Wenn es um Pakistan geht, beherrschen oft Neuigkeiten über die Taliban und Bombenanschläge die Schlagzeilen – oder wie aktuell die verheerenden Folgen des in diesem Jahr besonders starken Monsun-Regens. Dabei bedroht das Land und seine Menschen seit Jahren ein Problem viel größeren Ausmaßes: die nahende Trinkwasser-Katastrophe. Fortsetzung des Berichts „Wir sitzen alle in einem Boot – alle!“ aus der Feder unseres Südasien-Korrespondenten Gilbert Kolonko.
Laut einer aktuellen Studie sind in Pakistan 50 Millionen Menschen von arsenverseuchtem Trinkwasser bedroht. Doch dies ist nur die Spitze des Eisbergs: Da in dem Land mit immer größerer Geschwindigkeit das Grundwasser mit Hilfe von Brunnen abgepumpt wird, brechen die Grundwasserstöcke nach und nach zusammen. Dabei verunreinigen neben Arsen auch andere Mineralien das lebensnotwendige Gut. Die Science-Ficton-artigen Umweltzerstörungen, die ebenfalls das Grundwasser verunreinigen, sowie die verdreckten Flüsse kommen noch hinzu. Laut einer unabhängigen Studie des Forschers Michael Kugelmann sterben in Pakistan jedes Jahr 250.000 Kleinkinder an den Folgen von verdrecktem Trinkwasser.
Die eigentliche Katastrophe bahnt sich gerade erst an
Eine Studie vom Juni diesen Jahres besagt, dass 91 Prozent des zur Verfügung gestellten Wassers in Karatschi für den menschlichen Verzehr ungeeignet sind – dabei kann der Staat schon jetzt nur mehr die Hälfte des Wasserbedarfs der etwa 15 Millionen Einwohner der Metropolregion decken. So kümmert sich eine Art „Wassermafia“ um den Rest. Mit Hilfe von illegalen Brunnen erwirtschaftet diese horrende Profite, obwohl die Wasserqualität nicht besser ist. Dazu wird auch in Karatschi eine sogenannte Smart City für etwa 500.000 Privilegierte gebaut, in der die Bewohner aus eigenen Brunnen 24 Stunden am Tag mit Trinkwasser versorgt werden sollen, wodurch der Grundwasserspiegel der Megametropole noch mehr sinken würde. Wer sich dort dann teuer mit Flaschenwasser aus dem Supermarkt versorgen möchte, kann sich jedoch auch nicht sicher sein: In einer Studie aus dem Jahr 2016 wurden mehr als 100 Wasser-Marken für den menschlichen Verzehr als unbrauchbar erklärt.
Doch die eigentliche Trinkwasser-Katastrophe bahnt sich gerade erst an: Mit 1.019 Kubikmetern Wasser, die pro Einwohner jährlich zur Verfügung stehen, gehört Pakistan derzeit weltweit zu jenen drei Ländern, die am meisten unter der Wassernot leiden. Und dies, obwohl das Land mit dem Karakorum-, dem Himalaya– und dem Hindukusch-Gebirge über die größten Schmelzwasservorkommen außerhalb der Polarregion verfügt…
An der Wasserkrise sind in erster Linie die polit-wirtschaftliche Elite Pakistans Schuld. Schon 2005 kam die Weltbank zu dem Schluss: „Pakistan verfährt nach dem Prinzip: bauen, vernachlässigen, wieder aufbauen. Dabei ignorieren die Verantwortlichen alle wissenschaftlichen Fakten und strapazieren die Infrastruktur des Landes – bis sie zusammenbricht.“ Ein Beispiel dafür ist das größte künstliche Bewässerungssystem der Erde. Alleine aufgrund undichter Dämme versickern 60 Prozent des Wassers, das für die Bewässerung der Felder benötigt wird – das sind immerhin 96 Prozent des gesamten Schmelzwassers Pakistans. Dazu wird ein weiterer Teil des lebensnotwendigen Guts Wasser verschwendet, indem viele Felder noch mit dem Überschwemmungsprinzip gewässert werden, da Landlords dank der Zahlung von Schmiergeldern an Regierungsangestellte verschwenderisch mit Wasser umgehen können. Laut einer Studie der Weltbank stecken sich pakistanische Beamte für die Wasserverteilung jährlich 30 Millionen Dollar an Schmiergeldern in die Tasche…
„Lösung des Wasserproblems in Pakistan ist möglich“
Als ich wegen einer Reportage in Pakistan recherchiert hatte, schrie mich ein pakistanischer Klima-Forscher, dem gerade wieder einmal das Budget gekürzt worden war, in seiner Verzweiflung an: „Das Talibanproblem ist ein Witz gegen die herannahende Trinkwasser-Katastrophe.“ Dass er seinen Namen nicht in Verbindung mit diesem Satz in den Medien lesen wollte, ist verständlich. Das pakistanische Militär und seine Geheimdienste profitieren von der Existenz der Taliban. Wer sich die Höhe des finanziellen Aufwands im „Kampf gegen den Terror“ ansieht und sie mit derjenigen Summe vergleicht, die im Kampf gegen die Trinkwasser-Katastrophe im eigenen Land investiert wird, kann allenfalls von einem Witz sprechen: Nicht einmal 0,1 Prozent des jährlichen Regierungsbudgets wird dazu aufgewendet, um die drohende Katastrophe abzuwenden.
„Die Lösung des Wasserproblems in Pakistan ist möglich, denn alle Fakten sind bekannt“, stellten die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Weltbank schon vor einem Jahrzehnt fest. Passiert ist seitdem so gut wie gar nichts. Stattdessen hat sich die Bevölkerung Pakistans seit der Staatsgründung 1947 von ehemals 30 Millionen auf 207,8 Millionen erhöht – und wird nach vorsichtigen Schätzungen 300 Millionen im Jahr 2050 betragen.
Aktuell kommen die alljährlichen Hochwasserbilder dazu: „Ein ganz normaler Monsun – aber wie üblich brach unser morsches Abwassersystem zusammen und so standen die Straßen wieder unter Wasser“, schrieb mir ein Bekannter aus Karatschi erst vor Kurzem. Drei Monsune hintereinander durfte ich selbst in Pakistan miterleben. Durch Plastikmüll verstopfte Gullys standen die tiefliegenden Straßen beim ersten Regen unter Wasser. Und die täglichen Hochwasser-Opfer? Nein, die meisten von ihnen ertranken nicht, vielmehr knallten marode Stromleitungen vor ihnen ins Wasser…
Da ist Flucht kein feiger Gedanke, sondern ein menschlicher
Wenn sich in ein paar Jahren Millionen von Pakistanern auf die Flucht begeben werden, wird dies nicht wegen der Taliban geschehen. Trinkwassermangel, verseuchte Luft in den Großstädten, Versalzung der Böden, mit Chemikalien gepanschte Lebensmittel und anstatt anständiger staatlicher Bildung die Aussicht auf kostenlosen Unterricht in einer Hinterhof-Religionsschule. Anstatt einer vernünftigen staatlichen Gesundsheitsversorgung verabreichen Hilfsapotheker in Straßenläden bei Kopf- und Magenscherzen, Fieber, Husten und allgemeinem Unwohlsein Antibiotika.
Aber auch wenn Millionen davon rennen werden, werden sich die pakistanischen Generäle noch hinstellen und der Welt erzählen, dass einzig sie das Land vor den Extremisten beschützen können, während sie diese gleichzeitig im Kampf gegen Indien benutzen – wie in Afghanistan, denn auch dort geht es hauptsächlich um die Bekämpfung des Hauptfeinds der pakistanischen Generäle. Und die heimischen Medien werden ihnen den Gefallen tun und den „Kampf gegen den Terror“ in den Mittelpunkt stellen, weil sich ein angeblicher Kampf der Kulturen nunmal besser verkaufen lässt als aufwendig zu erklären, dass es keine muslimischen, hinduistischen oder ostdeutschen „Idioten“ gibt – es gibt überall nur mehr oder weniger Idioten. Wer glaubt andere mit Druck und Gewalt zu überzeugen, ist ein (gefährlicher) Idiot.
…wird uns auch die blitzblanke Kabine nichts nutzen
Nur wenige Menschen haben auf Dauer die Kraft unter denjenigen Bedingungen zu leben, wie sie mittlerweile in Pakistan flächendeckend herrschen – da ist Flucht kein feiger Gedanke, sondern ein menschlicher. Wenn sich nicht einmal die Mehrzahl der Menschen in demokratischen Systemen gegen offensichtliche Ungerechtigkeiten auflehnt, wie kann das dann von Menschen verlangt werden, die unter ständiger Angst vor Militärs, Geheimdiensten und Extremisten leben?
Wir sitzen alle in einem Boot – und grundlegende Veränderungen gehen nur gemeinsam. Wenn das Boot untergeht, wird uns auch unsere blitzblanke Kabine nichts nutzen, zumal ohnehin ja immer mehr Menschen aus dem angenehmen Teil der Kabine „gestupst“ werden…
Gilbert Kolonko