Lahore. Der morgendliche Dunst in Lahore gibt der smogverseuchten Luft den trügerischen Anschein wohltuender Frische. Es ist kurz nach sieben. Ich stehe auf einem Hinterhof in der Altstadt, umgeben von bröckelnden Ziegelmauern. Zu meiner Linken: ein hunderte Jahre alter Sufischrein, umringt von noch älteren Banyan-Bäumen. Alles untermalt vom melodischen „Allahu Akbar“ des Muezzins der Badshahi-Moschee. Trotzdem drängen sich mir Bilder aus „Rocky“ auf…
Denn: Vor mir schwingt ein 90-Kilo-Kerl eine 30 Kilogramm schwere Hacke und pflügt damit eine acht mal acht Meter große Sandgrube: den Trainingsplatz des Ringerclubs Shahid Pahalwan. Ein anderer Pahalwan (Ringer), nur mit einem Lendenschutz bekleidet, trägt einen 60 Kilo schweren Eisenreifen, der um seinen Hals baumelt, über den Hof. Zu meiner Rechten sitzt ein älterer Herr in einem pinkfarbenen Umhang. Er ist einer der beiden Trainer. Der andere Khalifa ist mit seinen 56 Jahren – trotz seines Punjabi-Bäuchleins – beeindruckend austrainiert und bindet gerade seiner fünfjährigen Tochter die Schuhe.
„Bis zur Teilung Indiens waren die Ringer berühmte Helden“
In der nächsten halben Stunde trifft der Nachwuchs ein. Respektvoll begrüßen sie ihre Trainer. „Jedes Land hat seine eigene urtümliche Art des Ringens. Unsere stammt aus der Mogulzeit und wird Kusti genannt“, sagt Mr. Majeed, ein 130-Kilo-Koloss, der neben mir sitzt. „Bis zur Teilung Indiens waren die erfolgreichen Ringer berühmte Helden, die vor Zehntausenden von Zuschauern kämpften – und selbst zu meiner Zeit füllten die wichtigen Kämpfe noch kleine Stadien. Doch das ist vorbei.“ Er zeigt etwas resigniert auf einen stämmigen Ringer, der mit dem schweren Eisenring um den Hals eine spezielle Art von Liegestützen macht, die auch die Beweglichkeit des Rückens trainiert: „Er ist der beste Kämpfer in unserem Club. Aber um bei den Großen mitkämpfen zu können, bräuchte er für 3.000 Rupien (etwa 28 Euro) am Tag proteinreiche Nahrung.“ Dann deutet er auf einen jungen Mann, der im Schneidersitz mit Mörser und Stößel Mandeln zerkleinert. „Er bereitet den traditionellen Sardai vor. Ein Getränk aus Milch, zermahlenen Mandeln, Nüssen, Kräutern und Gewürzen, den unsere Pahalwan nach dem Training trinken.“
Ringen hat in Indien und Pakistan eine lange Tradition:
Als die Sandgrube umgegraben ist, zieht ein austrainierter Grauhaariger mit um die Schultern gelegten Seilen einen 30-Kilo-Holzblock, auf dem zwei grinsende Kinder hocken, hinter sich her – und glättet den Kampfplatz. Der Koloss neben mir, etwa Mitte fünfzig, ist eine regionale Berühmtheit. 1984 kämpfte er für Pakistan bei den Olympischen Spielen und maß sich in den Akharas (Trainingsplätze) Pakistans und Südasiens mit den besten Schlammringern seiner Zeit.
Auf dem Kampfplatz vor uns reiben sich zwei eingeölte Ringer mit Sand ein, zeigen dann dem Gegenüber mit einer Verbeugung an, dass sie bereit sind – und prallen kurz darauf mit enormer Wucht aufeinander. Allein in Lahore gab es 1947, bei der Gründung Pakistans, mehr als 300 Kusti–Vereine. Heute gibt es keine 30 mehr. So frage ich Mr. Majeed nach den Gründen für den Niedergang des ehemaligen Nationalsports. „Der Staat ist pleite und die Reichen in unserem Land bringen ihr Geld lieber ins Ausland. Dass der einfache Mann auf der Straße seine eigenen Probleme hat, weißt Du selbst. So gibt es einfach nicht mehr genug Preisgeld zu verdienen – und die Talentierten unseres Sports fragen sich, warum sie zweimal am Tag hart trainieren sollen, wenn es weder Ruhm zu ernten noch Geld zu verdienen gibt.“
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder schreien soll
Am nächsten Morgen trainiere ich selber mit und schleppe ebenfalls den 60 Kilo schweren, um den Hals gelegten Eisenring zwei Minuten durch die Gegend. Nur beim Ablegen stelle ich fest, dass ich wohl etwas zu viel angeben wollte: „Wenigstens drei Wochen Training benötigt man, damit sich hier Muskeln bilden“, sagt der ältere der beiden Trainer und schlägt mir lachend kräftig auf den Nacken. Zum Abschluss liege ich dann in Öl und Sand paniert bäuchlings im Sand. Ein Pahalwan steht auf meinen Waden, ein anderer auf meinem Rücken. Eine After-Work-Massage, bei der ich nicht weiß, ob ich lachen oder schreien soll.
Nach einer Freiluftdusche sitze ich mit den Ringern und Trainern zusammen, ein Glas stärkendes Sardai in der Hand. Es wird gescherzt und gelacht. Studenten, Fabrikarbeiter und Geschäftsleute. Die Stromausfälle, die steigenden Preise, mit denen das Gehalt schon lange nicht mehr Schritt halten kann, oder die Verantwortung, die ganze Hoffnung der Familie auf die Zukunft zu sein, sind für den Augenblick vergessen. In diesem Moment ist jeder von ihnen einzig ein stolzer Teil der Familie der Pahalwan – und der Familie der Ringer in aller Welt.
Gilbert Kolonko