Altreichenau. Jetzt sitze ich also hier, in einem mir unbekannten Wohnzimmer und sehe mir zusammen mit einer mir fremden Familie die Sechs-Uhr-Nachrichten an. Starre auf den Bildschirm und erlebe mehr oder weniger in Echtzeit, wie deren Heimatstadt zerbombt wird. Eine Situation, die mich fassungslos macht – und mich zugleich verwundert, als ich in die Gesichter meiner Gastgeber blicke…
Ich befinde mich in Altreichenau vor einem unauffälligen Haus, in dem die syrische Flüchtlingsfamilie Al-Khalil wohnt. Ich drücke den Klingelknopf, trete nach dem „Die-Tür-wird-geöffnet“-Summen ein und folge den Stimmen in den ersten Stock. Freundliche, halbdeutsche Sätze prasseln sogleich auf mich nieder – und ehe ich mich versehe, sitze ich im Wohnzimmer in einem bequemen Couchsessel und werde mit Makluba (Reis mit Hühnchen und Aubergine) versorgt. Das Zimmer ist sehr schlicht eingerichtet, die Möbel sind schon etwas älter. Ein weißer Fliesentisch steht in der Mitte des Raumes, daneben befindet sich ein Sofa und zwei Sessel, die alle das gleiche orange-lilane Muster ziert. An der Wand gegenüber ist ein weißes Regal mit einem kleinen Flachbildfernseher zu sehen. Die Wohnung hat einen gewissen Charme, auch wenn sie nur das Nötigste enthält. Eine rotgemusterte Shisha ist der erste Gegenstand, der dem Raum einen Hauch von Individualität verschafft.
„Viele sind an eine Tag nett zu mir, an andere Tag nicht“
Dazu kommen noch die Menschen, die hier leben. Ich fühle mich in ihrer Gegenwart schnell wohl. Während Sana sich über den weißen Fliesentisch bückt, um Makluba auf Teller zu verteilen, fällt ihr eine gelockte Haarsträhne ins Gesicht. Sie streicht sie zur Seite und nimmt neben mir in einem Couchsessel Platz. Eine hübsche Frau mit rundem Gesicht und bezaubernden Lachfältchen. Die ehemalige Frisörin ist 47 Jahre alt, wirkt aber jünger.
Sanas Mann Ahmad, der auf dem Sofa sitzt, nimmt sich einen Teller mit Essen und beginnt dann zu erzählen: „25 Jahre hab ich in Syrien als Journalist, Autor und Theaterkritiker gearbeitet. Schreiben war meine Beruf. Jetzt ich habe keine Beruf. Für Journalist muss Deutsch Muttersprache sein.“ Ahmad ist 50 Jahre alt und wäre heute, wie er sagt, mit jedem Job glücklich, den er bekommen kann. Er ist schlicht gekleidet. Blauer Pulli, khakifarbene Hose, nichts Auffälliges. Seine Gesichtszüge sind freundlich, sein Blick ist neugierig und sein Lächeln echt – er freut sich, mich als Gast zu haben.
Genauso wie sein 16-jähriger Sohn Yazan, der sich neben seinem Vater niedergelassen hat und wissen will, wie man in Deutschland Schauspieler werden kann. Das ist sein Ziel. Deshalb versucht er in der Schule sein Bestes zu geben – der Alltag dort ist jedoch von Schwierigkeiten geprägt. „Freunde habe ich wenig, viele sind an eine Tag nett zu mir, an andere Tag nicht. Ich verstehe das oft nicht, da ich nichts Schlechtes mache. Einmal haben Schüler sogar Schuhe auf mich geworfen.“ Yazan besucht die neunte Klasse der Mittelschule in Jandelsbrunn, unterkriegen lassen will er sich nicht. Er wirkt sehr nachdenklich. Jedoch wie einer, der weiß was er vom Leben will.
„Für Eltern ohne Beruf ist schwer deutsche Freunde zu finden“
Gegen fünf Uhr kommt seine Schwester Ghazal von der Nachmittagsbetreuung des Waldkirchener Gymnasiums nach Hause. Hier besucht die Zwölfjährige die fünfte Klasse. Im Gegensatz zu ihrem Bruder gibt sie sich sehr fröhlich und ausgelassen. Ihr fluffiger, brauner Haarknoten und das lila Oberteil unterstreichen ihre quirlige Persönlichkeit. Kaum, dass sie sich vorgestellt hat, beginnt sie auch schon loszuquatschen: „In Deutsch habe ich mal eine Fünf im Aufsatz bekommen, im nächsten dann eine Drei. Aber in Kunst bin ich viel besser, da hab ich schon mal das Bild des Monats gezeichnet.“ Sie spricht beinahe fließend Deutsch – ihrem älteren Bruder fällt dies merklich schwerer, ganz zu schweigen von ihren Eltern. „In der Schule muss ich ja Deutsch reden“, stellt sie mit einem Schulterzucken fest, als ob es nichts Einfacheres als jenen Sprachen-Switch geben würde.
Ghazal scheint es leicht zu fallen, auf Menschen zuzugehen. Ahmad sieht das genauso – und fügt hinzu: „Für Eltern ohne Beruf ist schwer hier deutsche Freunde zu finden. Hier in Deutschland sind Leute nett, reden aber nicht lange, weil sie viel Arbeit haben. In Syrien lädt man auch Fremde oft zu Essen ein und man trifft sich viel mit Andere. Ich habe Deutschkurs, aber kann es nicht benutzen. Für Integration ist es gut, wenn du Sprache mit Arbeit kombinierst, sonst vergisst du schnell.“
Plötzlich fordert Sana uns auf, still zu sein – sie wolle die 6-Uhr-Nachrichten sehen. Yazan schaltet den Fernseher ein. Auf dem Bildschirm erscheint eine mir unbekannte Nachrichtensendung, gesprochen wird auf Arabisch. Als das Bild wechselt und eine sandfarbene, recht schmucklose Stadt gezeigt wird, sagt Ghazal: „Das ist Damaskus.“ Ihre ursprüngliche Heimat also. Immer wieder sieht man Männer mit Gewehren – schießend, schreiend. Explodierende Granaten im Hintergrund. Im Raum ist nur die monotone Stimme des Moderators zu hören. Ich fühle mich zunehmend unbehaglicher. Vor allem weil ich nicht weiß, wie ich angesichts der Szenen auf dem Bildschirm reagieren soll. Eine Stadt im Krieg, die ich nicht kenne. Ein Krieg, den ich nicht nachvollziehen kann. Und eine Familie, die genau von diesem Ort geflüchtet ist. Ich weiß nicht wie traumatisiert sie sind, ob sie darüber sprechen wollen – oder lieber schweigen.
Ghazal unterbricht meine Gedanken: „Das ist unser Teil der Stadt, hier haben wir mal gewohnt. Da ist auch Mamas Frisörsalon. Er ist jetzt wahrscheinlich kaputt.“ Vorsichtig wende ich den Blick vom Bildschirm ab. Erst jetzt fällt mir auf, dass die Familie nicht sonderlich unruhig wirkt. Nicht so wie ich. Für sie ist dieser Anblick offenbar Alltag. Sie haben diese Szenen vermutlich selbst oft genug in Damaskus miterlebt.
„Man kennt das Geräusch, wenn Bomben fallen. Pfffiiiiiuuuu“
Die Nachrichten dauern höchstens drei Minuten – mir kommt es vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen. Ich kann mir nicht helfen, ich muss einfach fragen, was sie sich bei diesem Anblick denken. „Der Krieg ist furchtbar. Aber diese Dinge sind normal da“, höre ich von Yazan. Und Ghazal fügt hinzu: „In Damaskus haben uns unsere Eltern oft nicht mit Freunden treffen lassen. Man hat immer Angst. Neben Mama ist mal eine Bombe gelandet. Neben ihrem Fuß. Ist aber nicht explodiert.“ – „Man kennt das Geräusch, wenn Bomben fallen. Pfffiiiiiuuuu. Da rennst du in Haus. In Garten landen oft Bomben, zum Beispiel bei unsere Nachbarn.“ Das sagt Yazan so ruhig, dass er mich damit endgültig aus der Bahn wirft. Der Rest seiner Familie wirkt immer noch so gelassen wie zuvor. Sie erzählen mir diese Geschichten, so wie andere über ihren Einkauf vom Vortag reden.
Szenen eines grausamen Krieges, der bereits unzählige Menschenleben kostete:
https://www.youtube.com/watch?v=g_I6mripDlA
Ich bin dankbar, als wir auf „leichter verdauliche“ Themen umschwenken. Familie Khalil berichtet, dass sie seit Juli 2015 in Deutschland ist. Sie reisten mit dem Flugzeug von Beirut, der Hauptstadt Libanons, nach Berlin. „Zwei Tage sind wir in Berlin bei eine Freund gewesen und dann mit Bus nach Nürnberg gefahren. Die Heimleiterin dort schickte uns weiter nach Haidmühle“, erinnert sich Ahmad. Die Familie gehört zu insgesamt 913 Flüchtlingen, die derzeit im Landkreis Freyung-Grafenau untergebracht sind. Da die Al-Khalils ihren Bescheid schon vor der Einreise erhielten, konnten sie in Deutschland schnell an ihren „Bestimmungsort“ verwiesen werden.
Schwierig: Einen Vermieter zu finden, der Flüchtlinge aufnimmt
In Haidmühle besuchte die Familie dann einen Deutschkurs. „Der Lehrer ist unser Vermieter. Ich hole ihn kurz rauf, er wohnt in Wohnung unter uns“, meint Ahmad. Keine Minute später steht ein großgewachsener, älterer Herr im Zimmer. Er hat graues Haar und trägt eine zitronengelbe Lacoste-Weste. Mit großen Schritten geht er auf mich zu. Ich stehe auf und wir begrüßen uns – sein Händedruck ist fest und selbstsicher. „Ich bin der Berthold Barth – kurz auch Berthi genannt“, stellt er sich mit tiefer Stimme vor. Ich finde heraus, dass er viele Jahre in arabischsprachigen Ländern gearbeitet hat und somit die Sprache relativ gut beherrscht. „Als ich wieder nach Deutschland zurückkam, begann ich in Haidmühle ehrenamtlich Sprachkurse für Flüchtlinge zu geben. Das war vor etwa drei Jahren. Genau am 7. Juli 2015 kam dann Familie Al-Khalil hier an. Es sind nette Leute und wir wurden bald Freunde. Sie haben sich damals noch ein einziges Schlafzimmer geteilt“, erinnert sich Berthold Barth.
Innerhalb Bayerns dürfen die Al-Khalils zwar überall wohnen – einen Vermieter zu finden, der Flüchtlinge aufnimmt, ist jedoch nicht so ganz einfach. Zusätzlich gibt es Vorgaben – etwa, wie groß eine Wohnung sein und wie viel sie kosten darf. Deswegen ist passender Wohnraum kaum verfügbar. „Nach einem halben Jahr bot ich ihnen an, zu mir nach Altreichenau zu ziehen. Ich hatte eine Wohnung in meinem Haus frei – hier haben die Kinder sogar ihre eigenen Schlafzimmer“, fügt Barth zufrieden hinzu.
Es geht also wieder etwas bergauf im Leben von Familie Khalil. Während die Kinder versuchen, die Schule zu meistern, geben sich deren Eltern weiterhin Mühe, die Sprache zu erlernen und Arbeit zu finden. Sie halten fest zusammen, denn eines ist klar: Hier in Deutschland haben sie eine Chance auf ein besseres Leben – und die wollen sie nutzen.
Michele Bauer