Freyung. Die gravierendste Neuigkeit, was die Zukunft der Bewohner im Rachelweg 3 anbelangt, wurde erst kürzlich über die Tageszeitung bekannt gegeben: Eine Randnotiz, die verlautbart, dass der Wohnblock in unmittelbarer Nähe des Freyunger Volksfestplatzes, in dem hauptsächlich sozial-benachteiligte Menschen leben, verkauft werden soll – wenn es nach dem Willen von dessen Eigentümer, dem Landkreis Freyung-Grafenau, geht. Dies sei eine weitere Maßnahme, die der Kreistag im Rahmen der Haushaltskonsolidierung für nötig erachtet. Der Grund für die „Abstoßung“: Die Häuser mit den Adressen Rachelweg 1 und 3 würde der Verwaltung zufolge nicht der „Aufgabenerfüllung“ des Landkreises dienen – eine gewinnbringende Vermietung dieser Objekte stünde nicht in Aussicht. Botschaften, die die Bewohner Margit Paus, Hans Reitner und Frank Blank – allesamt Menschen mit Mehrfachbelastung, die da Hog’n Ende 2016 das erste Mal besucht hatte – in Sorge versetzen. Wie wird es mit ihnen weitergehen, sollte ein Käufer gefunden werden?
„Wir ketten uns hier fest“, wiederholt Frank Blank immer wieder mantrahaft. Der Alkohol hat dem großen, schlacksigen Mann mit der roten Schirmmütze zugesetzt. Er wirkt ungepflegt, abwesend. Ein lästiger Hustenreiz plagt ihn seit Tagen. Der beabsichtige Verkauf des Rachelweges 3 durch den Landkreis Freyung-Grafenau ist in seinen Augen gleichbedeutend mit einem Auszug. Dem Verlassen einer Heimstätte, die trotz der widrigen Verhältnisse zu einer Konstante in seinem wenig konstanten Leben geworden ist.
Ursprünglich wurden die Wohnhäuser für Beamte erbaut
Frank Blank befindet sich genauso wie seine Mitbewohner Hans Reitner und Margit Paus seit vielen Jahren auf der Schattenseite des Lebens. Ein Mix aus ungünstigen Voraussetzungen, einem negativen Umfeld und schlechten Erfahrungen haben dazu geführt, dass diese Menschen am Rande der Gesellschaft darben. Von einem Großteil werden sie deshalb wie Aussätzige behandelt. Kennt man sie jedoch einmal näher, erweisen sie sich als offene, hilfsbereite Individuen. Leute, die im Gegensatz zu anderen ihre Probleme für alle gut sichtbar mit sich tragen…
Die Wohnhäuser Rachelweg 1 und 3 wurden im Jahre 1954 vom damaligen Landkreis Wolfstein selbst erstellt, wie Landratsamtssprecher Karl Matschiner auf Hog’n-Nachfrage mitteilt. Josef Brandl hieß der damalige Landrat. Die Begründung für deren Errichtung: „Der Neubau von zwei kreiseigenen Wohnhäusern war dringend notwendig, da die in Freyung tätigen Beamten und Angestellten keine entsprechenden Wohnungen bekommen konnten und deshalb gezwungen waren, auswärts zu wohnen.“ Nachdem sich die Wohnungssituation in Freyung ab den 70er Jahren schließlich entspannt hatte, erfolgte die Vermietung an sozial Schwächere über einen längeren Zeitraum, so Matschiner. „Genauere Angaben hierzu sind leider nicht mehr möglich.“ Weitere Liegenschaften, die dem Bereich „sozialer Wohnungsbau“ zugeordnet werden können, besitze der Landkreis – bis auf ein Zweifamilienwohnhaus an der Geyersberger Straße 21 – nicht.
Nahezu jedem, der an die Wohnungstür von Hans Reitner klopft, wird freundlich Eintritt gewährt. Aus dem einst langhaarigen, ungepflegt wirkenden Mann ist dank einer Kurzhaarfrisur inzwischen ein (äußerlich) vollkommen anderer Mensch geworden. Alkohol und Zigaretten gehören zwar weiterhin zu seinem Alltag wie unzählige Katzen. Dennoch hat es der 58-Jährige geschafft, seine Wohnung etwas auf Vordermann zu bringen. Das Wohnzimmer ist aufgeräumt, die Küche entrümpelt. Dort türmten sich im Dezember 2016 noch Berge von leeren Katzenfutter-Dosen, verbunden mit einem bestialischen Gestank nach Nassfutter und Katzenexkrementen. In Eigenregie hat Reitner dafür gesorgt, dass diese Geruchsbelastung nun der Vergangenheit angehört. „I han ma an Container b’stellt und ha ausg’rammt“, erklärt er kurz und bündig.
Hans Reitner ist trotz seiner misslichen Lage ein fröhlicher und herzlicher Mensch. Seit zwölf Jahren lebt er im Rachelweg 3, hat eine kleine Rente und jobbt nebenbei für die „Grüne Hand“ der Caritas. Seit einiger Zeit unterstützt ihn eine Sozialarbeiterin bei der Bewältigung des Alltags. Was die Vorkommnisse im Haus betrifft, gilt er als nahezu allwissend. Doch beim angestrebten Verkauf durch den Landkreis („Jaja, i ha ebbs g’head“) ist er genauso machtlos wie beim „Missbrauch“ einiger der insgesamt sechs Wohnungen im Gebäude.
Zwar hat die Eingangstüre inzwischen wieder ihren Namen verdient, dennoch treiben immer wieder unerwünschte Gäste ihr Unwesen in dem Freyunger Sozialbau – vor allem in den Räumen im Obergeschoss, die inzwischen alle leer stehen. „Manchmoi is wea om, manchmoi ned“, kommentiert Reitner.
„Ich möchte, dass mein Name reingewaschen wird“
Seine damaligen Nachbarn, Sandro Wolf und Alexander Spann, sind inzwischen ausgezogen. Einige Zeit nach dem ersten Hog’n-Besuch im Rachelweg 3 („Am Rande der Gesellschaft: das „Löwenbrauerei-Haus“ in Freyung“) meldete sich Letztgenannter per E-Mail zu Wort.
„Ich habe mittlerweile wieder meine feste Anstellung als Trockenbauer und einen festen Wohnsitz, der nicht zu vergleichen ist mit dem Rachelweg“, lässt der 31-Jährige die Hog’n-Redaktion wissen. Aus eigener Kraft und eigenem Antrieb habe er sich aus seiner damaligen Lage berfreit. Er sei stolz auf das Erreichte. „Ich möchte, dass mein Name wieder, soweit es möglich ist, reingewaschen wird“, teilt Alexander Spann mit. Der 31-Jährige hat offensichtlich den Sprung zurück ins „normale“ Leben erfolgreich vollzogen. Ein erfreulicher Einzelfall. Denn meist schaffen es sozial benachteiligte Menschen nur schwer, dem reißenden Abwärtsstrudel zu entkommen.
Margit Paus, die „gute Seele“ des Hauses, lebt seit acht Jahren im Rachelweg 3. Sie, Hans Reitner und Frank Blank sind miteinander befreundet. Man hilft sich gegenseitig. Deshalb ist die 54-Jährige auch überzeugt davon, dass sich der jeweilige Besitzer bei einer möglichen Renovierung des Gebäudes auf die Hilfe der Bewohner verlassen kann. „Mir würde ein großer Stein vom Herzen fallen, wenn wir hier bleiben könnten. Es ist unsere Heimat – und es gibt nichts anderes für uns“, erzählt Margit Paus. „Wir wüssten nicht, wie es weitergeht“, macht die 54-Jährige deutlich.
Bestandssicherungspflicht verletzt?
Auf die Frage, wieso die Gebäude im Laufe der Jahrzehnte auf einen derart desolaten Zustand heruntergewirtschaftet werden konnten, antwortet Karl Matschiner: „Eine Sanierung der Gebäude war einerseits aufgrund der finanziellen Situation des Landkreises nicht realisierbar, anderseits hätte eine Sanierung unweigerlich auch Mieterhöhungen nach sich gezogen, die für einen Großteil der Bewohner eine enorme finanzielle Belastung dargestellt hätten.“ Eine Bestandssicherungspflicht besteht dem Landratsamtssprecher zufolge nicht. Genauso wenig wie eine Aufsichtspflicht gegenüber den Bewohnern des Hauses.
Kritiker behaupten hingegen, dass das Landratsamt die Kostensätze, die Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger erhalten, nur zu gut kennen würde. Gelder, die die Behörde über viele Jahre hinweg nur allzu gern in Form von Mieteinnahmen über die Arbeitsagentur kassierte – und es dabei versäumt habe, wieder in die Häuser zu investieren.
Kritischen Stimmen zufolge habe das Landratsamt sehr wohl der Aufsichts- und Bestandssicherungspflicht nachzukommen. Die Häuser seien ihrer Meinung nach nur deshalb so verwahrlost, da die Behörde diese Pflichten nicht wahrgenommen habe.
Wenn sich der Landkreis seiner Obhutspflicht nun durch den Verkauf der Häuser entziehe, sei dies als wenig verantwortungsvolle, moralisch äußerst bedenkliche Tat zu werten. Man könne mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass die jetzigen Mieter durch die Abstoßung der Immobilie eine bezahlbare Wohnung verlieren. Somit spare im Endeffekt der Landkreis auf Kosten der sozial Schwächsten.
Rechtsnachfolge eines Erwerbers gesetzlich festgelegt
Generell sei es seit Dezember vergangenen Jahres den Berichten der drei Bewohner zufolge im Haus etwas ruhiger geworden. Dies habe vor allem mit der derzeitigen Belegung der Wohnungen zu tun.
Der Kamin ist genauso repariert worden wie die Haustüre. Am allgemein maroden Zustand des Hauses ändert dies jedoch nichts. Weiterhin ist ein neuer Anstrich notwendig. Wilde Katzen treiben im Haus ihr Unwesen. Müll gehört zum alltäglichen Erscheinungsbild. Und Frank Blank wiederholt aufs Neue: „Wir ketten uns hier fest.“
„Die Bewohner der beiden Häuser haben gültige Mietverträge, in die der künftige Erwerber als Rechtsnachfolger des Landkreises eintritt“, erklärt Karl Matschiner weiter. Die Rechtsnachfolge eines möglichen Erwerbers sei somit gesetzlich festgelegt – und soll auch in den Kaufvertrag mit aufgenommen werden. „Die Mieter haben weiterhin, wie bisher auch, den geseztlichen Kündigungsschutz.“
Stephan Hörhammer & Helmut Weigerstorfer
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