Am 19. Dezember 2016 rast Anis Amri mit einem Lkw in einen Weihnachtsmarkt in Berlin. Zwölf Menschen kommen zu Tode. Deutschland und Europa stehen unter Schock. Von „Weihnachtsstimmung“ kann in diesen dunklen Tagen nicht die Rede sein. Tausende Menschen trauern und gedenken der Opfer. Nun hat der islamistische Terror auch „das Herz“ Deutschlands erreicht – mit all seiner Wucht, seiner Abscheulichkeit und Grausamkeit. Legosteinartige Betonklötze sollen die Weihnachtsmärkte in den darauffolgenden Tagen vor einer weiteren Katastrophe bewahren. „Kann man so etwas überhaupt verhindern?“ fragt sich in den darauffolgenden Tagen nicht nur ganz Deutschland. Nach den Attacken in Nizza, Brüssel, Paris oder unlängst in London stellt sich diese Frage mittlerweile ganz Europa – in anderen Teilen der Erde steht sie schon seit langem auf der Tagesordnung.
Nein, heißt es da zum einen: Terror kann immer und überall zuschlagen, kann alles und jeden treffen. Schließlich heißt es Terror und nicht Gewaltexzess mit termingerechter Ankündigung. Ja, so etwas kann man verhindern, heißt es da zum andern: Mehr Sicherheit in Form von mehr Überwachung, Fußfesseln, Präventivhaft für Personen, die zwar keine Straftat begangen haben, dies aber in naher Zukunft tun könnten. Die Wahrheit liegt wohl – wie so oft – irgendwo in der Mitte. Terror lässt sich seinem Wesen nach niemals komplett ausschalten. Machen wir uns nichts vor, es reicht ein wenig Fingerfertigkeit und der Weg in den Baumarkt um das Leben vieler, vieler Menschen zu gefährden oder gar auszulöschen. Trotzdem soll und muss es die Aufgabe eines Staates sein, die Gefahr, die von einer solchen Bedrohung ausgeht, soweit es geht einzudämmen. Die Gretchenfrage ist wie so oft jene nach dem Wie?
Der Spagat zwischen Freiheit und Sicherheit
Die Freiheit des Einen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Um ein geordnetes Zusammenleben in einer Gesellschaft zu gewährleisten, muss also irgendwie der Spagat zwischen individueller Freiheit und individueller Sicherheit gelingen. Dass dieser Spagat in Zeiten einer terroristischen Bedrohung nicht immer besonders elegant aussieht, vielleicht eher einer Verrenkung gleichkommt, mag sein. Niemals jedoch darf die individuelle Freiheit zugunsten der Sicherheit geopfert werden. In der Europäischen Union sind wir allerdings gerade dabei, genau das zu tun…
Die seit Beginn der Aufklärung mühsam erkämpften Rechte und Freiheiten bröckeln derzeit nur so dahin – eine Errungenschaft nach der anderen stoßen wir über die Klippe. Gerechtfertigt wird das Vorgehen unter dem Vorwand der Sicherheit, unter dem Vorwand der Bedrohung von außen. Ganz egal, was dies im konkreten Fall bedeuten mag: Immer dann, wenn ein Absolutes, ein unhinterfragbares Element Einzug in einen demokratischen Diskurs findet, sollten die Alarmglocken klingeln.
Gott ist konvertiert und sein Prophet heißt Sicherheit
Dabei erfreut sich dieses Spielchen einer langen Tradition. Die von Gott gewollte Ordnung war es, welche es den Feudalherren im Mittelalter erlaubte, ihre Herrschaft unangefochten walten zu lassen. Gott allein hatte zu entscheiden, ob du nach deinem Ableben im Himmel landest oder auf immer und ewig im Fegefeuer schmorst. Gehorsam Buckeln löste das Ticket ins Himmelreich. Aufbegehren, dich widersetzen – und du wirst schwitzen. Als Leibeigener, als Knecht warst du somit nicht nur zum bloßen Besitztum geworden, wurdest nicht nur zum bloßen Sklavendasein degradiert – nein, du musstest diesen Status auch noch wollen. Denn Gott wollte es auch.
Und was von Gott gewollt war, war auch nicht dafür gemacht, es in irgendeiner Art und Weise in Frage zu stellen. Etwas an dieser Hierarchie zu ändern, stand deshalb nicht zur Debatte; die einen oben sitzend und nach unten tretend, die anderen auf ewig buckelnd – und das sollte auch so bleiben. Dass sich diese Hierarchie so in den biblischen Schriften nicht wiederfand, war ebenso wenig Thema der Debatte. Diese Logik eignete sich hervorragend zur Durchsetzung des angeblichen Herrschaftsanspruches der Feudalherren. Kein Wunder, dass man zu dieser Zeit nur äußerst wenig Interesse daran zeigte, biblische Texte zu übersetzen und der breiten Masse zugänglich zu machen.
Nun haben wird das Mittelalter doch schon eine Weile hinter uns gelassen – viel hat sich getan, viel sich verändert, das Prinzip dahinter jedoch bleibt das Selbe. Mit einer kleinen technischen Änderung: Der Gott von damals ist konvertiert, man hat ihn ersetzt durch einen säkularen Gott, den Terror. Sein Prophet ist die Sicherheit.
Die Suche nach der (Terrorismus-)Nadel im (Daten-)Heuhaufen
Schauen wir uns an, was in Folge eines jeden Anschlages die Antwort war: Jedes Mal aufs Neue folgte reflexartig eine Ausweitung der Datensicherung, eine strengere Handhabung im Umgang mit Gefährdern, eine Intensivierung staatlicher Überwachung – und immer auch eine Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte. Der Trugschluss, dem man dabei folgt, ist, dass es die private Kommunikation sei, welche eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle – dass wir demnach alle grundsätzlich in Verdacht stehen. Dabei ist es bezeichnend, dass es in keinem der Fälle an einer mangelnden oder gar fehlenden Überwachung scheiterte. Jeder der Attentäter, egal ob in Brüssel, Paris, Nizza, Berlin oder London, war bekannt, registriert und erfasst. Was wir brauchen, ist nicht ein Mehr an Überwachung, nicht ein Mehr an Sicherheit, sondern ein Mehr an Qualität – vor allem in Form von Personal und in Form von europäischer Zusammenarbeit.
Zum einen werden Überwachungskameras, Vorratsdatenspeicherung und dergleichen seit Jahren sukzessive ausgebaut – zur gleichen Zeit steht immer weniger Personal zur Verfügung, um das angehäufte Material auch zu bearbeiten. Um eine einzige Person rund um die Uhr lückenlos zu überwachen, braucht es rund 25 bis 40 Beamte und Beamtinnen. Alle relevanten Personen eines Landes wirklich in dieser Form zu observieren ist also de facto unmöglich. Am Ende stehen wir vor der Suche nach der (Terrorismus-)Nadel im (Daten-)Heuhaufen.
Vollkommene Sicherheit gibt es nicht
Zum anderen bleibt die Sicherheit des jeweiligen EU-Mitgliedslandes immer eine nationale Angelegenheit. Zu einem Vorantreiben der transeuropäischen Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit konnte man sich bis heute noch nicht wirklich durchringen. Dass Anis Amri nach seiner Tat über Amsterdam, Brüssel und Lyon über vier Landesgrenzen hinweg quer durch die Union reisen konnte, spricht Bände.
Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass es so etwas wie absolute Sicherheit nicht gibt – und auch nicht geben wird. Nur mal angenommen, man entschließe sich dazu, jeden Bürger rund um die Uhr lückenlos zu überwachen: abgesehen davon, dass dies schon rein logistisch und personaltechnisch unmöglich ist – ließe sich dadurch der Terror ein für alle Mal auslöschen? Im optimistischsten Szenario: möglicherweise. Ganz sicher jedoch tragen wir mit diesem Schritt jegliche Persönlichkeits- und Freiheitsrechte mitsamt unserem Rechtsstaat zu Grabe. Als antidemokratisch, antiliberal und wider jeglicher westlichen Werte geißelt man die Drahtzieher und die Vollstrecker eines jeden Terrorakts – und doch lautet die Antwort der Europäischen Union an die Feinde der Demokratie: Weniger Freiheit und weniger Demokratie. Das kann nicht gut gehen.
Johannes Greß
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Jubel, Trubel, Eitelkeit: Die EU-Kolumne von Johannes Greß
„Offene Grenzen, krumme Gurken, Wohlstand für Alle: Wohin, und wenn ja, wie viele?“ Hog’n-Mitarbeiter Johannes Greß wirft einmal im Monat einen Blick nach Brüssel, analysiert das Geschehen aus EU-Perspektive und gibt seine eigene Sicht auf den Lauf der Dinge wieder. (Dieser Artikel erschien in leicht veränderten Form auch auf www.2seitig.at)