Lahore. „Mindestens 70 Menschen bei Bombenanschlag getötet“ – eine Schlagzeile, die in Zeiten des weltweit zunehmenden Terrors beinahe schon zur traurigen Normalität gehört. Nach dem schweren Anschlag in der pakistanischen 900.000-Einwohner-Stadt Quetta am Montag, bei dem eine Bombe vor einer Klinik explodierte, hat es das südasiatische Land wieder einmal in die hiesigen Medien geschafft. Dabei zeigt ein ganz normaler Tag in Lahore, dass ein Mensch in Pakistan im Grunde genommen nur zwei Haupt-Optionen hat, wie unser Asien-Korrespondent Gilbert Kolonko berichtet: Flucht – oder Rettung in den Stumpfsinn. Vor Lärmterror schützt uns die Natur mit Taubheit, vor den Realitäten…

Im Morgennebel von Lahore geht es an einer schwerbewachten, katholischen Schule vorbei. Ein Stück weiter liegen Heroinabhängige in verschiedenen Stadien des Verfalls auf dem Bürgersteig. Der wirtschaftliche Niedergang des Landes und der Umstand, dass es ein Umschlagplatz für Opium aus Afghanistan ist, tragen dazu bei, dass es in Pakistan jedes Jahr etwa 250.000 Drogentote gibt. Zehn Meter weiter lächelt Hassan mir zu und ich muss an seinem Teestand Platz nehmen. Er ist ein netter und tapferer Kerl, aber sein Milchtee ein schlimmes Gesöff. Da er im Niedrigpreissektor fischt, muss er aus allem das Letzte herausholen. Zwei alte und müde Nachtwächter, die sich in täglichen 12-Stunden-Schichten für monatlich 100 Euro verdingen, sitzen schon über der verkochten Brühe. Die letzten drei Tage musste Hassan seinen Stand woanders aufstellen: „Some talk with police. No problem.“ Was bedeutet, dass die Höhe des Schmiergeldes an die örtlichen Polizisten jetzt geklärt ist.
„Wie bitte? Habt ihr in Deutschland keinen Nebel?“
20 Minuten später stehe ich in einer Ecke des großen Jinnah Parks, wo der 80-jährige Rana Sahibs seit 50 Jahren ein kostenloses Freiluft-Gym leitet. Etwa 30 Studenten, Arbeiter, Journalisten, Rentner und ein paar Anwälte in ihren schicken Anzügen sind auch schon da. Kamran, ein junger Medizin-Student, strahlt mich stolz an und sagt, dass er heute auch schon joggen war. Ich zeige in den Nebel und antworte, dass er bei der Brühe lieber nur spazieren gehen sollte. „Wie bitte? Habt ihr in Deutschland keinen Nebel?“, fragt er verdutzt – worauf ich etwas spitz antworte: „Haben wir – aber nicht 30 Tage im Monat.“

Im Jahr 2014 nahm Lahore mit einem Jahresdurchschnittswert von über 200 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter einen Spitzenplatz in der Rangliste der luftverseuchtesten Städte der Erde ein. Im Winter liegt die Metropole beinahe täglich unter einer Dunstglocke mit Feinstaubwerten, die über 500 Mikrogramm/m³ hinausgehen. Mit Forschungsarbeiten über die Schädlichkeit solcher Werte für den Menschen holt die Wissenschaft erst langsam auf. Im Jahr 2010 gab die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bekannt, dass jedes Jahr weltweit 223.000 Menschen an verpesteter Luft und deren Folgen sterben. Im Jahr 2015 veröffentlichte das Max-Planck-Institut die Zahl 3,3 Millionen. Dieses Jahr korrigierten Forscher der University of British Columbia die Zahl auf 5,5 Millionen Menschen pro Jahr, die WHO gar auf 6,5 Millionen.
Eine halbe Stunde später geht es über die breite Mall Road zurück. Obwohl die meisten Geschäfte und teuren Restaurants noch geschlossen haben, liegen nur noch wenige Obdachlose auf den Bürgersteigen. Die meisten stehen jetzt schon an den bekannten Kreuzungen, wo sie sich mit ihren Werkzeugen als Tagelöhner anbieten. Täglich kommen mehr dazu. Zurzeit leben in Lahore nach grober Schätzung neun Millionen Menschen – doch schon die Frage, was noch zu Lahore zählt, ist nicht einfach zu beantworten, denn in den letzten 14 Jahren hat sich die Fläche der Stadt verdoppelt.
Ein Wunder, dass die Milch noch weiß ist…
In einer Seitenstraße tragen die Milchverkäufer wieder ihr breites Lächeln und Gebetskäppchen – vor drei Monaten waren es Schmollmund und Haarnetz. Die staatliche Gesundheitsbehörde hatte damals eine Kontrolloffensive gestartet und festgestellt, dass es ein Wunder sei, dass die Milch bei den großen Anteilen an Borsäure, Borax, Salicylsäure und Formaldehyd noch weiß ist – die Milch wird mit künstlichen Farbstoffen aufbereitet. Daraufhin gab es einige Tage keine „Milch“, da die Milchvertreiber mit einem Streik gegen diese Kontrollen protestiert hatten – wie man sieht, ist mittlerweile wieder alles in Ordnung.

So besorge ich mir im Onkel-Husain-Laden an der Ecke einen Liter H-Milch für umgerechnet einen Euro. Zumindest führt er die Marke „Haleeb„. Noch 2006 mit einem Marktanteil von 52 Prozent, ist Haleeb seit dem Auftreten von Nestlé auf unter zehn Prozent gefallen. Dass die ausländische Konkurrenz dabei eher auf aggressive Werbung statt auf hohe schweizer Produktionsstandards setzt, deutete mir ein Chemiker an, der für Nestlé in Karatschi arbeitet. Er sagte, dass man – gegen seinen Ratschlag – eine teure, deutsche Chemikalie zum Reinigen des Wassers gegen eine vielfach günstigere aus China ersetzt habe.
Mit ein paar frisch gebackenen Fladenbroten und sechs Eiern, bei denen ich verdränge, dass sie von pakistanischen „Hühnerfarmen“ stammen (und nicht von Haleeb oder Nestlé), geht es zurück zum Hotel. Die bereits gut besuchten, lokalen Restaurants, die ölige Linsen anbieten, lasse ich für heute mal links liegen. Da sich auch der Preis für Speiseöl in den letzten Jahren dramatisch verteuert hat, können viele kleine Restaurants nur günstige Preise anbieten, indem sie ihren Kunden „Secondhand-Öl“ servieren – also das schon einmal benutzte Öl der teuren Restaurants.
Acht von 71 Mineralwassermarken für Verzehr ungeeignet

Im Hotel treffe ich den Besitzer dabei an, wie er Wasserflaschen mit Leitungswasser auffüllt. Mein Hinweis, dass die Lampe des Wasserfilters gar nicht leuchtet, beantwortet er mit einem gelassenen: „It’s working. No problem.“ In Pakistan sterben jedes Jahr mehr als 200.000 Kinder an den Folgen von verdrecktem Trinkwasser. Die Haupttrinkwasserquelle Lahores, das Grundwasser, ist mit Schwermetallen, Arsen und etlichem mehr belastet. Bei der jüngsten staatlichen Untersuchung von Mineralwasser aus Supermärkten waren acht von 71 Wassermarken für den menschlichen Verzehr ungeeignet. Neben stark erhöhten Arsenwerten wurden Bakterien gefunden, die unter anderem Cholera und Hepatitis auslösen können. Den leicht missbilligenden Blick des Hoteliers auf die mitgebrachte Milch, der mir sagt, dass ich die gute Nestlé-Milch hätte mitbringen sollen, beantworte ich mit einem anderen derjenigen Wörter, die im täglichen Umgang in Pakistan überlebenswichtig ist: „Tomorrow.“
20 Minuten später stehen der Hotelbesitzer und ich auf der Dachterrasse, schlürfen Milchtee und blicken auf die Mall Road. Auf der Kreuzung hat sich – wie fast jeden Morgen – ein Trupp schlecht bezahlter Verkehrspolizisten versammelt, um Geld fürs Frühstück einzutreiben. Da in Pakistan Helmpflicht besteht, aber fast jeder ohne Helm fährt, ist das ganz einfach. Dem angehaltenen „Sünder“ wird der Strafzettel von 200 Rupien unter die Nase gehalten. Das Problem dabei sind nicht nur die umgerechnet 1,80 Euro Strafe, sondern vor allem, dass man diese per Banküberweisung bezahlen muss – und die Quittung anschließend im abgelegenen Verkehrsamt vorzulegen hat, was viel Zeit kostet. So wird die Angelegenheit dann auch von Bürgern, die eigentlich wissen, dass Korruption ein schwerwiegendes Übel ihres Landes ist, mit ein paar Geldscheinen direkt vor Ort gelöst. „No Problem“ in Pakistan. Nach einer halben Stunde schlendern die Verkehrspolizisten vergnügt von der Kreuzung…
Gilbert Kolonko
Danke Da Hogn für den Artikel!
Noch eine Ergänzung: Die WHO hat die Zahl der Menschen die jedes Jahr an den Folgen der Luftverschmutzung sterben mittlerweile auf 6,5 Millionen verbessert.
…und Dank an Kolonko!
Ich bin ja immer dankbar für Artikel, die weit über die übliche Berichterstattung hinausgehen. Dieser zählt definitiv dazu.
Dank an Da Hogn und Kolonko (von dem ich solche Artikel allerdings schon gewohnt bin)
Es sind fast nur noch die „Schattenmedien“ die einen größeren Ausschnitt zeigen. Ansonsten: Bombenanschlag 60 Tote, 70 Tote, Taliban oder ISI? Und damit macht man diese Gruppen erst bekannt und verbreitet Angst.
„Der Horror kehrt zurück“ titelte eine größere Zeitung zum Anschlag in Quetta.
Ein Blick nach Lahore scheint zu zeigen: Der Horror ist Alltag, ganz ohne Taliban und Co.
Das Positive: Wenn auch lokale Medien ihren Lesern größere Ausschnitte vermitteln, braucht es die sogenannten „Großen“ nicht mehr!