeutschland. In Konstanz arbeitete Pfaff als Historiker, seine Beiträge erschienen unter anderem in der „Zeit“. Im Juni 2014 starb Ivan Pfaff im Alter von 89 Jahren in Heidelberg.
(Die Autorin dieses Textes führte zwischen 2010 und 2011 mehrere Interviews mit Ivan Pfaff und stand bis zu seinem Tod mit ihm in Briefkontakt.)
Isabelle Daniel