Brüssel. Es war im November 2015, als die Spur der schrecklichen Terrorakte von Paris ins belgische Brüssel führte, wo die höchste Terrorwarnstufe die Stadt und deren Bewohner mehrere Tage, ja Wochen, in Atem hielt. Das Leben dort schien still zu stehen. Die Angst ging um im Herzen Europas. Genauso ein paar Monate später, nachdem sich am Morgen des 22. März 2016 zwei Selbstmordattentäter am Flughafen sowie in der Brüsseler Innenstadt in die Luft sprengten. Hog’n-Autorin Angelika Hild, die in der belgischen Hauptstadt lebt und arbeitet, zeichnet, ein halbes Jahr nach den März-Anschlägen, mittels einer (neuerlich) sehr persönlichen und deshalb umso interessanteren Momentaufnahme ein aktuelles Bild von der gegenwärtige Lagen der Stadt. Sie sagt: „Was die Menschen fühlen, bleibt verborgen.“

Warnen? Bist du verrückt? Wovor denn?

Vor zwei Wochen fuhr ich mit dem Zug nach Hause, nach Brüssel. Kurz vor Frankfurt setzte sich ein junger Mann neben mich, der, wie man so sagt, südländisch aussah. Der zudem ausgesucht höflich war und perfekt Deutsch sprach. Nach zwei Minuten klingelte sein Handy und er sprach leise auf Arabisch. Dann ließ er seine Jacke liegen, nahm seinen Rucksack und ging, nach wie vor telefonierend, ins Zwischenabteil.

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Höchste Terrorwarnstufe im November 2015: Soldaten gehören seitdem zum Brüsseler Stadtbild.

In diesem Augenblick packte mich die Angst. „Was macht der da? Spricht der sich mit jemandem ab? Bekommt er Anweisungen? Holt er gleich ein Messer raus?“ In meinem Gehirn brach sich eine Lawine Bahn – und ich? Ich blickte um mich, stand auf, ging auf die Toilette. Dort wartete ich einige Minuten, in die Enge getrieben von Assoziationen, Gedankenfetzen, die mein Kopf in mir auftürmte. Wenn er eine Schusswaffe hat, dann nützt es dir auch nichts, wenn du dich im Klo verbarrikadierst. Warum hast du nicht das Flugzeug genommen? Da wird wenigstens kontrolliert. Du Feigling, versteckst dich hier. Du hättest wenigstens jemanden warnen können. Warnen? Bist du verrückt? Wovor denn? Einem telefonierenden Menschen?

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Zwei Wochen später erzählte ich einer Brüsseler Freundin von der Situation – und die bestärkte mich darin, richtig gehandelt zu haben. O-Ton: „Wenn du ein ungutes Gefühl hast, ist es besser, du bringst dich in Sicherheit. Man hat uns eingebläut: Tot nützt ihr niemandem was.“ Besagte Freundin hat vor einigen Monaten mit der gesamten Firma ein Training für das Verhalten in Terrorsituationen absolviert. Sowas macht man anscheinend heutzutage.

„Und all das für ein paar Jungfrauen?“

Ein halbes Jahr nach den Brüsseler Anschlägen, nach weiteren Terrorakten in Deutschland und Frankreich hat sich viel verändert: In der „Grande Nation“ versucht man Frauen zwangszuentkleiden – und verkauft dies als Feminismus; in Deutschland scheint die AfD zu einem Siegeszug aufgebrochen zu sein. Und in Belgien?

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Die Blumen vor der Börse, die zum zentralen Trauerort nach den März-Anschlägen wurde, sind längst verschwunden…

Soldaten gehören inzwischen zum Brüsseler Straßenbild. Man bemerkt sie noch, aber man macht sich keine Gedanken mehr darüber. Die Blumen vor der Börse, die zum zentralen Trauerort wurde, sind längst verschwunden – die Nachrichten jedoch, die viele Trauernde zwischen den Blumen hinterließen, werden in die Neugestaltung der Fußgängerzone einbezogen werden. Und auch die hunderten, mit Kreide geschriebenen Botschaften am Börsengebäude selbst werden bleiben. Botschaften in vielen verschiedenen Sprachen, Botschaften wie „Fear heals nothing“ („Angst heilt gar nichts“), „La vie est belge“ („Das Leben ist belgisch“, in Anlehnung an „La vie est belle“ – „Das Leben ist schön“), „Polacy jednocza się“ („Polen ist mit euch“), oder – typisch belgischer Humor –„Et tout ça pour des vierges?“ („Und all das für ein paar Jungfrauen?“)

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… die Nachrichten, die viele Trauernde hinterließen, sind noch da – „la vie est belge“.

Der Terror hatte (leider) auch handfeste wirtschaftliche Folgen: So haben die Brüsseler Restaurants Umsatzverluste von mindestens 25 Prozent hinnehmen müssen. Die Umsätze im Tourismus insgesamt sind um 30 Prozent zurückgegangen – sehr viel mehr, als das bei den Anschlägen in Madrid, London oder Paris der Fall war. Ein Grund hierfür dürfte sein, dass einige der Brüsseler und Pariser Attentäter aus Brüssel selbst stammen, was potentielle Besucher zusätzlich verunsichert.

Touren durch das verschriene Molenbeek

Die kleine Organisation „Brukselbinnenstebuiten“ (was soviel wie „Brüssel mit der Innenseite nach außen“ heißt) versucht hier gegenzusteuern und bietet Touren durch das verschriene Molenbeek an, um dem Image als Terroristennest etwas entgegenzusetzen und ein „anderes, realistischeres Molenbeek“ zu zeigen. Ob das genug sein kann? Ob Akzeptanz, friedliches Zusammenleben in dieser Situation überhaupt noch möglich sind?

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Die öffentlichen Verkehrsmittel sind voll wie immer, die Menschen besuchen Flohmärkte und Feste, wie hier auf dem Volksfest von Saint-Gilles.

Denn viele, die jetzt Befürchtungen haben, sind Muslime: Es gibt keine offiziellen Zahlen zu einem eventuellen Anstieg von Gewalttaten gegenüber Muslimen in Belgien, aber Musliminnen, die Kopftuch tragen (und daher unmittelbar als solche zu erkennen sind), berichten von regelmäßigen Anfeindungen und einem Klima der Angst. Kürzlich gab es sogar einen handfesten Skandal, als Schülerinnen mit Kopftuch daran gehindert werden sollten, eine Prüfung zu schreiben – schlussendlich ließ sie die Schule aber doch ins Gebäude.

Wer wie ich das Glück hat, von solchen Diskriminierungen unbehelligt zu bleiben und das alltägliche Leben in Brüssel lebt, wird zu der Zeit vor den Attentaten kaum Unterschiede erkennen können: Die öffentlichen Verkehrsmittel sind voll wie immer, die Menschen besuchen Flohmärkte und Feste – und die ewige Feindschaft zwischen Flamen und Wallonen setzt sich selbst bei der gerichtlichen Untersuchung der Anschläge fort: Die wird nämlich derzeit ausschließlich auf Französisch geführt, was vonseiten der Flamen nicht akzeptiert wird: Die flämischen Sozialdemokraten bereiten gerade einen Gesetzesvorschlag vor, der solchen Fällen künftig vorbeugen soll.

Was die Menschen fühlen, bleibt verborgen

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„Angst heilt gar nichts“

Ist also alles irgendwie doch in Ordnung? Mitnichten. Denn anders als „Brukselbinnenstebuiten“ verspricht, trägt Brüssel die Innenseite ja gerade nicht nach außen. Was die Menschen fühlen, bleibt verborgen: Empörung, Angst, Wut, und – da bin ich mir sicher – Anfälle von Paranoia, wie ich sie hatte. Gefühle aber sind es, die Terroristen erzeugen wollen. Anschläge sind dabei nur Mittel zum Zweck. Gefühle sind trügerisch, das werden die Brüsseler, die Belgier und im Grunde alle Europäer hoffentlich lernen.

Der höfliche junge Mann im Zug stieg übrigens in Frankfurt aus. Im Nachhinein schien mir sein leises Telefonieren und der folgende Wechsel ins Zwischenabteil plötzlich völlig plausibel: Ich saß in der Ruhezone.

Text und Fotos: Angelika Hild

Angelika Hild (28), ehemalige Passauer Studentin, lebt und arbeitet seit vier Jahren in Brüssel – anfangs im inzwischen traurige Berühmtheit erlangten Stadtteil Molenbeek, dessen Betitelung als „Islamistenhochburg“ sie nicht mehr hören kann. Sie hat die Stadt und ihre Bewohner schnell ins Herz geschlossen und möchte noch lange bleiben – „vielleicht für immer“.

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