Der politische Sturm, der in den vergangenen Monaten rund um die Themen Flüchtlinge, Migration, Integration und Islam tobte, scheint sich langsam aber sicher zu legen. Zu spüren ist – wenn überhaupt – noch ein laues, mediales Lüftchen. Um zumindest noch eine wahrnehmbare Brise an kulturellem Disput Richtung Wahl im September hinüber zu retten, bemühte Thomas de Maiziére (CDU) unlängst noch einmal den kulturpolitischen Blasebalg: Zehn Thesen zur deutschen „Leitkultur“ – spätestens seit Friedrich Merz eines der christlich-sozialen Lieblingsthemen – formulierte der Innenminister in seinem Gastbeitrag in der „Bild am Sonntag“ (BamS). Mit diesen Thesen wolle er zur Diskussion einladen – darüber sinnieren, was Deutschland ausmacht, wer wir sind und was wir wollen. Dass Deutschland mit ansteigender Zuwanderung und kultureller Diversität vor großen Herausforderungen steht, ist unbestritten – und spätestens die Herausbildung diverser Formen von Parallelgesellschaften innerhalb Deutschlands macht eine solche Debatte unabdingbar. Jedoch nicht in der wie von de Maizière vorgeschlagenen Form der abendländischen Rosinenpickerei…
Schon das Timing der Veröffentlichung verrät einiges über die Intention von de Maiziéres Thesen. Am 30. April, just einen Tag vor dem Tag der Arbeit, hämmerte der Minister seine Thesen im Stile eines Martin Luther auf die Titelseite der BamS. Damit versorgte man nicht nur die rund 890.000 BamS-Leser, sondern füllte auch gleich noch tags drauf sämtliche Tageszeitungen mit Analysen, Kommentaren und Leitartikeln zu de Maizières Gastbeitrag. Den 1. Mai – ein gewöhnlich von Fragen nach Umverteilung, Arbeitnehmerrechten und sozialer Gerechtigkeit dominierter Tag – hatte man geschickt für sich reklamiert, indem man einfach CDU-freundlichere Themen auf die Agenda setzte. Ein weiteres Mal bewies man somit, dass Fragen nach Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit schon lange keine Kernthemen der Christ-Sozialen mehr sind. Es geht um Werte, Kultur, Sicherheit und darum, dass wir nicht Burka sind…
Über Verfassung und Grundrechte hinaus…
Dabei hat der Innenminister durchaus Recht, wenn er vorschlägt, dass über Kultur, Werte und Normen in Deutschland offen und ehrlich diskutiert werden müsse. Deutschland ist keine homogene Gesellschaft, in der jeder dieselben moralischen Ansichten teilt, sich zu den selben Grundwerten bekennt oder demselben Glauben anhängt. An jenen Stellen, an denen es zu Berührungen und Überlappungen verschiedener Ansichten kommt, kann es zu Konflikten kommen. Die Antworten, die unser westlicher Liberalismus auf diese Fragen anzubieten hat, sind jedoch oftmals unbefriedigend und widersprüchlich. „Tu, was Du willst, solange es im Einklang mit Gesetz und Verfassung steht“ funktioniert nur bis zu jenem Punkt, an welchem kulturelle, ethische und moralische Ansichten zu gänzlich verschiedenen Ansichten gelangen. De Maiziére hat völlig Recht, wenn er proklamiert, dass es „über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus etwas gibt“, was ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben garantiert.
Schwierig wird es an jenem Punkt, an dem es dieses Etwas genauer zu bestimmen gilt. Für de Maiziére stellt dieses Etwas die deutsche Leitkultur dar, die er mit einer scheinbar willkürlichen Auswahl an Werten und Normen füllt. Vom Händeschütteln zur Begrüßung über den spezifisch deutschen Leistungsgedanken bis hin zur Bekenntnis zur Nato und der Freundschaft zu den Vereinigten Staaten offeriert er eine undurchsichtige Melange an Attributen, die seiner Meinung nach Bestandteil einer deutschen Leitkultur sind (den Gastbeitrag im Wortlaut lesen Sie hier). Neben der von de Maiziére gibt es wohl genau so viele weitere Leitkultur-Sichten wie Einwohner in diesem Land. In einem kulturell diversifizierten Land gibt es nicht die eine einzige Wahrheit, sondern eben mehrere nebeneinander existierende Wahrheiten. Und spätestens mit Eintritt in die Politik werden diese Wahrheiten zur bloßen Meinung degradiert.
Es gilt die menschliche Pluralität als solche anzuerkennen
2013 fällte man am Bundesverwaltungsgericht ein Grundsatzurteil: Es sei Mädchen muslimischen Glaubens grundsätzlich zumutbar am schulischen Schwimmunterricht teilzunehmen – auch mit Burschen. Kürzlich bestätigte der Europäische Gerichtshof dieses Urteil. Ein Fernbleiben vom Schwimmunterricht werde vom Gesetzgeber somit nicht geduldet; nicht selten wurde dieses Urteil als schwerer Eingriff in die muslimische Kultur gewertet. In derartigen Fällen gilt es für den Gesetzgeber abzuwägen, was mehr Gewicht hat: die Religionsfreiheit oder der staatliche Erziehungsauftrag. Und genau hier erreichen wir einen kritischen Punkt, der sich mit einem bloßen Verweis auf den westlichen Wertekanon nicht mehr beantworten lässt, ohne sich in Widersprüche zu verstricken. „Tu, was Du willst, solange es im Einklang mit Gesetz und Verfassung steht“ hört an diesem Punkt auf zu funktionieren. Hier stehen sich zwei kulturell geformte und historisch gewachsene Ansichten gegenüber, welche beide innerhalb des vom Grundgesetz vorgegebenen Rahmens liegen, jedoch in diesem Punkt unterschiedlicher nicht sein könnten. Eine muslimisch geprägte Form der Lebensführung, die Frauen zur Verhüllung ihres gesamten Körpers auffordert, trifft auf eine westlich geprägte Form der Lebensführung, die spärlich bekleidete Frauen öffentlich auf Plakatwände projiziert. Beide Lebensformen sind gleichberechtigte Teile unseres Landes.
Der Traum eines Multikulturalismus, jede Gemeinschaft könne mit ihren ganz eigenen Überzeugungen einfach friedlich nebeneinander her leben und der Staat brauche nur im Sinne einer großen, abstrakten kulturellen und rechtlichen Klammer für ein geregeltes Zusammenleben sorgen, wird in dieser Form nicht aufgehen. Diese Konzeption unterliegt der Fehlannahme, die jeweiligen kulturellen Gemeinschaften würden jeweils isoliert für sich leben und keinerlei Berührungspunkte aufweisen. Diese Berührungspunkte gibt es aber – wir erleben sie tagtäglich. Die Lösung für die Konflikte, die sich an gewissen Punkten unweigerlich ergeben, kann jedoch nicht darin liegen – wie von de Maiziere vorgeschlagen – von oben herab schlichte und einfache Regeln vorzugeben, was denn nun deutsch sei und wie sich ein Zusammenleben zu gestalten habe. Dies befördert viel mehr eine Segregation, denn eine Integration. Genau so wenig werden sich solche Konflikte beilegen lassen, indem man, wie von der populistischen Rechten vorgeschlagen, für ein möglichst homogenes Deutschland im Sinne eines „Ein Wille, ein Volk“ plädiert. Die menschliche Pluralität, die Vielfalt der Lebensführung innerhalb Deutschlands, gilt es auch als solche anzuerkennen.
„Auch lesbische, schwarze Behinderte können ätzend sein“
Verschiedene kulturelle Ansichten, moralische Wertvorstellungen sind oftmals tief in der jeweiligen Person verankert und genauso häufig hoch emotional aufgeladen. Kulturelle Gräben können eine unglaubliche Tiefe erreichen, sind aber dennoch nicht unüberwindbar. Dass Personen, die aus anderen Teilen dieser Welt nach Deutschland kommen, in irgendeiner Form anders sind, lässt sich nur schwer bestreiten. Auf diese Andersartigkeit scheint es jedoch im Moment genau zwei Lösungsvorschläge zu geben. Diese Andersartigkeit habe entweder zu verschwinden, indem man sich zum Beispiel einer Leitkultur unterordnet oder ist – in konservativeren Kreisen, rechts der CDU – angeblich gar aussichtslos inkompatibel mit unserer abendländischen Tradition. Variante zwei, angesiedelt im linken Liberalismus, sieht in dieser Andersartigkeit schon per Definition den Heldenstatus eingeschrieben: Alles, was in irgendeiner Form Minderheitenstatus genießt, nimmt umgehend den Status eines von jeglichen Makeln befreiten Halbgottes ein.
Diese Andersartigkeit aber als solche zu akzeptieren, sie frei von moralischer Gewichtung auch als solche anzuerkennen, darin liegt meiner Meinung nach der Schlüssel zum Erfolg. Vielleicht mit der Erkenntnis einer deutschen Punk-Band, dass auch „lesbische, schwarze Behinderte“ manchmal „ätzend“ sein können. Vielleicht wider der Erkenntnis einer Kölner Oberbürgermeisterin , dass „südländisches“ Aussehen nicht automatisch „eine Armlänge Abstand“ bedeuten muss. Aber definitiv mit weniger Wasser auf den Mühlen der populistischen Rechten.
Wahrscheinlich braucht es dazu mehr als ein bloßes Bekenntnis zur Verfassung und den Grundwerten des jeweiligen Landes. Mehr als den bloßen Verfassungspatriotismus – und im Sinne der Einfachheit können wir dieses Mehr auch ‚Leitkultur‘ nennen (auch, wenn ich diesen Begriff aus verschiedensten Gründen unpassend finde). Diese ‚Leitkultur‘ kann jedoch nie ein von oben gegebenes Absolutes sein, sondern muss sich aus den einzelnen ‚Leitkulturen‘ der im Staat lebenden Personen ergeben. In einem Staat, in dem mehrere Wahrheiten nebeneinander existieren, muss jede dieser Wahrheiten auch den gleichen Anspruch haben, gehört zu werden. So kann man zu einem Konzept der ‚Leitkultur‘ gelangen, das ein friedliches Miteinander garantiert.
Rosinenpicken zum Wohle des Parteiprogramms
Mit Blick auf Innenminister de Maiziéres Thesen mag man eher den Eindruck bekommen, die deutsche Leitkultur definiert sich vor allem durch das, was sie gerade nicht ist. Christliche Werte, deutsche Traditionen und Normen, in scharfer Abgrenzung zum Islam, sollen auch zukünftig für Frieden und Sicherheit im Land sorgen. Dabei scheint man sich eben jene Rosinen aus der abendländischen Geschichte zu picken, die gerade ins (partei-)politische Programm passen. Dass auch eine geordnete Sozialpolitik und eine geregelte Verteilung von Einkommen und Vermögen ein Garant für Frieden und Sicherheit in einem Land sein können, davon ist im de Maiziére’schen Thesenanschlag wenig zu lesen. Weiter bleibt man auf dem Kurs, politisches Versagen auf individuelle Verantwortlichkeit abzuwälzen – und exemplarisch mahnt man weiter mit erhobenem Zeigefinger zur Mülltrennung, während man als CDU in Berlin seit Jahren alles daran setzt, eine EU-weite Abgasnorm zu verhindern.
Kommentar: Johannes Greß
Lieber Herr Greß,
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Einigem möchte ich gerne zustimmen. So zum Beispiel, das „Thesen zur Diskussion einladen – darüber sinnieren, was Deutschland ausmacht, wer wir sind und was wir wollen.“
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Schon alleine der Hinweis auf die „alpenländische Rosinenpickerei“ gibt vieles zum Thema „Leitkultur“ und „Integration“ auch schon aus rein innerdeutscher Sicht her. Zwar wird von der CDU und der CSU (und auch anderen) immer wieder versucht, das Theme verzerrt ins Zentrum eines Zusammenhangs mit Flüchtlingen und Migration zu rücken, auf die Motive dafür möchte ich hier in Zeiten des Wahlkampfes nicht näher eingehen. Der Mißbrauch unter Populisten ist offensichtlich. Das Thema der Integration ist mir im Zusammenhang mit gerade den sogenannten Schwesterparteien für hier einmal ausreichend, um mich eben aus innerdeutscher Perspektive dem Begriff der „Integration“ innerhalb der Republik, und damit zwischen Deutschen zu nähern.
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Mehrmals haben sich Menschen kritisch mit der Frage beschäftigt, warum es denn in Bayern nicht möglich sei, die CDU zu wählen. Der Nürnberger Rechtsanwalt Rainer Roth meinte dazu gegenüber dem Bayerischen Rundfunk erst vor kurzer Zeit: „Für meine Person ist es eindeutig, dass der Staatsbürger als Träger der Souveränität die Möglichkeit haben muss, im Bundesgebiet alle etablierten Parteien wählen zu können.“
Es folgte eine Klage und das Verwaltungsgericht in Wiesbaden hatte diese abgewiesen.
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Über das Für Und Wider dieser Forderung möchte ich mich nicht länger auslassen. Man könte es ja einfach dabei belassen, dass es „„über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus etwas gibt“, was ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben garantiert.“. Doch dieses Etwas Exisitierte auch schon in „Vorflüchtlingszeiten“. Und trotzdem, etwas „Unfriedliches“ zeigte und zeigt sich zum Beispiel des Grabens zwischen Bayern (CSU) und dem Rest der Republik (CDU) immer wieder einmal. Und wenn de Maiziére von „alpenländischer Rosinenpickerei“ spricht, dann ist das lediglich ein Euphemismus für mangelnde Integration (der CSU in die Schwesterpartei).
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Bei den Vorstellungen aktuell zum Thema Leitkultur sollten ja die Wähler zur Überzeugung kommen, es existierten da recht unterschiedliche Ansichten bei CDU und CSU. Und die kann ein Bayerischer Ministerpräsident – zweckmäßig für seinen Wahlkampf – mal so und mal so uminterpretiert. Aktuell wird das „gerne“ leider oft auf dem Rücken von Flüchtlingen ausgetragen. Und nein! Ich bin nicht naiv genug, zu glauben, dass auf deren Seite alles korrekt und in Ordnung ist, bei den Zielen, die da einzelne verfolgen.
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Ja: „In einem kulturell diversifizierten Land gibt es nicht die eine einzige Wahrheit, sondern eben mehrere nebeneinander existierende Wahrheiten.“. Dabei könnte man es beruhen lassen, aber diese mehreren Wahrheiten sind darf man eben auch einmal als den Grund für Zwist in Fragen innerdeutscher Integration und Leitkultur bezeichnen, und das, wie das Beispiel CDU vs. CSU zeigt, schon ganz lange und ganz ohne die Beteiligung von Flüchtlingen.
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Ein Bayerischer Schriftsteller hat es einmal so formuliert:
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»Für Nichteinheimische bedeutet „bayrisch“ ja fast immer so etwas wie ein herzerfrischendes Hinterwäldlerturn auf Bauernart, eine mit dickem Zuckerguß sentimentaler Verlogenheit reizend garnierte Gebirgsjodler-Idylle, ein schlicht-inniges bier-katholisches Analphabetentum als Volkscharakter und im besten Falle eine bäuerlich pfiffige Gaudiangelegenheit. Rundherum gesagt also: etwas entwaffnend Einfältiges, über das jeder Mensch eben wirklich nur noch lachen kann. Dafür sorgten meine Vorgänger bis hinauf zu Ludwig Thoma reichlich, und das Unappetitliche dabei ist: während sich zum Beispiel die Juden mit vollem Recht und in natürlicher Selbstverständlichkeit ganz entschieden gegen jeden Antisemitismus wehren, reagieren wir geschäftstüchtigen, animalisch gefallsüchtigen Bayern gegen den von uns selbst geschaffenen Antibavarismus völlig entgegengesetzt. Wir hegen und pflegen, hätscheln und steigern ihn, damit uns nur ja die ganze Welt als ein Volk von „blöden Seppln“ ansieht.«
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Oskar Maria Graf in seinem Buch „Gelächter von außen“, 1924
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In Grafs Text könnte man sich natürlich als Bayer erkennen – oder sich an ihm stören. Aber egal, wer sich aus welchen Gründen auch immer angesprochen fühlt, er/sie wird ihn schon „ganz genau“ kennen, den Grenzverlauf zwischen sich und den anderen, den Nichtbayern, den Deutschen“. Und seine Motive.
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„Mia san mia“: gescheiterte Integration?