Passau. „Ohne helfen zu können, musste eine 27-jährige Frau in der Nacht zum 11. Februar 1981 mitansehen, wie ein Mann vorsätzlich über die Kaimauer in das eiskalte Wasser der Donau gestoßen wurde. Die Frau beobachtete die Tat von ihrem Hotelzimmer im Hotel „Zum König“ aus…“ Manche Kriminalfälle nehmen Wendungen, die keiner der Beteiligten für möglich gehalten hätte. So geschehen im Jahr 1981 in der Dreiflüssestadt Passau.
Zunächst wurde vermutet, dass ein junger Mann in Folge eines Streits ermordet und in die Donau geworfen wurde. Ein Irrtum, wie sich etwas später herausgestellt hat. Diese vermeintliche Tat ist ein weiterer, diesmal etwas außergewöhnlicherer Teil unserer Serie „Mord verjährt nie“, die auf den Aufzeichnungen von Franz Hartl beruht, der diese in seinem Buch „Wie können Menschen nur sowas tun?“ veröffentlichte.
„Die Biologielaborantin aus München legte sich Dienstagnacht bald zur Ruhe. Sie hat einen leichten Schlaf. Das Fenster ihres Hotelzimmers führte zur Fritz-Schäffer-Promenade hinaus. Gegen 2.30 Uhr wachte die Frau auf. Sie hatte Lärm gehört, eine lallende Stimme auf der Straße und ein Geräusch, als ob ein schwerer Gegenstand über den Boden gezogen würde.
Die Spurensicherung entdeckte feine Blutspuren
Schnell stand die Münchenerin auf und schaute durch das gekippte Fenster auf die Straße. Auf dem Gehweg am Donauufer, direkt unter der Laterne und dicht neben dem Poller beim Uferabgang, sah sie zwei Männer. Einer lag bewegungslos am Boden. Sein hellgrauer Pullover war ihm über den Kopf gezogen, die Ärmel waren nach oben gerutscht – gerade so, als wäre die Gestalt geschleift worden. Über den am Boden Liegenden gebeugt stand der zweite Mann und lallte, offenbar war er betrunken. Verstehen konnte die Frau nichts von seinen Worten.
Plötzlich lief der zweite Mann weg, rannte Richtung Schanzlbrücke. Die Zeugin glaubte sicher, der Unbekannte wollte Hilfe holen. Aber nach 50 Metern blieb er stehen, zögerte unschlüssig und kehrte zurück. Noch etliche Meter vor dem immer noch reglos liegenden Körper blieb er abermals stehen, dreht sich wieder um und rannte erneut in Richtung Schanzlbrücke. Und noch einmal überlegte es sich der Mann anders, kehrte zum zweiten Mal zurück.
Er beugte sich über die Gestalt, fasste sie an den Beinen und drehte sie um. Dann packte er die Schultern und schob den Unbekannten über die Kaimauer in die Donau. Jetzt rannte der Täter zum dritten Mal davon und begann laut um Hilfe zu rufen. Es war 2.40 Uhr. Die Münchenerin zog sich notdürftig an und eilte zum Tatort. Aber hier war nichts mehr zu sehen. Der Mann war verschwunden. Vom Hotelzimmer aus alarmierte die Zeugin die Polizei.
Noch in der Nacht suchte die Wasserschutzpolizei den Fluss ab, ohne etwas zu finden. Die Spezialisten der Spurensicherung entdeckten im Schnee feine Blutspuren, die offenbar beim Schieben des Körpers entstanden waren. Die Kriminalbeamten besuchten noch in der Tatnacht Wirtschaften und Nachtlokale, um zu überprüfen, ob es dort am Tage vorher zu Streitigkeiten oder einer Schlägerei gekommen war. Das Ergebnis der Befragung war recht dürftig.
Durch Hinweise aus der Bevölkerung und durch Meldungen von Zeugen kam die Kripo dann bald auf den 23-jährigen Werner R. (Name geändert) aus Passau. Der arbeitslose Hilfsarbeiter gestand nach anfänglichem Leugnen die Tat in allen Einzelheiten. Weil er Angst hatte, seine Bewährung zu verlieren, stieß er nach einem Streit seinen Bekannten Rudi Haas in die Donau.
„Wo kummst denn Du her, Du Depp?“
Werner R. wurde Ende Oktober 1980 aus dem Gefängnis entlassen, wo er eine Strafe wegen Diebstahls verbüßte. Ein Teil der Strafe wurde ihm auf Bewährung erlassen. Der 23-Jährige fand keine Arbeit. Er ging mittags oft zum Nikolakloster und ließ sich dort verköstigen. Bei diesen Speisungen lernte er Rudi Haas kennen. Am Mittwoch, 11. Februar, landete Werner R. auf einer Lokaltour spät nach Mitternacht im „Smuggler-Club“ an der Donaulände. Rudi war ebenfalls Gast.
„Wo kummst denn Du her, Du Depp?“, fragte Rudi den Ankömmling und gab ihm einen Schlag ins Genick. Das erboste den 23-Jährigen. Eine Schlägerei bahnte sich an, die die beiden allerdings im Freien ausmachen wollten. Schon im Flur schlug Rudi – so der Täter bei der Vernehmung – ihn kräftig ins Gesicht.
Damit war sein Zorn aufs Höchste angestachelt. Mit aller Kraft schlug er auf Rudi ein. Der lief davon und Werner R. folgte ihm. Bei den Garagen am Hotel „Zum König“ erreichte er den Fliehenden und drosch auf ihn ein, bis er am Boden lag. „Jetzt werf ich Dich in die Donau“, hat er hier bereits zu dem am Boden Liegenden gesagt. Rudi konnte sich nicht mehr wehren, bat aber: „Naa, ned!“
An seinem Parka schleifte Werner R. den halb Bewusstlosen über die Fahrbahn der Fritz-Schäffer-Promenade, ließ ihn am Uferrand liegen und drohte: „Jetzt lass i Di baden!“ Rudi Haas rührte sich nicht mehr. Bei der Vernehmung gab der 23-Jährige zu Protokoll, er habe befürchtet, Rudi zeige ihn wegen der Schlägerei an und er verliere dann die Bewährung.
Er zauderte noch, den am Boden liegenden Mann ins Wasser zu stoßen, führte seinen Plan aber letztlich durch. Nun fürchtete der Täter, es habe ihn jemand gesehen. Deshalb lief er weg und schrie laut um Hilfe. Dadurch sollte die Tat wie ein Unglück wirken. Er gab zu Protokoll, er habe erreichen wollen, dass mögliche Augenzeugen glauben sollten, der Mann sei selbst ins Wasser gegangen und es wäre nicht mehr möglich gewesen, ihn zu halten.
Ein Geist? Nein, des ist Rudi Haas!
Der Täterkreis wurde aufgrund vieler Hinweise aus der Bevölkerung schnell enger. Bald darauf wurde gezielt nach dem 23-Jährigen gesucht. Er wurde zwei Tage nach der Tat um 13.30 Uhr in einer Gastwirtschaft festgenommen. So wie sich die Sache darstellte, hatte die Münchener Biologielaborantin in jener Nacht einen fast „perfekten“ Mord gesehen. Denn hätte sie nicht zufällig aus dem Hotelfenster geschaut, wüsste wahrscheinlich niemand etwas von diesem Kapitalverbrechen.
Das Opfer Rudi Haas gehörte zu den Stammgästen des „Armenstüberl“ des Nikolaklosters, dort werden seit Bestehen hungrige Menschen verköstigt. Drei Tage war Rudi dort nicht mehr gesehen worden, als am Samstagnachmittag, 14. Februar 1981, ein junger Mann mit zerrissener Kleidung und zerschundenem Gesicht im Kloster erschien. Die Ordensschwester fragte Bekannte von ihm: „Ja, ist das nicht der Rudi Haas?“ Ein anderer Gast erzählte: „Da dreh ich mich um und denk, das ist ein Geist. Es war aber wirklich der Rudi Haas!“
So klärte sich die ganze Geschichte auf. Vor der Kriminalpolizei gab das „Opfer“ zu Protokoll: Er war ohne Bewusstsein, als ihn sein Zechkumpan nach einer Schlägerei an jenem Mittwoch gegen 2.40 Uhr bei der Schulter packte und ihn in die Donau schob. Im eiskalten Wasser kam Rudi Haas schlagartig zu sich und schwamm um sein Leben.
Gleich neben dem Tatort führte von zwei Seiten eine schmale Rampe mit Treppe in die Donau. Daneben liegen Schiffe fest verankert. Die erste Treppe verfehlte Rudi Haas. Mit letzter Kraft erreichte er die zweite Treppe und schleppte sich auf die Fritz-Schäffer-Promenade. Ohne erst lange um Hilfe zu schreien, lief Rudi in sein „Quartier“, ein Abbruchhaus in der Höllgasse. Er war zerschunden und verletzt von den Schlägen und hatte einen Schock vom kalten Wasser. Wie er war, legte er sich auf seine Liege. Die nasse Kleidung konnte er nicht wechseln, auch ein Ofen fehlte in diesem heimlichen Obdach.
Drei Tage lag Rudi Haas schwach und verletzt in diesem Haus. Er wusste nichts davon, dass der Täter Werner R. wegen Mordverdacht verhaftet wurde. Am dritten Tag wurde der Hunger größer als die Schmerzen. Er rappelte sich hoch und ging zur Armenspeisung ins Nikolakloster. Hier erst erfuhr er, was sich in den vergangenen Tagen abgespielt hatte.
„Ein Indianer kennt keinen Schmerz“
Die Kripo hatte die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen, dass Rudi Haas sich wider aller Wahrscheinlichkeit vielleicht doch noch hatte retten können. Der Verdacht, das Opfer sei ertrunken, verdichtete sich immer mehr, zumal in der Tatnacht die Wasserschutzpolizei den Fluss absuchte und auch die Zeugin vergeblich nach dem Mann Ausschau hielt. Mit seinem Vater feierte Rudi Haas am 15. Februar 1981 in einem Tittlinger Lokal seinen „zweiten Geburtstag“ und sagte gegenüber der Heimatzeitung, dass er sich von nun an Neptun nennen werde. Das „Mordopfer“ lebt noch heute nach dem Motto: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“.“
Franz Hartl/ da Hog’n
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- Mord verjährt nie (1): Der dramatische Tod der Hildegard Baumann (18)
- Mord verjährt nie (2): Dreifacher Offiziersmord in der Koller-Villa
- Mord verjährt nie (3): Tödlicher Schuss an der Grenze
- Mord verjährt nie (4): Der Tod eines Schwarzhändlers
- Mord verjährt nie (5): Der Gattinnenmord von Hacklberg
- Mord verjährt nie (6): Bluttat in der Heiliggeistgasse
- Mord verjährt nie (7): Mysteriöser Raubmord in Tiefenbach
- Mord verjährt nie (8): Der brutale Mord an Maria Schmid