Grafenau. Ende des 19. Jahrhunderts kam es im Bayerischen Wald zu einem Ereignis, das aus vielerlei Gründen über die Grenzen des Woids hinaus auf großes Interesse gestoßen ist. Seinen Anfang nahm es in einer Meldung des Grafenauer Anzeigers vom Samstag, den 18. April 1896. Was war geschehen? Einen Tag zuvor musste der Notariats-Verweser in Grafenau, ein gewisser Herr Bott, für eine Bestätigung zu einem Vorgang Notizen verfasst haben, die in etwa so gelautet haben könnten:
Die Papierfabrikanten Arthur und Kurt Menzel machen sich mit mir auf den Weg zum nur wenige Kilometer südwestlich vor der Stadt gelegenen Staatswald am Frauenberg. Um 7.35 Uhr wird dort damit begonnen, Bäume zu fällen. Diese transportiert man auf kürzestem Wege in die nahegelegene Papierfabrik Elsenthal. Dort werden die frisch gerodeten Stämme in Stücke geschnitten, entrindet und gespalten. Im sogenannten ‚Holländer‘, einer zur Papiererzeugung eingesetzten Maschine, werden nun dem aus der Schleiferei kommenden Holzstaub weitere Zusätze beigemengt. Die so erzeugte flüssige Masse gelangt in eisernen Bottichen zur Papiermaschine.
Um 9.34 Uhr – nach einer Gesamtdauer von weniger als zwei Stunden – sind aus den gefällten Bäumen in der Fabrik die ersten bedruckbaren Papierbögen entstanden. Auf schnellstem Wege werden diese sofort mit der Chaise ins nahegelegene Grafenau überbracht. Der Empfänger dort: der Zeitungsverleger Carl Morsak. Morsak händigt mir um 10 Uhr ein Exemplar des Grafenauer Anzeigers vom 18. April 1896 mit der Nummer 32 aus.
Der ganze Prozess – vom ersten Axthieb am auf der Wurzel stehenden Baum bis zur verkaufsfertig bedruckten Zeitung – dauert mit 145 Minuten insgesamt weniger, als zweieinhalb Stunden.
Über genau diesen Vorgang wurde am 30. Mai 1896 erneut berichtet. Doch nun waren es die Leser im fernen Baltimore, Maryland (USA), die darüber sechs Wochen nach dem Erscheinen im Grafenauer Anzeiger aus einer deutschsprachigen Zeitung erfuhren. Der Name dieser Zeitung: Der Deutsche Correspondent.
In der „Neuen Welt“ waren Zeitungen bereits im 19. Jahrhundert ein Massenmedium mit Breitenwirkung. Einen recht umfangreichen Teil dieser Zeitungen stellt die Kongressbibliothek der Vereinigten Staaten von Amerika in seinen Archiven interessierten Lesern in aller Welt zur Verfügung. Mit jener Library of Congress wird heute der Zugang zum größten Medienbestand weltweit gewährt.
Deutschen Einwanderern schlug wachsendes Misstrauen entgegen
Für einige Jahrzehnte und in mehreren Wellen bildeten Deutsche die größte nicht-englischsprachige Einwanderergruppe in den USA. Millionen machten sich in dieser Zeitspanne auf den Weg in die „Neue Welt“. Die deutlichsten Spitzen dieser Einwanderungswellen fielen in die Jahre zwischen 1830 und 1932. Doch der Amerikanische Bürgerkrieg und der wirtschaftliche Aufschwung durch die Reichsgründung in Deutschland markierten rückläufige Tendenzen bei den deutschen Auswanderungsströmen. Es kann jedoch kaum überraschen, dass ausgerechnet von dieser und für diese Gruppe die ersten nicht-englischsprachigen Zeitungen in den USA gedruckt worden sind.
Der Deutsche Correspondent beispielsweise erschien erstmals 1841 und wurde bis April 1918 aufgelegt. Sein Herausgeber war der aus Preußen stammende Friedrich (Frederick) Raine. Seine Zeitung erreichte mit mehr als 15.000 Ausgaben täglich in den Achtziger- und Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts die höchsten Auflagewerte in der Geschichte ihres Bestehens. Doch die veränderte Haltung in den USA während und nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber Deutschland hatte auch für die Entwicklung der deutschsprachigen Presse im Land große Bedeutung. Den von dort kommenden Einwanderern schlug wachsendes Misstrauen entgegen – ebenso ihren Zeitungen. Diese Entwicklung erklärt einen guten Teil des Niedergangs deutschsprachiger Gazetten in den USA – auch den des Deutschen Correspondenten.
„A list of Newspapers and Periodicals“
1869 begann in New York eine Herausgebergruppe um George P. Rowell ihre Arbeit an einem Verzeichnis landesweit – und in Teilen auch darüber hinaus – erscheinender Zeitungen. Die erste Ausgabe dieses American Newspaper Directory erschien im Mai desselben Jahres. Der Inhalt dieses zunächst 358-seitigen Werks war eine Auflistung aller Zeitungen und Zeitschriften, die in den Vereinigten Staaten, den dazugehörigen Territorien, einigen benachbarten Provinzen Kanadas sowie den Britischen Kolonien Nordamerikas erscheinen.
Bereits von der ersten Ausgabe an widmeten die Autoren in ihrem American Newspaper Directory jenen Zeitungen ein eigenes Kapitel, die ganz oder teilweise in nicht-englischer Sprache erschienen: „A list of Newspapers and Periodicals printed wholly or in part in the German, French, Scandinavian, Spanish, Hollandaise, Italian, Welsh an Bohemian languages.“
In der zwölften Ausgabe – sie erschien im Jahr 1880 und war nun schon auf 1.044 Seiten angewachsen – registrierten die Herausgeber des American Newspaper Directory bereits 453 Zeitungen, die entweder ganz oder wenigstens teilweise in deutscher Sprache erschienen. Das erste der beiden Diagramme (zum Vergrößeren: klicken) zeigt die Anzahl jener Zeitungen, zusammengefasst nach den erhobenen Regionen (Bundesstaaten, Territorien und angrenzende Provinzen im heutigen Kanada):
Große Bedeutung deutschsprachiger Zeitungen in den USA
Welche Bedeutung die deutschsprachigen Zeitungen im Vergleich zu denjenigen anderssprachiger Einwanderergruppen in den USA hatten, zeigt folgende numerische Gegenüberstellung: Allein für den Bundesstaat Pennsylvania wies die 1880er Ausgabe des American Newspaper Directory beinahe genauso viele deutschsprachige Zeitungen (66) aus, wie sie es für die zweitgrößte Zielgruppe, die der Französischsprachigen (68), in den gesamten erfassten Gebieten tat. Im starken Kontrast dazu erschien beispielsweise – und lediglich einmal wöchentlich – in Tahlequah (im heutigen Oklahoma) die einzige Zeitung in einer indigenen amerikanischen Sprache: der Cherokee Advocate im Indian Territory.
Die Zeitungen in deutscher Sprache erfreuten sich demnach zu jener Zeit recht großer Beliebtheit bei den „ins Amerika“ ausgewanderten Menschen. Das Stanford’s Center for the Study of the North American West hat die Verbreitung von Zeitungen in einem Forschungsprojekt hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung öffentlich zugänglich gemacht. Dort kann sowohl nach Erscheinungssprache als auch nach -jahr gewählt die Entwicklung von Zeitungen in Umfang und räumlicher Verbreitung anschaulich nachvollzogen werden.
Im Vergleich der beiden Quellen ergibt sich zwischen der Zahl deutschsprachiger Zeitungen für das Jahr 1880, die das American Newspaper Directory nennt, und jener der Stanford Universität die recht kleine Differenz von 17. Schon die unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven auf diese Zahlen (Rowell musste seine Zahlen aus der laufenden Betriebsamkeit der Verlage heraus erheben, die beteiligten Wissenschaftler in Stanford hingegen konnten im Nachhinein ihre Daten erheben) können zur Erklärung dieser Differenz beitragen; angesichts der recht ungleichen technischen Möglichkeiten, die zur Auswertung der jeweiligen Quellen damals wie heute zur Verfügung standen und stehen, spricht die Erhebung von 453 Zeitungen, die Rowell und seine Kollegen schon 1880 benannten, für die Qualität ihrer Arbeit im American Newspaper Directory.
Nun aber für die Leser in englischer Sprache…
Im fernen Amerika des 19. Jahrhunderts wurde nicht nur darauf geachtet, den Bedürfnissen der deutschsprachigen Leserschaft gerecht zu werden. Die „erstaunlichen Fortschritte der Papierindustrie in Deutschland“ sollten auch einer englischsprachigen Leserschaft nicht vorenthalten werden. Und so veröffentlichte am Donnerstag, 1. Juni 1896, gerade einmal zwei Tage nach Erscheinen des Berichtes im Der Deutsche Correspondent, die Omaha Daily Bee (Omaha, Nebraska) diese Geschichte der rekordverdächtigen Geschehnisse aus dem niederbayerischen Grafenau erneut. Nun aber für die Leser in englischer Sprache. Und ihr Beitrag wiederum wurde lediglich zehn Tage später wortgleich noch einmal im The Evening Star (Washington, D.C.) abgedruckt.
Doch damit nicht genug: In Deutschland fand die Meldung dieses „hübschen ‚Record‘ in der Papierfabrikation“ bei Grafenau im selben Jahr noch einmal ihren Widerhall in der im Leipziger Verlag von Ludwig Hamann 1896 erschienen Buchhändler Akademie. Diese Zeitschrift setzte sich zum Ziel, als „Organ für die Gesamtinteressen des Buchhandels und der ihm verwandten Geschäftszweige“ über „das buchhändlerische Wissen in seinem ganzen Umfange“ die „Angehörigen des deutschen Buchhandels“ ihrer Zeit zu informieren.
So also berichteten mehrere Quellen – aus zweiter Hand – über ein und dieselbe Geschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts aus dem Grafenauer Anzeiger. Leider ist nach derzeitiger Kenntnis keine Ausgabe, keine Kopie und somit auch kein Digitalisat der fraglichen Samstagsausgabe vom 18. Mai 1896 – und damit von der eingangs dargestellten Meldung eines „Grafenauer Notariats-Verwesers namens Bott“ – in den einschlägigen Zeitungsarchiven verfügbar.
Viel von diesen Beständen wurde hierzulande nicht zuletzt unter den Weltkriegseinflüssen in große Mitleidenschaft gezogen, in Teilen oder gar vollständig zerstört. Unter diesem Aspekt erscheint der Blick in die Archive deutschsprachiger Zeitungen im Ausland, zum Beispiel in die der Vereinigten Staaten von Amerika, reizvoll wie informativ zugleich. Er offenbart längst vergessen geglaubte Geschichten aus der „Alten Welt“.
Mehr oder weniger bemerkenswerte Alltäglichkeiten, Naturkatastrophen, Unfälle aber auch die Verbrechen der damaligen Zeit ließen diese Zeitungen die Auswanderer an den Geschehnissen in Europa, in der alten Heimat, teilhaben. Und eben auch an den Vorkommnissen im fernen Bayerischen Wald (auf den jeweiligen Ausschnitt klicken):
Hans Mirwald