Schönberg. Es war eine Zeit voller Angst, Tränen und trauriger Schicksale. Es war eine Zeit, in der Menschlichkeit oftmals auf der Strecke blieb – und das buchstäblich. Wir schreiben das Jahr 1946. Das brutale und rücksichtslose Nazi-Regime hat sein Ende gefunden, die Bevölkerung hat mit den Folgen des Zweiten Weltkrieges zu kämpfen. Dazu zählt auch Sepp Sager aus Winterberg (heute: Vimperk in Tschechien). Wie viele andere wird auch er und seine Familie im Nachkriegsjahr aus seiner böhmischen Heimat, dem damals deutschsprachigen Sudetenland, vertrieben – mit Viehwaggons in Richtung Bayern transportiert, in einer völlig fremden Umgebung angesiedelt. Für viele Sudetendeutsche ein prägendes Erlebnis, mit dem sie Zeit ihres Lebens nicht abschließen können. Das sie in ihren Träumen heimsucht. Bis heute.
Etwas anders ergeht es da dem 1932 geborenen Sepp Sager: Als 14-jähriger Bursche, so seine Erinnerung, nimmt er die Vertreibung als Abenteuer wahr. Gedrillt von den Nazis, ausgebildet in der Hitlerjugend, lernt er zudem früh, dass er keine Emotionen zeigen darf. „Ein deutscher Junge weint nicht – das wurde uns so eingetrichtert“, blickt er heute zurück. Die ausgeklügelte Propaganda-Maschinerie der Nazis vermittelt ein anderes Bild von Hitler, Himmler und Göbbels – ein heroisches. Man solle stolz sein auf das Vaterland und den Führer. „Normales Gedankengut“ in Zeiten ohne Smartphones, beschallt und manipuliert von regimegesteurten, ausgewählten Zeitungen und Radiosendern…
„Die Unwissenheit der jungen Leute gnadenlos ausgenutzt“
„Wir haben nicht gewusst, was im Hintergrund gelaufen ist“, spricht Sager die Gräueltaten der Nazis – etwa in den Konzentrationslagern – an. Erst später – viele Jahre nach dem Krieg – erfährt er davon, schämt sich dafür. „In der Hitlerjugend haben wir Uniformen bekommen, konnten Sport machen – das hinterließ natürlich Eindruck bei uns.“ Bei der „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ dürfen die jungen Buben mit den Panzern der deutschen Soldaten mitfahren. „Das war ein reiner Gimpelfang„, erinnert sich der 83-Jährige heute. „Man hat die Unwissenheit der jungen Leute gnadenlos ausgenutzt.“
In seiner Heimatstadt Winterberg leben zu dieser Zeit überwiegend Deutsche, der Landstrich gehört zum damaligen Großdeutschen Reich. Wenige Kilometer weiter beginnt das Protektorat Böhmen und Mähren. Das Zusammenleben mit den tschechischen Mitbürgern ist unkompliziert, von keinen gegenseitigen Diskriminierungen geprägt. Dennoch macht sich nach dem Ende des Krieges eine merkwürdige, von Rache durchtränkte Stimmung breit im von US-Amerikanern besetzen „Behm“, erinnert sich Sepp Sager: „Irgendwie wussten wir, dass wir wohl ausgesiedelt werden.“ Eines Tages war es dann auch soweit, an das genaue Datum kann sich der damalige Teenager nicht erinnern – „irgendwann Anfang oder Mitte des Jahres 1946“.
Abends gegen 21 Uhr wird der deutschen Bevölkerung mitgeteilt, dass sie um 8 Uhr morgens mit höchstens 50 Kilogramm Gepäck zum Abmarsch anzutreten hat. „Wertsachen durfte man nicht mitnehmen – nur Kleidung und Essgeschirr.“ Während ihn das Fernweh packt („Endlich was Neues, jetzt dürfen wir in die große, weite Welt“), wird seinen Eltern und Großeltern mehr und mehr bewusst, was jetzt auf sie zukommt. Seine Mutter weint. Sein schwer kriegsgeschädigter Vater hat ohnehin mit schlimmen Erinnerungen zu kämpfen. Es geht in ein Lager. Dort werden sie akribisch, teilweise sehr grob, vom Aufsichtspersonal untersucht. „Das waren alles fremde Tschechen, keine aus unserer Region. Sie hatten SS-Uniformen an und fühlten sich als Sieger. Wir wussten nicht, was mit uns passiert“, schildert Sager die vielen Momente der Ungewissheit.
Ohne erkennbares Ziel geht es quer durch Bayern
Komischerweise – eine Erklärung dafür hat er selbst nicht – bleibt er dabei recht ruhig, lässt alles über sich ergehen. Nach fünf Tagen müssen die rund 400 Menschen in Richtung Bahnhof marschieren. Auf dem Weg dorthin werden die Sudetendeutschen von einigen Tschechen mit Steinen beworfen. Andere wiederum haben Mitleid mit ihren früheren Nachbarn und Freunden. Familie Sager wird in einen Viehwaggon gepfercht. „Bei der Abfahrt haben alle gemeinsam das Böhmerwald-Lied gesungen. Eine komische Stimmung. Viele haben geweint.“ Sechs Tage lang geht es mit dem Zug kreuz und quer durchs Nirgendwo. Ohne erkennbares Ziel. Schließlich landen sie in Furth im Wald. Weil aber der verwirrte Zugbegleiter bis dahin sämtliche Papiere zerstört hat, weiß keiner, wer genau sich nunmehr in den Waggons befindet.
„Das war ein heilloses Durcheinander“, erinnert sich der 83-Jährige. „Zuerst wurden wir mit DDT entlaust und mit Essen und Trinken versorgt. Meine Eltern waren relativ ruhig, sie wussten, dass wir in Deutschland sind, das von den Amerikanern besetzt war – und nicht von den gefürchteten Russen.“
Doch weil keiner so recht wusste, was mit den Ausgesiedelten geschehen soll, geht es, um Zeit zu gewinnen, mit dem Zug weiter. Fünf Tage, wieder quer durch Bayern. „Wir haben viele Ruinen, ausgebrannte Züge und Verwüstung gesehen – grässliche Szenen.“ Mehrere Städte werden angesteuert, jedes Mal wird ein Waggon mit rund 40 Personen abgehängt. Sepp Sager landet mit seinen Eltern und Großeltern schließlich in Grafenau, unwissentlich nur wenige Kilometer von seiner früheren Heimat Vimperk entfernt.
„Freilich haben wir Grafenau vom Hörensagen gekannt. Wir konnten aber die Entfernung zu Winterberg nicht einschätzen.“ Am Stadtplatz werden die Vertriebenen auf LKWs verladen – und im Umland verteilt. Die Sagers werden vorerst in Zenting, im Saal der Brauerei Kamm untergebracht – und dort von der Besitzerin rührend umsorgt. „Das werde ich ihr nie vergessen“, zeigt sich Sepp Sager emotional, hält kurz inne, schluckt. Die damalige Zeit hat ihn geprägt, hat ihn abstumpfen lassen. Dennoch sagt der Schönberger heute, dass er ein glückliches Leben geführt hat. Gemeinsam mit seiner Familie landet der 1946 dann bei einem Bauern in Burgsdorf bei Zenting. „Unsere Wohnung war ein Kellerraum mit Gittern an den Fenstern, überall Schimmel. Mit Strohsäcken haben wir uns ein Bett gemacht.“
„Wir waren längst keine Kinder mehr“
Eine besondere Erinnerung hat er sich dabei an das Weihnachtsfest im ersten Nachkriegsjahr bewahrt. Im Wald findet er – auf der Suche nach einem Christbaum – einen toten Hasen, der sich in einer Schlinge verfangen hat. Er versteckt ihn unter der Jacke, schmuggelt ihn nach Hause. Ein Nachbar schenkt der Familie Sager einen Kochtopf, sodass der Heilige Abend doch noch zu einem Fest wird – inmitten der Armut, umzingelt von Angst und Ungewissheit. „Stündlich haderten wir mit dem Schicksal. In dieser Zeit war ich – trotz meines jungen Alters – längst kein Kind mehr.“ Im darauffolgenden Jahr vermittelt ihm das Arbeitsamt eine Lehrstelle als Bäcker in Schönberg, wo er bis heute lebt, eine Familie gründet und Finanzbeamter wird.
Schnell versucht er, Kontakte nach Winterberg herzustellen. Sobald es möglich ist, fährt er nach Tschechien, sucht das Gespräch mit den Einwohnern. Die Sehnsucht treibt ihn immer wieder in seine Heimat. Vergebung – ein Wort, das seitdem für Sepp Sager eine große Bedeutung hat. Für ihn kein einfacher, aber dennoch ein notwendiger Schritt, um zur Ruhe zu kommen. „Ich habe versucht, die Tschechen zu verstehen – was ich irgendwann auch geschafft habe“, macht er deutlich. „Mittlerweile habe ich viele tschechische Freunde. Wir sind ja der gleiche Menschenschlag: Böhmerwäldler.“ Deshalb versucht er es immer wieder, Waidler und Böhmen zusammenzuführen, schreibt viele Bücher über deren Verhältnis und die gemeinsame Historie.
Ein weiteres Thema, das ihm derzeit schwer auf der Seele liegt, ist die „Asylkrise„, wie sie in vielen Medien genannt wird. Obwohl er sich selbst nicht als Flüchtling bezeichnet („Wir sind Ausgesiedelte oder Vertriebene“), weiß er nur zu gut, was es heißt, seine Heimat gegen den eigenen Willen verlassen zu müssen. Deshalb ist er überzeugt: „Wir müssen diesen Menschen helfen. Die, die sowas nicht miterlebt haben, brauchen gar nicht mitzureden.“
„Rechtes Gedankengut – das hat sowieso keine Zukunft“
Ausländerfeindlichkeit und Intoleranz gegenüber Menschen anderer Hautfarbe oder Sprache haben für ihn in der Gesellschaft nichts verloren. Genauso wie rechtsradikale Ansichten. „Angesichts unserer Vergangenheit ist es für mich unverständlich, wie man heutzutage noch dazu kommt, rechtes Gedankengut zu verbreiten. Doch das hat sowieso keine Zukunft. Gott sei Dank gibt es inzwischen sehr viele vernünftige Menschen, die dem entgegensteuern.“ Nie mehr soll das passieren, was sich damals nach dem Krieg zugetragen hat – das wünscht sich Sepp Sager von ganzem Herzen. Angst, Tränen und traurige Schicksale haben seiner Meinung nach in der heutigen Zeit nichts zu suchen.
Helmut Weigerstorfer
Hallo,
ich bin etwas jünger als Sepp Sager, aber an vieles habe ich unvergessliche Bilder. Flucht aus Ostpreußen, das Leben im Viehwagen, die Ankunft im Juni 1945 in München usw.
Damals hat man Juden vergast, heute fängt man an, Flüchtlinge in Heimen anzuzünden. Haben denn die Leute keine Erinnerung mehr? Wissen die jungen Leute nichts mehr von der Schuld, den Tränen, der Not und dem Tod der damaligen Zeit. Ist wirklich alles schon vergessen?
Hallo Christa, Du hast recht. Manchmal muss man sich fragen, wie dicken manche Menschen? Haben sie kein Gewissen mehr? Viele plappern einfach nach, was sie von anderen hören. Es sind ja gerade diejenigen, die selbst noch nichts mitgemacht haben, sie kennen weder Not noch Unterdrückung, sie haben noch nie Hunger gelitten und sie waren noch nie Heimatlos.
Die Frage ist, sind nicht auch wir Schuld an der Einstellung einiger junger Leute? Haben nicht wir immer gesagt: „unseren Kindern soll es besser gehen als uns!“ War das ein Fehler?
Ich wünsche keinem unsere Vergangeheit, doch machmal wäre eine „starke Hand“ angebracht.
Hallo Herr Sager,
Mit großem Interesse habe ich Ihre obigen Zeilen gelesen. Meine Eltern sind ebenfalls aus Winterberg vertrieben worden. Sie hatten dort eine Bäckerei. Können Sie sich erinnern, in welcher Straße diese war. Ich möchte in diesem Sommer Winterberg besuchen und es wäre toll, wenn ich näheres wüsste.
LG
Roland Schwind
Hallo, mein Urgrosssvater und Opa hatten die Kürschnerei Ludwig Eiter in Winterberg. Ich habe Fotos von dem Ladengeschäft und unserem Haus dort. Der Metzgerssohn war der Freund meiner Grosstante. Haben Sie mittlerweile schon mehr erfahren?
Grias God Herr Sager, liebe Heimatvertriebene
Mia samma aus Krummau an der Moldau austrieben worden. Ois hamma liegen und steh‘ lassen müssen, als die Amerikaner uns aufgeben hab‘n. Tante Herta wolltens verschleppen, da Opa hat sich den Russen in Weg gstellt. A Nachbar is zu die Amis gschickt word‘n und geholfen.
Mia hamma nix verbrochen und da Krieg war scho a Zeit lang aus. Erst in der Schweiz samma 1962 aufgnomme und als Menschen behandelt worden.Wir waren endlich in Sicherheit! Hier haben wir den Völkermord an uns Sudetendeutschen beim Namen nennen dürfen.
Solang die Tschechen die Enteignungen und die Vertreibung nicht anerkennen und entschädigen, haben diese keinen Platz in unserem Europa.
Oft fahren wir an‘d Grenz und schaun ummi. Aus Respekt vor unseren Grosseltetn setzen wir keinen Fuss in unsere Heimat. Vielleicht sehen wir uns einmal im Gasthaus Kellermann in Grafenau, oder im Passauer Hof, wer weiss! Bleibn‘s gsund und vergessen‘s d‘Hoamet nie!