Passau/Regensburg/Deggendorf. Als „eine auf europaweite Harmonisierung von Studiengängen und -abschlüssen sowie auf internationale Mobilität der Studierenden zielende transnationale Hochschulreform […], die auf die Schaffung eines einheitlichen Europäischen Hochschulraums gerichtet ist“, wurde er einst proklamiert: der Bologna-Prozess. Transparenz und Mobilität lauteten zwei der Schlagworte, an denen es sich zu orientieren galt. Immer mit dem ehrgeizigen Ziel vor Augen, sämtliche Studiengänge und -abschlüsse europaweit zu vereinheitlichen. Weniger harmonisch als die ursprüngliche Definition gestalten sich dagegen die Debatten über die Umstrukturierung des Hochschulwesens, die im Jahr 1999 mit der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung begann. „Verschulung“, „Ent-Individualisierung“ und „Bürokratiemonster“ lauten die Kritikpunkte, die in diesem Zusammenhang immer wieder fallen.
Für viele Studenten beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit
Bis heute spüren die Studierenden die Auswirkungen dieser einschneidenden Veränderung in ihrem eigenen Hochschulalltag. Denn: Im Verlauf dieses Prozesses sind „dank“ einer intensivierten Modularisierung auch die Anforderungen an die Studenten stark gestiegen. Alle Studienfächer sind mittlerweile bis ins Detail mit einem strikten Punktesystem durchstrukturiert worden – und lassen daher sowohl den Professoren als auch den leidgeprüften Studierenden kaum noch Freiheiten. Wichtigstes Kernstück der Bologna-Reform sind die Leistungspunkte, genannt „Credit-Points“, die ein Student für eine Veranstaltung erhält. Diese drücken keine qualitative Bewertung einer Leistung aus, sondern benennen den mit ihr zeitlich verbundenen Aufwand – gemessen in Stunden. Man orientiert sich dabei am European Credit Transfer and Accumulation System, einer europaweiten Einrichtung zur Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit des Hochschulwesens.
Für den Studenten bedeutet dies, dass auch die häusliche Vorbereitung in die Gewichtung einer erbrachten Leistung miteinfließt. Während einst Diplom- und Magisterstudenten die Uni nur 20 Stunden in der Woche besuchen mussten, ist das heutige Bachelor-Master-System tatsächlich auf eine 40-Stunden-Woche ausgelegt. In einem sechssemestrigen Bachelorstudiengang müssen insgesamt 180 Leistungspunkte, (inklusive der abschließenden Bachelorarbeit) erbracht werden. Für viele Studenten beginnt damit ein Wettlauf gegen die Zeit. Nicht nur, dass sich die Studienzeit in den einzelnen Fächern von einstmals acht auf heute sechs Semester verkürzt hat. Nein. Auch der Druck, keine unangenehmen Fragen beim Vorstellungsgespräch mit dem potentiellen Arbeitgeber aufkommen zu lassen, spielen dabei eine Rolle. Man könnte ja schließlich außerhalb der geforderten Regelstudienzeit liegen (und gar sieben oder acht Semster bis zum Abschluss benötigt haben)…
So kommt es, dass man Semester für Semester von einer Veranstaltung zur nächsten jagt, um eifrigst den Worten des Professors zu lauschen, der seinen Vortrag visuell durch einen Stapel an Power-Point-Folien untermalt. Analog dazu darf man jenen Stapel Folien Wort für Wort feinsäuberlich auswendig lernen, um am Ende des Semesters beim Abschlusstest einen Fragenkatalog im Multiple-Choice-Format zu bewältigen. Dann, nach Bestehen der Arbeit, darf das zuvor hastig ins Kurzzeitgedächtnis gestopfte Wissen den bereits wartenden Neu-Informationen aus den nächstfolgenden Kursen freilich wieder Platz machen. Trichterprinzip: Viel Wissen oben rein – und komprimiertes Wissen unten wieder raus. Damit die Maschine nicht heißläuft…
Die Studierenden werden immer jünger…
Spätestens ab hier dürfte klar sein, dass das heutige Studenten-Dasein nur noch wenig mit der einst so vielgepriesenen „besten Zeit des Lebens“ zu tun hat (Rainer Langhans lässt grüßen…) – und das, obwohl für viele doch mittlerweile kein Grund mehr zur Eile bestünde. Denn dazu kommt, dass man die Studierenden insbesondere durch die Einführung des achtstufigen Gymnasiums in Bayern nun noch früher ins universitäre bzw. freiwirtschaftliche Haifischbecken entlässt, als vorher. So kann es schon mal vorkommen, dass der Professor in der Einführungsvorlesung vor lauter kichernden 17-Jährigen versucht, die Ernsthaftigkeit seines Stoffes zu vermitteln, während abends an den Diskothekeneingängen mit Aufsichtszetteln und Ausweiskopien der Eltern vor den Türstehern herumhantiert wird.
Auch wenn es zum Beispiel an der Universität in Passau nur eine sehr geringe Zahl an minderjährigen Studenten gibt, wie Katrina Jordan, Leiterin des dortigen Referats für Medienarbeit, wissen lässt, sei man dennoch auf derartige Fälle vorbereitet. „Bei uns besteht die Möglichkeit, dass Eltern eine entsprechende Vollmacht ausstellen, mit der die Studierenden im Campus-Alltag selbst eine Unterschrift leisten können“, sagt Jordan. Um einer falschen Studienwahl vorzubeugen, bietet die Universität vom Schnupperstudium in den Ferien über Messen und Schulbesuche bis hin zur persönlichen Beratung – bei der natürlich auch Eltern willkommen sind – ein breites Programm an.
Laut amtlicher Zahlen hat die Summe der Studienanfänger und -anfängerinnen, die zum Auswertungsstichtag erst 17 Jahre alt waren, seit 2011 tendenziell zugenommen. Hierbei handle es sich jedoch speziell in Passau um einen sehr geringen Anteil, der sich auf die Alterstruktur der Studierenden insgesamt nicht erkennbar auswirkt. Im kürzlich zu Ende gegangenen Sommersemester 2015 wie auch in den vergangenen Sommersemestern habe man in Passau gar keine minderjährigen Studienanfänger und -anfängerinnen registriert, so Jordan.
„…dass ich wohl noch etwas zu jung war, um zu begreifen…“
Johannes erinnert sich an seinen Studienbeginn vor vier Jahren. Er gehörte zu den Entlassschülern des ersten G8-Jahrgangs, der zeitlich parallel mit dem letzten G9-Jahrgang Abitur gemacht hat. Wie bei jedem Abiturienten war auch bei ihm zunächst einmal feiern angesagt. Um sein zukünftiges Dasein als Student hat er sich zu diesem Zeitpunkt noch keine Gedanken gemacht, wie er offen zugibt. „Ich war schon immer computerbegeistert. Bereits seit meiner Kindheit verbringe ich einen Großteil meiner Freizeit mit Zocken.“ Für ihn und seine Eltern stand es daher außer Frage, dass er auch beruflich seinem Hobby nachgeht. Ohne jegliche Zweifel begann er deshalb zum Wintersemester 2011 an der Hochschule Deggendorf den Bachelorstudiengang Informatik zu studieren.
Schon bald bemerkte er jedoch, dass seine Erwartungen nicht erfüllt werden. Nicht nur, dass er als Immer-Noch-Teenager einer der jüngsten unter den größtenteils bereits berufsehrfahrenen Mittzwanzigern war. Auch die Inhalte des Studiums waren das komplette Gegenteil von dem, was er an Talenten mitbrachte. Statt Programmierung und Datenmodellierung standen Physik und Elektrotechnik auf dem Stundenplan. Umstände, die ihn letztlich – auch nach ein paar Semestern in der Hoffnung, alles würde sich zum Guten wenden – in die Knie zwangen. Nach einem weiteren gescheiterten Versuch in einem anderen Studiengang an derselben Hochschule konnte er schließlich eineinhalb Jahre später im Studiengang Medieninformatik an der Universität Regensburg durchstarten. „Rückblickend muss ich mir eingestehen, dass ich wohl noch etwas zu jung war, um zu begreifen, was ich eigentlich konkret möchte – und dass es nicht unbedingt förderlich ist, wenn man sich bei der Auswahl des Studienortes an den Klassenkameraden orientiert.“
„Praktika waren das einzig Sinnvolle…“
Ihrem Studiengang treu geblieben ist Melissa. Auch sie war Absolventin des ersten G8-Jahrgangs. Im Gegensatz zu Johannes wusste sie bereits seit der sechsten Klasse, dass sie Grundschullehrerin werden möchte. Heute, knapp vier Jahre später, steht sie kurz vor ihrem Examen – mit gerade einmal 22 Jahren. Ihr vernichtendes Urteil lautet jedoch: „Gelernt, wie man richtig unterrichtet, habe ich in all den vielen Semestern nicht.“ Stattdessen erzählt sie von Seminaren, in denen sie sich mit Integralrechnungen, dem Lösen von Differenzialgleichungen oder Kurvendiskussion beschäftigte. „Wieso ich da drinnen sitzen musste, ist mir bis heute ein Rätsel“, sagt sie auch heute noch mit verständnisloser Miene. Ihr Ziel, Grundschullehrerin werden zu wollen, habe sie mehrmals aus den Augen verloren. Einzig die Praktika haben ihr geholfen über so manche „Durststrecke“ hinwegzukommen. „Um ehrlich zu sein, waren die Praktika das einzig Sinnvolle in meiner Studienlaufbahn. Durch sie wurde ich immer wieder daran erinnert, was mich später tatsächlich erwartet.“
Druckaufbau vom ersten Tag an….
Ähnliches berichtet Sabrina. Sie begann vor zwei Jahren ihr Anglistikstudium in Würzburg. „Bereits nach zwei Semestern war ein Großteil der Komillitonen weg“, sagt sie. Die Gründe dafür seien unterschiedlich. Der eine habe sich vom Studium etwas anderes erwartet, der andere zum dritten Mal eine Klausur nicht bestanden. Und dann gäbe es viele, die einfach dem Druck nicht mehr standhalten können, weiß sie. „Dass das Studium kein Zuckerschlecken ist, war mir klar. Nur die Art und Weise, wie man durch diesen Marathon gepeitscht wird, getragen von der dauernden latenten Angst, es könne jederzeit vorbei sein, weil man irgendeine Frist überschritten oder eine Klausur endgültig nicht bestanden hat, setzen einem mit der Zeit schon zu.“ Dadurch, dass bereits anfängliche Klausuren für die Endnote im Bachelor-Zeugnis ausschlaggebend sein können, würde bereits vom ersten Tag an Druck aufgebaut.
„Karriere-Programm“ als Auffangtuch für Studienabbrecher
Genaue Zahlen zu den Studienabbrechern gibt es nicht. Das teilt auch Katrina Jordan mit. Zu hoch sei die Dunkelziffer derer, die sich für die Exmatrikulation entscheiden. Zudem könne man von universitärer Seite nicht den weiteren Weg der (vermeintlichen?) Abbrecher weiterverfolgen. „Es ist nicht verpflichtend, gegenüber der Universität die Gründe für die Exmatrikulation anzugeben. Deshalb kann die Universität zahlenmäßig nicht erfassen, wie viele Studierende genau wechseln, anderswo weiterstudieren oder die Universität ganz verlassen“, teilt Jordan auf Hog’n-Nachfrage mit.
Dennoch sei man auch in der Dreiflüssestadt bestrebt, die Zahl der Abbrecher so gering wie möglich zu halten und stattdessen den jungen Menschen unter die Arme zu greifen. Mit dem Studienabbruch-Programm „Neustart – Karriere 2.0„, welches die Universität Passau gemeinsam mit der Industrie- und Handelskammer Niederbayern, der Handwerkskammer Niederbayern-Oberpfalz und der Agentur für Arbeit in Passau entwickelt hat, möchte man Studierenden, die vor der Entscheidung stehen, ihr Studium abzubrechen, neue Wege aufzeigen. Dazu baut die Universität auf eine enge Vernetzung mit berufs- und ausbildungsberatenden Institutionen in der Umgebung, wie Katrina Jordan informiert. Den jungen Menschen werde hier angeboten, sich über alternative Karrierewege zu informieren. Bei Bedarf vermittele die Universität den Betroffenen sogar den Kontakt zu geeigneten Ansprechpartnern in den Partner-Institutionen.
David Salimi