Grafenau. Bart tragen ist in diesen Zeiten wieder en vogue. Er erfreut sich nicht nur in der Hipsterszene wachsender Beliebtheit, sondern feiert – nach Jahren der Verschmähung und Abstinenz – auch in der Mitte der Gesellschaft mehr und mehr sein beachtliches Comeback. Einer, der dies ebenso zu schätzen weiß und der sich seit Jahrzehnten der männlichen Bartpflege verschrieben hat, ist der „Säumerbader von Grafenau“: Kurt Stangl. Der gelernte Frisörmeister und Barbier empfängt seit mehr als 35 Jahren seine Kunden in seinem kleinen Salon am Grafenauer Stadtplatz, wo er vorwiegend der lokalen Männerschaft das Haupthaar bzw. die Gesichtsstoppeln zurechtstutzt. Sein Berufsethos gründet dabei seit jeher auf folgendem Leitsatz: Sich Zeit für jeden Kunden nehmen, auf ihn und seine Wünsche eingehen – und: Nur keine Hektik aufkommen lassen! Zu Besuch auf der „Insel der Ruhe und Entspannung“.
In Kurt Stangls Frisörladen herrscht das geordnete Chaos. Die Wände in dem kleinen Raum sind über und über mit allerlei Dingen drapiert, die dem 68-Jährigen in seinem Frisörleben begegnet sind und die er für aufbewahrenswert hielt. Onduliereisen, Kämme, Cremes, Scheeren, Rasierklingen, alte Werbeposter, Pinsel, Wässerchen, Auszeichnungen, Fotos, Bilder, Zeitungsausschnitte, Erinnerungsstücke jeglicher Art. „Hier findest Du so gut wie alle historischen Instrumente, die zu einem Bader passen“, sagt Kurt Stangl und lässt seinen Blick über die holzgetäfelten Wände mit den schier undzählbaren Gegenständen schweifen.
„Die erste Ausstattung meines Ladens war noch sehr dürftig“
Gesammelt hat er wie ein Wilder. Dinge, die man heute quasi nirgends mehr bekommt und einen gewissen Sammlerwert haben. Die „schöne alte Zeit“, in der Frisöre ihr Handwerk noch auf traditionelle Art und Weise gelebt haben, hat er so ein wenig zu konservieren versucht. So wie die alte, per Hand betriebene Haarschneidemaschine, die er auch heute noch gerne bei dem ein oder anderen Kunden ansetzt.
Noch keine 15 Jahre war er alt, als er 1963 im Grafenauer Frisörsalon von Hans Seemann seine Ausbildung begann. Stangl, ein gebürtiger Münchner, wuchs als Waise auf und kam Anfang der 50er mit seiner Pflegeschwester Irene Burghart, die am Grafenauer Stadtplatz ein Tabakgeschäft betreibt, in den Bayerischen Wald. Nach der Lehrzeit und einem kurzen Intermezzo in der Landeshauptstadt beim Promi-Frisör Pelz in Milbertshofen, war er in den 70ern bei „da Drexler Katharina“ vier Jahre lang als Herrenfrisör angestellt, ehe er 1976 die Meisterprüfung erfolgreich ablegte. 1981, also vor 36 Jahren, eröffnete er schließlich seinen eigenen Salon im Stadtzentrum, wo er heute immer donnerstags, freitags und samstags seine Kunden empfängt. „Die erste Ausstattung meines Ladens war damals noch sehr dürftig“, erinnert sich Stangl mit einem Lächeln. Auf Flohmärkten besorgte er sich gebrauchte Brenneisen und Rasiermesser für sein Inventar.
Es dauerte damals nicht lange, bis der mittlerweile verstorbene „Säumervater“ Franz Ranftl auf ihn zukam und fragte, ob er nicht im Rahmen des Grafenauer Säumerfests den Säumberbader geben möchte. Ein Titel, der ihm seit seiner Ernennung Mitte der 80er Jahre bis heute erhalten geblieben ist. Seine Aufgabe dabei: den Leuten beim alljährlichen Säumerfest auf die klassische Weise, also mit dem Rasiermesser, den Bart zu schneiden. „Das Säumerfest ist Bestandteil von Grafenau und auch Bestandteil meines Lebens“, sagt Stangl und ergänzt: „Hoffentlich bleibt das noch lange so.“
„Ich richt‘ mich da immer nach dem Schweinsbraten“
Er, der sich in seinem kleinen Frisörsalon geschmeidig wie ein Tiger in der Manege bewegt, dabei die auf der Eckbank wartende sowie die sich gerade in seinen Händen befindliche Kundschaft mit einem kecken Spruch oder dem neuesten Stadttratsch zu unterhalten weiß, gerät bei der Arbeit schnell ins Schwelgen. Frisörmeistergarn würde man dazu wohl sagen. „Den oid’n Bieringer hob i moi im Bett rasian miassn“, packt Stangl eine von vielen Anekdoten aus vergangenen Tagen aus. „Do bin i im Bett drin kniad und hob gleichzeitig sein Bernhardiner daneb’n festg’hoidn“, erzählt er, lacht und schüttelt dann den Kopf.
Kurt Stangl schneidet Hog’n-Redakteur Hörhammer den „Eisenbahner-Bart“ (unregelmäßiger Bartwuchs mit dichten und weniger dichten Stellen = „Stationen“) – zum Schluss gibt’s noch ein „Erotik-Wasserl“ auf den Hals:
Jaja! Damals, da waren die Dinge noch in Ordnung und die Preise stabil. In den 60ern kostete ein gewöhnlicher Haarschnitt noch 1,80 D-Mark. 70 Pfennig wurden für die Bartrasur verlangt. Heute lautet Stangls finanzielle Devise: „Ich richt‘ mich da immer nach dem Schweinsbraten.“ Das heißt: neun bis zehn Euro fürs Haare schneiden. Die günstigen Preise kann er sich leisten, denn Personalkosten fallen keine an. Doch auch ihm ist bewusst: „Frisöre verdienen trotz Mindestlohn heute noch nicht wirklich viel.“
Obwohl auch einige Frauen zu seinen Klienten gehören, hat sich Kurt Stangl im Laufe der Zeit vorwiegend als Herrenfrisör etabliert. Das hat mehrere Gründe: Zum einen hat er sich voll und ganz der insbesondere von Männern geschätzten, traditionellen Haarschneidekunst verschrieben. Zum anderen bietet er keine exquisiten Föhnfrisuren, Färbungen, Tönungen oder gar Dauerwellen an, die vor allem beim weiblichen Geschlecht gefragt sind. Massenabfertigungen gibt es bei ihm – egal, ob Männlein oder Weiblein in seinem Frisörstuhl sitzt – nicht.
Täglich zehn bis 15 Kunden, von denen so mancher seit mehr als 30 Jahren zu ihm kommt, verhilft er im Schnitt zu einem besseren Haar- bzw. Bartschnitt. Das langt dem 68-Jährigen, der seine Regelarbeitszeit freilich längst erreicht hat, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ihm, der bereits zweimal in seinem Leben mit nicht ungefährlichen Herzproblemen konfrontiert war, ging es im Berufs- wie im Privatleben stets um die „Wiederentdeckung der Langsamkeit“. Um Ruhe und Entspannung. Für seine Besucher – und für sich selbst. „Sich Zeit lassen ist wichtig.“ Denn: „Ich bin kein Schaafschneider – ich schneide den Menschen die Haare. Jeder Kunde ist ein Unikat.“
Und wie ist das so mit dem Klischee des tratschenden Frisörs? Dass beim Frisör das Leidg’schmatz seinen Ursprung nimmt und hier die eigentlichen Lokalnachrichten produziert werden? „Man darf nicht alles glauben, was die Leute einem erzählen“, antwortet Kurt Stangl mit einem Augenzwinkern und fügt hinzu: „Aber auch nicht immer das, was der Frisör berichtet – der lügt nämlich auch manchmal.“ Als Psychologe muss er auch immer wieder mal in Aktion treten, wenn seine Kunden im ihr Leid klagen. Dann hört er zu, nickt, gibt Ratschläge und beruhigt. „So manch einen hab ich schon wieder in die Spur gebracht“, erzählt Kurt Stangl – und man nimmt es ihm aufgrund seiner gesellig-humorvollen Art sogleich ab.
„Das ganze Leben ist irgendwie ein Chaos“
Sein Sohn ist zur Polizei gegangen – „ich hab ihn zu nichts gezwungen, er konnte über seine Berufswahl immer frei entscheiden“. Ein Einzelkämpfer sei er, der Säumberbader, im Laufe der Zeit geworden, sagt er. „Ich bin immer meiner Linie treu geblieben. Ein Buch würde er irgendwann gerne noch schreiben. „Titel: Das Chaos eines Lebens.“ Denn man komme immer von einem Chaos ins nächste. „Das ganze Leben ist irgendwie ein Chaos“, sagt Kurt Stangl, lächelt und blickt erneut auf die getäfelte Holzwand mit den vielen Erinnerungsstücken. Sein Traum? „Ein Frisörmuseum in Grafenau.“ Doch reif fürs Museum ist er selbst noch nicht. „Ich denke nicht ans Aufhören“, sagt der 68-Jährige, „dafür macht mir die Arbeit zu viel Spaß.“ Er weiß: Die Zeit spielt für ihn sowieso keine Rolle…
Stephan Hörhammer
Anmerkung der Redaktion: Unser Besuch bei Kurt Stangl fand vor fast fünf Jahren statt, weshalb er auf den Fotos – genauso wie Hog’n-Redakteur Hörhammer – noch etwas jünger aussieht. Der Grund dafür: Die Aufzeichnungen und Notizen sind in der damals doch recht hektischen Gründungsphase des Onlinemagazins nach dem Besuch in Grafenau verloren gegangen – und erst vor Kurzem wieder aufgetaucht. Inhaltlich hat sich seitdem bis auf das Alter (Stangl war damals 63) nicht viel geändert. Ob der Säumerbader, der nach wie vor seine Kunden dreimal die Woche empfängt, immer noch nicht ans Aufhören denkt, bleibt allerdings sein Geheimnis…