Haidmühle. Der Landkreis Freyung-Grafenau will ab sofort mit der aktuellen Imagekampagne „MADE – mehr als du erwartest“ Zuzügler anlocken – vor allem aus dem Münchener Raum. Fachkräfte für die Unternehmen sollen her. Noch läuft die Kampagne nicht lange genug, um ihren Erfolg bewerten zu können – Zuzüge gab es aber auch vor dem offiziellen Start der Kampagne schon. Familie Martin aus Landsberg am Lech zum Beispiel, die seit Ostern in Haidmühle wohnt. Was hat Christine, ihren Mann Stefan und Töchterchen Emilia aus dem Großraum München in den Woid gelockt? Hog’n-Autorin Sabine Simon hat die Familie in ihrem neuen Heim besucht.
„Jeder hat gesagt: Was willst du da unten? Da gibt’s nix“, berichtet Christine von den Reaktionen aus ihrem Bekanntenkreis, nachdem sie diesem ihre Entscheidung mitgeteilt hatte. Doch sie war und ist da ganz anderer Meinung: An ihrem alten Wohnort sei es nicht viel anders gewesen als hier. Auch dort waren es 20 Kilometer bis in die nächste größere Stadt. Stefan wirft ein: „Das Einzige, was fehlt, sind die richtigen Berge!“ Hier gäbe es ja nur Hügel. Zwar waren die Alpen von seinem Geburtsort Landsberg auch fast zwei Stunden Fahrzeit entfernt – aber irgendwie scheint man in München und dessen Umland das Gefühl zu haben, man wohne direkt unterhalb der Zugspitze…
Ein Neubau hätte das Budget der Familie überschritten
Warum sind die beiden nun hier im Landkreis Freyung-Grafenau gelandet? Der ausschlaggebende Punkt war der Traum vom Eigenheim. Ihr Budget war nicht riesig: Stefan (36) arbeitet als Maurer, Christine (35) als Sachbearbeiterin im Büro. Momentan ist sie in Elternzeit, Tochter Emilia ist gerade ein Jahr alt geworden. Zuhause – in der Nähe von Landsberg am Lech, gut 50 Kilometer außerhalb von München – war der Traum vom eigene Zuhause aufgrund der momentan extrem steigenden Immobilienpreise in weite Ferne gerückt. In Haidmühle hingegen konnten sich die beiden ein Häuschen leisten.
Die Idee, hier etwas Passendes zu suchen, entstand dabei eher zufällig: Christines Eltern waren die Vorreiter. Sie hatten sich vor drei Jahren ein Haus in der Gemeinde gekauft. Als Alterswohnsitz. Sie haben ein kleines Haus inmitten einer Landshuter Siedlung gegen ein großes Haus mit tausenden Quadratmetern Grund drumherum eingetauscht. Christine hatte jedoch nie geplant, ihren Eltern hinterher zu ziehen. Irgendwann begann ihr Vater dann davon zu sprechen, ob sie denn nicht auf ihrem Grundstück ein Haus bauen wollten? Platz sei ja genügend da. Stefan und Christine freundeten sich mit der Idee an – und Vater Norbert machte den nächsten Schritt: „Er hat einfach mal bei der Gemeinde angefragt.“
In Haidmühle hätte man auch zugestimmt. Das Landratsamt hat einen Neubau allerdings abgelehnt. Christines Eltern wohnen in der Streusiedelung Frauenberg. Und dort darf nicht ohne Weiteres ein neues Haus gebaut werden. Die „Zersiedlung der Landschaft“ soll vermieden werden, heißt es. Haidmühle hat – wie die meisten anderen Gemeinden – ausgewiesene Neubaugebiete, beispielsweise in Bischofsreut. Hier sollen neue Siedlungen entstehen. Vielleicht hätte man gegen die Entscheidung des Landratsamtes etwas machen können, aber Christine wollte das nicht: „Ich bin kein Mensch, der gerne streitet.“ Sie haben den Entscheid also akzeptiert. Und stattdessen nach Immobilien in der Gegend gesucht, die zum Verkauf stehen. Denn ein Grundstück in einem Neubaugebiet zu erwerben und dort ein neues Häuschen zu errichten, hätte ihr Budget überschritten.
„Ihr müsst eigentlich sofort herkommen – heute noch“
Doch ein passendes Eigenheim zu finden, das war schwieriger als gedacht: Wo noch vor ein paar Jahren Immobilien zuhauf leer standen und Eigentümer froh waren, wenn sie Käufer finden konnten, scheint derzeit jedes Haus begehrt. Christines Eltern hatten vor drei Jahren einen optimaleren Zeitpunkt erwischt – ihr Haus war vergleichsweise günstig zu erwerben. Die Tochter musste also Geduld beweisen: Ein Jahr dauerte die Suche. „Viele Immobilien in der Gegend waren entweder zu baufällig oder zu groß“, erinnert sie sich.
Dann endlich stand ein kleines Haus in Haidmühle zum Verkauf. „Ich hatte es quasi gleichzeitig mit Stefan und meinem Vater im Internet entdeckt“, erzählt Christine. Sofort habe man den Makler kontaktiert, Christines Eltern besichtigten das Haus kurz darauf. „Danach haben sie mich angerufen und gesagt: Ihr müsst eigentlich sofort herkommen – heute noch.“ Und das haben Christine und Stefan auch getan: Sie haben spontan ein paar Sachen gepackt, die kleine Emilia ins Auto gesetzt und noch am selben Abend die drei Stunden lange Fahrt in den Bayerwald angetreten. Am nächsten Morgen ging’s zur Hausbesichtigung.
Sie waren sich schnell einig: Das wollen wir haben! Und weil sie die ersten waren, die angerufen hatten, bekamen sie letztlich die Zusage. Zum Glück stand dann auch die Finanzierung recht zügig. Die junge Familie konnte mit ihrem begrenzten Budget ein 140 Quadratmeter großes Haus mit 900 Quadratmeter Grundstück erwerben. „Dafür hätten wir in München nicht mal eine Zweizimmer-Wohnung bekommen“, ist sich Christine sicher. „Innerhalb von zwei Tagen haben wir alles fix gemacht“, erzählt sie und lacht. Jetzt oder nie hieß das Motto – die beiden haben nicht gezögert.
„Waldkirchen schaut in der Nacht aus wie Klein-Rio“
Neben dem günstigen Haus lautete der zweite wichtige Grund für die Entscheidung pro Bayerischer Wald: Stefans Jobzusage, die er längst in der Tasche hatte, bevor er und seine Frau den Kaufvertrag für das Haus unterschrieben. Als Maurer musste er nicht lange nach einer Anstellung suchen. Handwerker sind gefragt. „Ich hätte bei jeder Firma anfangen können, bei der ich angerufen habe“, berichtet er.
Nicht nur die großen Unternehmen, die im Rahmen der Imagekampagne des Landkreises um Fachkräfte werben, haben Personalbedarf. Vor allem handwerklichen Betrieben mangelt es erheblich an qualifizierten Mitarbeitern. Genau wie Baufirmen händeringend nach Maurern suchen, finden zum Beispiel Sanitärfachbetriebe keine Azubis mehr. Ebenso ergeht es Metzgern oder Bäckern. Die kleineren Unternehmen können sich die Werbung im Rahmen der Imagekampagne, bei der verschiedene Pakete gebucht werden können, meist nicht leisten: Der Komplettauftritt kostet 11.800 Euro. Für sie bleibt zu hoffen, dass man sie auch so entdeckt – wenn das Interesse für den Landkreis erst einmal geweckt sein sollte. Punkten können die Handwerksbetriebe im Landkreis vor allem damit, dass bei ihnen durchaus ein guter Verdienst möglich ist: Stefan bekommt jetzt sogar mehr als bei seinem alten Arbeitgeber: „In Landsberg haben sie mich anscheinend nicht nach Tarif bezahlt“, sagt er. Das war ihm gar nicht bewusst. Hier zahle man Tariflohn.
Finanziell war der Umzug also mehr als rentabel für die junge Familie. Das geht im Alltag sogar noch weiter: „Alles ist günstiger hier“, schwärmt Christine. Zum Tanken fährt sie rüber nach Tschechien, beim Einkaufen fallen die Preisunterschiede vor allem bei Brot und Fleisch auf – und im Restaurant isst und trinkt man hier weitaus günstiger als in München und seinem Umland. Aus ihrer Sicht besonders positiv: „Das Freizeitangebot ist immens groß, vor allem für Kinder!“ Gerade waren sie auf dem Baumwipfelpfad und wollen bald wieder hin, um auch das Tierfreigelände anzuschauen. Und Stefan schwärmt von Waldkirchen: „Das schaut in der Nacht aus wie Klein-Rio.“ Hier bestätigen die beiden all die Dinge, mit denen der Landkreis in seiner Imagekampagne Zuzügler anlocken will.
„Das ist, als würdest Du in ein anderes Land ziehen!“
Bei all dem Lob gibt es nach zwei Monaten in Haidmühle natürlich auch ein paar Dinge, die für die Martins etwas gewöhnungsbedürftig sind. Allem voran: Der Waidler-Dialekt unterscheide sich erheblich von ihrem oberbayerischen, meint Christine. Er sei teilweise sehr schwer zu verstehen – vor allem, wenn mehrere Hiesige sich miteinander unterhalten: „Das ist, als würdest Du in ein anderes Land ziehen!“ Dem stimmt auch Stefan zu: „Wenn zehn Kollegen bei der Brotzeit reden und reden – und Du verstehst nix…“
Und auch an die Art der Bayerwäldler mussten die beiden sich erst einmal gewöhnen: Hier dauert es mitunter ein bisschen, bis die Leute mit Fremden „warm werden“. Nach seinem ersten Arbeitstag habe Stefan ihr ziemlich Leid getan, erinnert sich Christine. Keiner hatte mit ihm an diesem Tag gesprochen. „Alle haben akkordmäßig gearbeitet“, sagt Stefan. Von Tag zu Tag wurde es aber besser – mittlerweile versteht sich der Oberbayer mit seinen Kollegen bestens.
Zwei Monate nach ihrem Neuanfang in Haidmühle bereut Familie Martin ihren Schritt in den Woid keineswegs. Dass sie in Landsberg ihren kompletten Freundeskreis zurücklassen und sich hier einen neuen aufbauen müssen, stellt für Christine und Stefan kein großes Problem dar: Stefan war in Landsberg bei der Feuerwehr aktiv – in Haidmühle will er sich genauso engagieren, wodurch man natürlich sogleich Einheimische kennenlernt.
„Gelobtes Land“ ja – sofern die Rahmenbedingungen passen
Auch mit den Nachbarn versteht sich die junge Familie gut: „Die haben Emilia schon recht gern“, erzählt Christine. Mit ihrer einjährigen Tochter besucht sie außerdem die Spielgruppe im Nachbarort. Sich für einen Umzug in eine ganz andere Gegend zu entscheiden, funktioniert wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt am allerbesten: Wenn das Kind noch ganz klein ist, noch keine Freunde zurücklassen, noch nicht Kindergarten oder Schule wechseln muss.
Insgesamt betrachtet dürfte die Geschichte der jungen Familie dem Musterbeispiel für die Landkreis-Imagekampagne schon recht nahe kommen. Vielleicht gibt es bald noch weitere Beispiele. Damit die Zuzügler hier glücklich werden, müssen jedoch viele Rahmenbedingungen stimmen. Der Landkreis kann tatsächlich das „gelobte Land“ für „Zuagroaste“ werden – solange es noch wirklich günstige Immobilien hier gibt. Sofern die Firmen ihren neuen Mitarbeitern ein Gehalt bieten können, das die finanzielle Rechnung pro Bayerischem Wald ausfallen lässt. Und wenn optimalerweise – wie bei Christine – auch familiäre Verbindungen zum Landkreis da sind.
Sabine Simon