Wie „kritisch“ darf ein Faschingswagen sein? Wo liegen die Grenzen des Aussprechlichen, welche Meinungen behält man lieber für sich? Zahlreiche Reaktionen erreichten die Hog’n Redaktion im Anschluss an die beiden Berichte „Perlesreuter Faschingswagen: Da sollen sich die Leute denken, was sie wollen“ und „Heimatliebe statt Multikulti – Freyunger Umzugswagen sorgt für Aufregung“: Dabei brüllen die einen ganz laut „Rassismus!“ – die anderen beschwichtigen: „Regt’s euch mal nicht so auf“. Deutlich zu erkennen ist, wie stark dieses Thema polarisiert. Eine „Goldene Mitte“ scheint es hier nicht zu geben…
Oft wird aber in diesen Tagen genau diese „Goldene Mitte“ als Allheilsbringer herbeizitiert, insbesondere was die Flüchtlingsthematik anbelangt. Die links-liberale Position à la „Refugees Welcome – Öffnet die Tore“ sei ohnehin reine Utopie, das rechts-konservative Gedöns vom Schließen der Grenzen reine Augenwischerei. Folglich müsse die Wahrheit wohl irgendwo in der Mitte liegen. Das tut sie auch. Doch wer legt eigentlich fest, wo sich die „Mitte“ befindet? Oder anders formuliert: Woher wissen wir, dass unser Mittelweg nicht eigentlich viel zu weit „links“ oder viel zu weit „rechts“ ist?
Die Brille, durch die wir die Welt betrachten
Das, was jeder von uns als den „korrekten“ Weg empfindet, nährt sich aus einem Sammelsurium an persönlichen und somit rein subjektiven Erfahrungen, Weltanschauungen und im Laufe des Lebens angesammelten Wissens. Folglich „reimt sich“ am Ende (ganz automatisch und unbewusst) jeder persönlich seine eigene „Goldenen Mitte“ zusammen, die sich bei dem einen – je nach Standpunkt – im Politikspektrum eher „links“, bei dem anderen eher weiter „rechts“ befindet. Ausschlaggebend für die Herausbildung dieser persönlichen Mitte sind dabei nicht nur die Medien, auch wenn diese eine immer bedeutendere Rolle in diesem Diskurs spielen.
Jede individuelle Weltanschauung setzt sich aus höchst unterschiedlichen Quellen zusammen. Als erster meinungsbildender Anstoß dient hier bereits der Lehrplan der Grundschule, gefolgt von Lehrplänen weiterführender Schulen. Als additiver Fortsatz in diesem Prozess reihen sich dann Erziehung, Freundeskreis, Kirche, Sportverein, Arbeitskollegen, sozialer und ökonomischer Standpunkt sowie vieles andere ein. Das heißt: Alles trägt ein klein wenig dazu bei, welche Farbe die Brille hat, durch die wir die Welt betrachten.
Die Rolle der Medien geht in diesem Prozess weit über die tägliche Berichterstattung über – auf diesen Kontext bezogen – Menschen mit Migrationshintergrund hinaus. Wie viele Menschen mit Migrationshintergrund dienen als Werbedarsteller für Modeprodukte? Im Gegenzug: Wie häufig ist der „Bösewicht“ im Sonntagskrimi ein Mann mit gebrochenem Deutsch? Wieso denken wir bei „Migranten“ sofort an türkische Gastarbeiter, „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus dem Balkan oder polnische Erntearbeiter? Rein formell ist jeder Diplomat, der sein Land in Berlin in der zugehörigen Botschaft vertritt, ein Migrant. Dasselbe gilt für jeden Unternehmer, der seinen Firmensitz nach Deutschland verlagert, gilt für jeden Austauschstudenten. Alles Migranten.
Asylkritische Äußerungen beim Fasching als Teil des Mosaiks
Oder um’s mal mit einem anderen Beispiel zu verdeutlichen: Laut einer Oxfam-Studie besitzen im Jahr 2015 62 Menschen genauso viel an Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – oder anders ausgedrückt: 62 Leute auf diesem Globus gehört genauso viel wie 3,5 Milliarden. Da darf man sich mal empören! Oder besser: Da dürfte man sich mal empören! Macht aber keiner. Viel eher regt man sich über faule und arbeitsunwillige Hartz-4-Empfänger auf, die den Sozialstaat zu unterwandern versuchen. Viel gefährlicher für unseren persönlichen Wohlstand sind schließlich auch Asylbewerber, die – einfach so, ohne zu arbeiten – Geld von unseren (!) Steuern abbekommen. Jetzt aber: Empören!
Wie viele Menschen haben Angst bei einem Terroranschlag ihr Leben zu verlieren, sind aber der Meinung „mit 3 oder 4 Bier kann man zur Not schon mal Autofahren“? Oder wie viele dieser Menschen parken, „wenn’s pressiert“, auch mal gern eine Feuerwehrausfahrt zu? Was wir als „richtig“ oder „rational“ erachten und was sich im Endeffekt auch als solches herausstellt, sind gelinde gesagt immer zwei Paar Schuhe.
Unsere Weltanschauung setzt sich wie ein Mosaik aus unzähligen Einzelteilen zusammen, welche manchmal in böser Absicht, oft aber auch völlig unbeabsichtigt, ein gewisses Meinungsbild produzieren – und auch immer wieder reproduzieren. Auch Traditionen, vermittelte Werte einer Gesellschaft leisten hierbei einen nicht unerheblichen Beitrag. Und genau hier fällt unser Faschingswagen ins Gewicht. Auch eine asylkritische Äußerung am Umzugswagen ist – so unscheinbar sie auch sein mag – ein Teil des (Weltanschauungs-)Mosaiks. Kein besonders großes – aber das ist auch der „Bösewicht mit gebrochenem Deutsch im Sonntagskrimi“ nicht. Keines dieser Teilchen ist „besonders groß“ – und genau das macht sie auch so unscheinbar.
„Bösewicht mit gebrochenem Deutsch im Sonntagskrimi“
Doch alle Mosaik-Steinchen zusammengenommen produzieren ein großes Ganzes – etwas, was wir gemeinhin als Weltanschauung bezeichnen. Ein „Bösewicht mit gebrochenem Deutsch im Sonntagskrimi“ weniger, vielleicht mal eine Nachrichtensprecherin mit Kopftuch, Werbung für die neue Frühjahrs-Kollektion mit zwei Schwarzafrikanern. All das würde unsere Welt nicht vor dem Untergang bewahren, aber es würde dazu beitragen, dass wir unsere subjektive Sicht (Weltanschauung) auf diese Personengruppen ein klein wenig ändern. Einen „großen Hebel“, den wir nur zu finden und umzulegen brauchen, gibt’s ohnehin nicht. Aber zu erkennen, dass die politische „Mitte“ nicht unbedingt die „Goldene Mitte“ ist, kommt diesem „großen Hebel“ schon sehr nahe.
Und bevor jetzt gleich wieder jemand losschnaubt „Ja, was darf man denn dann überhaupt noch?!?!“: Ein Umzugswagen, der die Vermögensverteilung dieser Welt kritisiert, wäre ein Anfang. Danke.
Kommentar: Johannes Gress