Brüssel. 2009 bin ich mit meiner Schwester nach Indien gereist. Wir machten auch in Mumbai halt, wo im Jahr zuvor bei Anschlägen 174 Menschen umgekommen waren. Die Angreifer wählten unter anderem das bei Rucksacktouristen beliebte „Leopold-Café“ aus – genau dieses Café haben wir besucht. Die Einschusslöcher der Schnellfeuerwaffen waren noch in den Türen und an der Wand zu sehen – ob als Mahnung oder aus Trotz, ich weiß es nicht. Das Café war brechend voll, es herrschte eine lockere Stimmung – und doch wollte ich am liebsten wieder weg. Ich wurde einfach das beklemmende Gefühl nicht los, dass eine ähnlich schreckliche Tat vielleicht genau jetzt wieder passieren könnte. Dass ich dieses Gefühl sechs Jahre später mitten in Europa wieder erleben könnte, wäre mir damals nie in den Sinn gekommen.

Doch meine erste Reaktion war nicht Sorge. Es war Wut.
Eine Woche nach den Attentaten von Paris, am späten Freitagabend, rief der belgische Premierminister die höchste Alarmstufe für Brüssel aus. Brüssel, diese kleine Großstadt, in der ich seit vier Jahren lebe und die ich liebe für ihre Waffeln und Pralinen, für ihren schrulligen Charme, für ihre Jugendstil-Häuser und für dampfenden Tee mit frischer Minze an kalten Tagen. Jetzt war es nicht mehr Mumbai. Selbst nach den Anschlägen von Paris (manche Experten sagen, dass sich die Attentäter Mumbai zum Vorbild genommen haben könnten) hatten wir Brüsseler uns noch in Sicherheit wiegen können – schließlich nimmt Belgien im Gegensatz zu Frankreich am Syrienkrieg nicht teil. Eine falsche Sicherheit, vielleicht eine bewusste Gutgläubigkeit. Denn wie sollten sich vom Hass getriebene Menschen an Logik halten?
Ein Brüsseler Freund postete am Samstagmorgen auf Facebook, dass er genügend Vorräte (und Rum!) zuhause habe – und das Haus zunächst nicht verlassen werde. Andere Freunde von außerhalb fragten an, ob alles in Ordnung sei. Meine Eltern versuchten, das Thema nicht zu offensiv zu erwähnen, aber ich wusste, dass sie sich Sorgen machten.
Doch meine erste Reaktion war nicht Sorge. Es war Wut. Wut über Menschen, die uns unser Leben nicht lassen wollen. Wut über diese sogenannten Gotteskrieger, die glauben, sie wüssten als einzige den alleinseligmachenden Weg (denn dieses Wissen gestehen sie ja nicht einmal der Mehrzahl der Muslime zu). Wut darüber, dass sie Hass sähen wollen zwischen den Religionen. Und ich entschied mich für die Vorwärtsverteidigung: Da die Metros nicht fuhren, nahm ich eben das Rad. Ich kaufte Lebensmittel ein – genau so, wie ich es mir für diesen Tag vorgenommen hatte. Und die Hühnerschlegel besorgte ich entgegen meiner Präferenz für Bio-Fleisch beim muslimischen Halal-Metzger. Denn ich fühlte mich den Brüsseler Muslimen an diesem Tag nicht weniger verbunden, sondern eher mehr. Wenn sich ein Attentäter in einer Menschenmenge in die Luft sprengt, nimmt er dann Rücksicht darauf, ob drei Meter entfernt eine Frau mit Kopftuch steht?
Nur leider richten sich Gefühle nicht immer nach Statistiken…
Am Sonntag war ich zum Frühstücken verabredet. Die Metros – immer noch geschlossen. Vorbei an Armeefahrzeugen, Soldaten mit Maschinengewehren und Polizisten radelte ich also zum Treffpunkt. Gerade Soldaten sind für Deutsche in einer Innenstadt ein gewöhnungsbedürftiger Anblick – und ich konnte mich nicht recht entscheiden, ob ich mich nun sicherer oder unsicherer fühlen sollte. Anscheinend ist das eine durchaus natürliche Reaktion, denn einerseits signalisiert die Anwesenheit von Polizisten und Soldaten, dass etwas für die Sicherheit getan wird – aber andererseits eben auch, dass eben diese Sicherheit in Gefahr ist. Im Café angekommen, hatte ich dann meinen „Mumbai-Moment“: Ich ertappte mich dabei, wie ich begann, unruhig zu werden, andere Besucher gründlicher als sonst zu mustern. Ich hielt nach möglichen Fluchtwegen Ausschau und überlegte, wie ich reagieren sollte, falls plötzlich ein bewaffneter Wahnsinniger hereinstürmt. Dabei war – rein statistisch gesehen – die Anfahrt mit dem Fahrrad sehr viel gefährlicher als der Aufenthalt in einem Café an einem Sonntagmorgen. Nur leider richten sich Gefühle nicht immer nach Statistiken…
Am Abend: Großeinsatz der Polizei. Ein fortwährend an- und abschwellendes Gedröhn – Helikopter – begleitete mich bis Mitternacht. Ich versuchte, auf der Website einer belgischen Zeitung Neuigkeiten zu erfahren, aber es war eine Nachrichtensperre verhängt worden. Die Polizei hatte sogar darum gebeten, keine Angaben zum Aufenthaltsort der Einsatzkräfte auf den Twitter oder Facebook zu verbreiten. Die Reaktion der Twittergemeinde darauf war dann genau das, was alle brauchten nach all der Anspannung: Unter #BrusselsLockdown posteten die Brüsseler Bilder ihrer Katzen auf dem heimischen Sofa! Was für eine geniale Metapher für die Situation, in der wir uns befanden: gefesselt an die eigene Wohnung, Ablenkung suchend von all dem, was da draußen passierte… aber auch entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen, den Terroristen trotzigen Humor entgegenzusetzen.
Wenn Du runterfällst, musst Du sofort wieder aufsteigen
Der Wochenanfang war für die meisten Brüsseler vermutlich reichlich chaotisch: geschlossene Schulen und Kitas, immer noch keine Metro… Ich habe davon nicht viel mitbekommen, weil ich in der glücklichen Situation bin, von zuhause aus arbeiten zu können, genauso wie die meisten meiner Freunde, die sich abends lieber zuhause treffen wollten als in einer Bar. Medien schrieben über eine „Stadt im Ausnahmezustand“ – was doch reichlich übertrieben schien angesichts der Tatsache, dass weder eine Epidemie ausgebrochen war noch ein Erdbeben stattgefunden hatte.
Inzwischen ist in Brüssel wieder Normalität eingekehrt. Die am Sonntag festgenommenen 16 Personen wurden alle bis auf einen Mann wieder freigelassen. Die Metros fahren seit Mittwoch, und ich habe sie gleich an diesem Tag, trotz eines mulmigen Gefühls, wieder benutzt. Denn ist es nicht so wie beim Reiten: Wenn Du runterfällst, musst Du sofort wieder aufsteigen, sonst hast Du auf ewig Angst? Eine Moderatorin im flämischen Radio scherzte heute Morgen darüber, dass Belgiens Image wegen der Attentäter leiden könne – „worüber sollen wir uns denn noch alles Sorgen machen?“ Ich denke, der Mensch gewöhnt sich an alles – auch an eine fortwährende Bedrohung durch Attentäter. Und irgendwie erscheinen unsere Ängste hier in Europa lächerlich klein und aufgebauscht gegenüber den Menschen in Syrien und anderswo, die jeden Tag Tod und Terror erleben.
Ja, ich überlege, ob ich dieses Jahr zum Weihnachtsmarkt gehen soll. Ich überlege, ob ich mir die „Hunger Games“ im Kino ansehen soll. Ich überlege, ob ich Konzertkarten kaufen soll. Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass dieses Mumbai-Gefühl – jahrelang vergessen – nicht immer noch da ist und vermutlich so schnell nicht weggehen wird. Aber ich denke, ich werde alles, was ich mir vorgenommen habe, trotzdem tun. Aus Trotz. Vielleicht, weil ich es mir beweisen will. Aber vor allem, weil ich mein verdammtes Leben leben will.
Text und Fotos: Angelika Hild
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Angelika Hild (28), ehemalige Passauer Studentin, lebt und arbeitet seit vier Jahren in Brüssel – anfangs im inzwischen traurige Berühmtheit erlangten Stadtteil Molenbeek, dessen Betitelung als „Islamistenhochburg“ sie nicht mehr hören kann. Sie hat die Stadt und ihre Bewohner schnell ins Herz geschlossen und möchte noch lange bleiben – „vielleicht für immer“.