Wien. Irgendwie läuft’s nicht so ganz. Wir schaffen das. Oder vielleicht doch nicht. Wer weiß das schon. Die Europäische Union ist „derzeit nicht in Topform“, gewiss, vielleicht sogar in einer „existenziellen Krise“. Wer weiß das schon. In schier endlosen Krisengipfeln, Sondertreffen und außerordentlichen Meetings wird im Wochenrhythmus die Lage der Welt analysiert und diskutiert. Das Ergebnis: Eher unterdurchschnittlich, nicht so toll, mit Potenzial nach oben, schön verpackt in einen Schwall an diplomatischem Gedöns. Lösungen? Nicht heute. Aber beim nächsten Gipfel. Oder beim übernächsten? Wer weiß das schon. Warum und weshalb da diskutiert wird, erschließt sich Keinem mehr so wirklich. Ist es die Wirtschaft, die nicht so funktionieren will? Sind es Flüchtlinge, die unserem Kontinent derzeit so zusetzen? Was wollen eigentlich die Briten? War das mit der Union vielleicht doch keine so brillante Idee? Was bleibt, ist ein Gefühl, ein Unwohlsein, Unbehagen, manche sprechen von Angst, beschreiben kann’s keiner so genau. Fest steht: Irgendwie läuft’s nicht so ganz rund.
Es ist Samstagnachmittag, Wiener Karlsplatz. Wie auch in vielen großen Städten Deutschlands kommen hier viele Tausend Menschen zusammen, um gegen die Freihandelsabkommen CETA, TISA und TTIP zu demonstrieren. Allen voran natürlich die Gewerkschaften, gefolgt von Umweltschutzorganisationen, Landwirten, dem katholischen Frauenschutzbund, Globalisierungsgegnern, sozialistischen und kommunistischen Jugendverbänden, Künstlervereinigungen – quer über Parteigrenzen hinweg will man ein Zeichen gegen die ausufernde Konzernmacht setzen. Bunte Schilder, Luftballons – eine Sambatruppe sorgt mit rhythmischen Beats für die nötige Stimmung. „Ganz schön cool diese Trommeltruppe, oder“, spricht mich eine zirka 40-Jährige Frau im Demozug an. Ich kenne die Dame bis dato nicht, sie soll in Folgendem „Sonja“ heißen.
„Ich war auch schon bei einigen rechten Demos dabei“
Es folgt ein lockeres Gespräch über dies und das, über TTIP, über die unterschiedlichen Stimmungsbilder in verschiedenen Demonstrationszügen. Sonja macht einen netten, sympathischen Eindruck. Sie sei lange Jahre Kindergärtnerin gewesen, habe irgendwann einen Burnout erlitten, der Stress war zu viel. Glücklicherweise habe sie nun einen Job als Altenpflegerin gefunden – zwar schlecht bezahlt, wie das bei den Sozialberufen eben so ist, bemerkt sie ein wenig verbittert. Aber es mache ihr Spaß. „Du musst wissen, ich war auch schon bei einigen rechten Demos dabei“, erlangt Sonja meine Aufmerksamkeit zurück. „Ich rechne mich ja ungern einer Gruppierung zu, aber ich stehe der Identitären Bewegung sehr nahe“, fährt sie fort. Ich schlucke kurz, stelle mich innerlich bereits auf eine langwierige Diskussion ein – und rufe mir sogleich ins Gedächtnis, ruhig und freundlich zu bleiben.
Ich erkundige mich nach den Gründen, möchte wissen, was eine Frau dazu bewegt, sich einer extrem rechten und offen rassistischen Bewegung anzuschließen. Einer „völkischen“ Gruppierung, deren Hauptforderung „ethnopluralistische Vielfalt“ statt „kultureller Einheitsbrei“ lautet. Eine Gruppierung, welche insbesondere den Islam und den Zuzug aus muslimischen Ländern nach Europa als „Gefahr“ sieht und auch als solche präsentiert. Auch Sonja wird mir in den folgenden zwei Stunden immer wieder von dieser Angst erzählen. Seit der Flüchtlingskrise fühle sie sich unsicher. „Warum?“ Die Kriminalität sei seither gestiegen, sie fürchte sich vor Vergewaltigungen, habe Angst vor Einbrüchen. Es seien ja auch überwiegend junge Männer, die ins Land kämen.
„Endlich zeigen, was wirklich ist“
„Die Kriminalität ist seit Beginn der Flüchtlingskrise nicht gestiegen, in manchen Bereichen sogar gesunken“, entgegne ich. Außerdem seien es nicht nur junge Männer. All diese Argumente scheint sie zu kennen, sie zeigt sich von ihnen unbeeindruckt. Woher ich denn diese Zahlen und Informationen hätte, erkundigt sich Sonja misstrauisch. Das Vertrauen in traditionelle Medien habe sie schon lange verloren, sie habe ihre „eigenen Quellen“, welche „eine ganz andere Wahrheit“ zeigen würden. Wenn wir weiterhin zu viele Muslime ins Land lassen, würden diese irgendwann die Macht im Land übernehmen, sagt sie. Deutschland sei ohnehin nur ein Vasallenstaat der USA. In Australien beginne man bereits nächstes Jahr damit, Chips in Menschen zu implantieren. All das würden traditionelle Medien verschweigen – sie habe sich der Identitären Bewegung angeschlossen, weil die endlich zeigen, „was wirklich ist“, sagt sie.
Mit Daten und Fakten ist gegen Sonja nicht anzukommen. Und im Kern hat sie ja recht. Auch ich sorge mich um eine steigende Zahl an Flüchtlingen im Land – wenn auch aus anderen Gründen als sie. Dass sich Deutschland nur allzu oft um das Gutdünken der Nordamerikaner sorgt, ist auch mir ein Dorn im Auge. Ebenso bin ich besorgt über die immer umfangreichere Überwachung eines jeden Bürgers. Und ja: Traditionelle Medien haben in den letzten Jahren genügend Gründe geliefert, um sich von ihnen abzuwenden.
Auf der Suche nach Ordnung in einer Welt ohne Orientierungshilfe
Sonja exemplifiziert bis ins letzte Detail, wie sich die Linke derzeit selbst auf den Füßen steht, warum die Rechte so aufblüht – und warum alles, was dazwischen ist, versucht, auch was vom Kuchen abzubekommen. Irgendwie läuft’s nicht so ganz. Mitten im Leben stehend, einem fordernden Job mit mäßiger sozialer Anerkennung und noch schlechterer Bezahlung nachgehend, häufen sich die Fragen, während Antworten immer komplexer und undurchsichtiger erscheinen – sofern sie denn überhaupt existieren. Eine Welt im Durcheinander, wo diejenigen, die bisher zumindest vorgaben, zu wissen was sie tun, ratlos erscheinen. Eine Welt, in der sich die Wirtschaft schon längst der Kontrolle der Politik entrissen hat – eine Politik, die sich schon längst von Leuten wie Sonja entkoppelt hat.
Über volle zwei Stunden zieht sich unsere Diskussion hin. Es ist kein Streitgespräch – eher ein Austausch, freundlich im Ton und locker im Umgang, auch wenn unsere politischen Positionen unterschiedlicher nicht sein könnten. „Das traditionelle Familienbild hat schon seine Vorzüge“, fährt Sonja fort. Zurück in den alten Modus, damals hat’s ja auch funktioniert. Eine klare Linie, klare Regeln und nicht zuletzt den Grund für all das Durcheinander, möchte sie erfahren. Sonja ist auf der Suche nach Ordnung in einer Welt, welche sie sich selbst nicht mehr erklären kann – und die ihr bis zu ihrer Kontaktaufnahme mit der Identitären Bewegung auch kein anderer mehr erklären wollte. Die Identitäre Bewegung: ein Volltreffer für Sonja – und umgekehrt.
Über die Schizophrenie des rechten Randes
Seitens der Identitären Bewegung versteht man es genau, diese Unsicherheiten, Ängste und Orientierungslosigkeit zu bündeln und auf ein paar gezielt ausgewählte Feindbilder zu projizieren. Die steigende Konzernmacht als Resultat der vollständigen Kontrolle der USA über die europäischen Staaten. Die Bedrohung von außen, die vermeintliche Islamisierung sowie die Verwässerung christlich-sozialer Werte als Ablenkmanöver und ideologische Mystifizierung für steigende soziale Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit und Abstiegsängste. Der Vertrauensverlust in traditionelle Medien tut dann noch sein Übriges. Ganz bewusst serviert man Informationen, welche ins Weltbild passen, dieses festigen und bestärken. Von eigenen Kanälen versteht sich – klassische Medien sind schließlich Teil der Verschwörung.
Das Schizophrene an diesem Phänomen ist, dass die genannten Probleme als solche tatsächlich existieren – nur Bewegungen wie die Identitäre deren Wurzel bewusst verkennen und auf etwas Greifbares, Wahrnehmbares lenken. Den Flüchtling kann ich sehen, steigende Macht internationaler Großkonzerne nicht. Und in dem Maße, indem die politische Mitte dieses Spielchen auch noch bereit ist mitzuspielen, lachen sich Identitäre, PEGIDA und Co. ins Fäustchen.
Das Verwässern der Etablierten
Und die politische Mitte spielt dieses Spielchen sehr wohl mit – in ausreichend großem Maße. Die stetig schwindende Wählerbasis versucht man wieder zurück ins Boot zu ködern, indem man die vermeintlichen „Lösungen“ vom rechten Rand übernimmt. Für diejenige potenzielle Wählergruppe, denen das „zu extrem“ ist, macht man sich dann noch die Mühe und verpackt es geschickt in „christlich-soziale Werte“ – oder bepinselt es noch etwas mit sozialdemokratisch anmaßendem Rot. Im Kern verfolgt man stets die gleiche Strategie: Einfache Lösungen für eine kompliziert erscheinende Welt. Nach oben langend, nach unten tretend, drückt man sich dabei gekonnt um die Wurzel des Problems herum. Beim nächsten Gipfel vielleicht.
Als Resultat lässt sich eine „politische Mitte“ beobachten, welche zunehmend rechtes Gedankengut in deren Wahlprogramm Einzug gewähren lässt, mit dem perfiden Ergebnis, dass auch deren Wählerschaft die wahre Wurzel des Problems zu verkennen beginnt. Politische Parteien, welche es sich in den letzten Jahrzehnten zur Aufgabe gemacht haben, den Profit von Unternehmen und Konzernen abzusichern oder überhaupt erst möglich zu machen, stellen nun verwundert fest, dass sich die einstige Wählerbasis nicht mehr repräsentiert fühlt. Die im eigenen Parteihaus produzierten Abstiegsängste – samt Arbeitslosigkeit und einer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich – sorgen nun dafür, dass sich ehemalige Stammwähler andernorts nach Lösungen umsehen.
Die große Aufgabe der Politik unserer Zeit
In der Tat befinden wir uns wohl an einem Art Scheideweg, einer „existenziellen Krise“, wenn man denn so will. Die politische Mitte kann sich weiter damit begnügen, Parolen vom rechten Rand zu reproduzieren und ihm somit nur noch mehr Wind in die Segel zu blasen. Die andere Option wäre, sich aufzuraffen, die Probleme unserer Zeit auch als solche anzuerkennen, sich vom Kampf gegen mystische Scheinphänomene à la Kulturkampf zu verabschieden und wieder eine Politik zu fahren, welche eine wirkliche Alternative zum rechten Rand darstellt. Die große Aufgabe der Politik unserer Zeit ist es nicht, diese Alternative zu finden, sondern diese auch umzusetzen.
Für uns neigt sich die Demo dem Ende zu, Sonja und ich stoßen noch einmal gemeinsam an, trinken den letzten Schluck aus unserer Bierdose, verabschieden uns und gehen dann getrennter Wege.
Benjamin Buchner
Johannes Greß