Neuschönau. Fast ein Jahr ist es nun her, dass die ersten Asylbewerber in Neuschönau im ehemaligen „Sporthotel Heidelberg“, einer sogenannten dezentralen Erstaufnahmeeinrichtung, untergebracht wurden. Überrascht und mit der neuen Situation überfordert reagierten damals die regionalen Entscheidungsträger, die von der nächsthöheren Regierungsstelle eigenen Angaben zufolge vor vollendete Tatsachen gestellt worden sind. In der Neuschönauer Bevölkerung vermischten sich sogleich Unsicherheit, Ungewissheit und Angst vor dem Fremden, die die Neuankömmlinge aus Syrien, Afghanistan und vielen weiteren Ländern mit sich brachten. Und auch die Ressentiments und Vorurteile, die ausländerfeindlichen Parolen ließen nicht lange auf sich warten. „Wir befinden uns im Krisenmodus, wir haben es mit einem Tsunami in Menschenform zu tun“, versuchte Elisabeth Freitag (Regierung von Niederbayern) Anfang November 2014 auf einer eiligst einberufenen Bürgerversammlung vor rund 200 Neuschönauer Bürgern zu erklären.
Eine, die damals im Bürgersaal mit dabei war und von Anfang an die Entwicklung der Asylunterkunft in der Nationalparkgemeinde hautnah mitverfolgte, ist Kerstin Halser. Die 38-jährige Ergotherapeutin wollte – wie so viele andere – nicht einfach nur tatenlos zuschauen und die Szenerie der ankommenden Flüchtlinge aus sicherer Entfernung beobachten. Sie wollte mitanpacken, sich engagieren, helfen, mit den Leuten in Kontakt treten. Bereits wenige Tage nach dem Eintreffen der Asylbewerber rief sie deshalb die Initiative „Neuschönau zeigt Herz“ ins Leben. „Man kann sich nicht aus der Verantwortung ziehen“, fasste Kerstin Halser damals dem Hog’n gegenüber die Gründe für ihr Engagement zusammen. Unzählige Mengen an Kleidung und Spielsachen haben sie und ihre Mitstreiter seitdem für die Männer, Frauen und Kinder aus dem Nahen Osten und aus Afrika gesammelt, etliche ehrenamtliche Stunden haben sie für Arztbesuche, für Besorgungsfahrten und Behördengänge investiert, um den Flüchtlingen ihre Ankunft im Bayerischen Wald ein bisschen zu erleichtern.
Kerstin Halser: „Die Leute nicht einfach nur verwahren“
„Den Unterkunftsbewohnern geht es ganz gut“, beschreibt die Neuschönauerin die momentane Situation im ehemaligen „Sporthotel Heidelberg“, wo im Oktober 2014 die ersten Menschen Zuflucht gefunden haben. Einige seien das Prozedere – die Registrierung, die medizinischen Untersuchungen, die Erstversorgungsmaßnahmen – unmittelbar nach der Ankunft bereits gewohnt, so Halser. Seit Bestehen der Erstaufnahmeeinrichtung hat sie schon viele Flüchtlinge kommen und gehen sehen. Zu manchen Mitgliedern der „ersten Generation“, die vor rund einem halben Jahr nach Bad Griesbach verlegt wurden, hält sie auch heute noch Kontakt. Sie weiß: „Diese haben jetzt eine permanente Aufenthaltsgenehmigung; sie sind froh, weil sie sich jetzt zumindest schon selbst versorgen dürfen – und dennoch würden sie gerne mehr machen, würden gerne arbeiten und selber ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie hätten gerne eine sinnvolle Beschäftigung – und teilweise arbeiten sie, wie ein syrischer Arzt, als Volunteer ohne Gehalt.“
Es sei nämlich nicht einfach damit getan, dass man die Leute verwahrt und ihnen Nahrung und Unterkunft gibt, ist Kerstin Halser überzeugt. „Sie müssen auch beschäftigt werden, brauchen etwas zu tun – sonst drehen sie irgendwann am Rad.“ Wie man dem entgegensteuern kann, dass Flüchtlinge, deren Asylverfahren in der Schwebe hängt, nicht aus Langeweile und Nichtstun die Nerven verlieren? „Wir von Neuschönau zeigt Herz sind hier von den Möglichkeiten her leider auch relativ eingeschränkt, weil es sich ja um eine Erstaufnahmeeinrichtung handelt, in der das Thema Integration nicht so im Vordergrund steht wie in dauerhaften Unterkünften“, erklärt die Neuschönauerin. Ihrer Meinung nach von Nöten sei der frühe Erwerb deutscher Sprachkenntnisse, da die Asylbewerber meist nur ihre Muttersprache sprechen und auch wenig bis keine Englischkenntnisse haben. „So könnte man diese erste Zeit des Ankommens und Wartens schon sinnvoll nutzen.“
Es komme ihrer Meinung nach darauf an, dass die Leute – die trotz anderslautender Vorhersagen der Regierung auch schon mal mehr als zwei bis drei Wochen (und noch änger) in Neuschönau verweilen, bevor sie weiterverlegt werden – in irgendeiner Form eingebunden werden. Zum Beispiel durch Projekte, die dem Gemeinwohl dienen. „Die Bereitschaft der Asylbewerber, sich zu engagieren, ist hoch. Die Flüchtlinge wollen ja mit den Menschen in der Region in Kontakt kommen“, findet Halser.
Blick ins Innere der Neuschönauer Asylbewerberunterkunft:
„Neuschönau zeigt Herz“ zählt inzwischen bis zu 50 Helfer
Mittlerweile, wie die engagierte Mutter dreier Töchter berichtet, verfüge „Neuschönau zeigt Herz“ über einen recht ansehnlichen Pool an Helfern – „angefangen bei engagierten Mamis, die Patenschaften für Neugeborene übernehmen, bis hin zu Übersetzern, die wertvolle sprachliche Dienste leisten und den Flüchtlingen die wichtigsten deutschen Sprachwendungen beibringen“. Rund 15 freiwillige Helfer gehören zur Stammbelegschaft, die permanent und je nach Bedarf einsatzfähig sind – insgesamt seien es 40 bis 50 Leute, auf die „Neuschönau zeigt Herz“ zurückgreifen könne.
Deren Unterstützung erfahren die Asylbewerber unter anderem beim Einkaufen, beim Ämtergang oder beim Arztbesuch. „Und die jüngeren Waidler gehen mit den jüngeren Asylbewerbern abends auch schon mal weg oder machen gemeinsame Ausflüge“, weiß Kerstin Halser. Auch mit dem Nationalpark gebe es eine Kooperation, in deren Rahmen den Flüchtlingen Führungen durch den Wald oder der Besuch auf dem Baumwipfelpfad ermöglicht werde. Bei medizinischen (Notfall-)Behandlungen bestehen inzwischen gute und zuverlässige Kontakte zu Allgemein- und Zahnärzten aus der unmittelbaren Umgebung, die sich auf eigene Kosten um die ausländischen Patienten kümmern. Eine Medizinerin bringe immer wieder mal Medikamente vorbei, Apotheker hätten sich ebenfalls dazu bereit erklärt, falls nötig, schnelle und unkomplizierte Hilfe zu leisten.
„Vor Ort haben sämtliche Hilfsorganisationen ganz toll zusammengearbeitet – wir haben zum Beispiel vom ehrenamtlichen Verein Waidler helfen e.V. aus Schönberg und Spiegelau viel Unterstützung erfahren“, erzählt Kerstin Halser. Und, nicht zu vergessen: Ein Großteil der Bevölkerung trage einen nicht minder wichtigen Teil dazu bei, dass es den Flüchtlingen an nichts Elementarem mangele: So werden Kleider und Sachspenden abgegeben, sortiert und an die Menschen weitergegeben – auch unter tatkräftiger Mithilfe der Neuschönauer Gemeindemitarbeiter.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten läuft’s jetzt ganz gut
„Einen Tag nach der Ankunft der ersten Asylbeweber bin ich rausgefahren ins Hotel, um mir selbst ein Bild von der Lage zu machen“, erinnert sich Kerstin Halser mit einem Lächeln. Nach anfänglichen Schwierigkeiten – vor allem aufgrund der von öffentlicher Seite unter Zeitdruck erst neu zu schaffenden Strukturen – hat sich ihre Initiative nun etabliert, zählt zu den nicht mehr wegzudenken Stützpfeilern einer funktionierenden und anteilnehmenden Neuschönauer Zivilgeselschaft. „Wir arbeiten mit den Behörden und der Gemeinde eng zusammen und ergänzen uns inzwischen sehr gut. Die Anfangsprobleme waren ganz normal, weil eben niemand so recht wusste, was da genau auf uns alle zukommt.“
Wie all das ehrenamtliche Engagement, vor allem zeitlich zu schaffen sei? Kerstin Halser konnte ihre beruflichen Pflichten in den ersten zwei Monaten gänzlich auf ihre Angestellten verteilen. „In der Zeit habe ich mich voll auf die Asylbewerber konzentriert“, sagt sie. „Jetzt haben wir ein gut funktionierendes Team mit vielen Helfern, wir tauschen uns täglich aus, welche Aufgaben anstehen, und welche Probleme es zu lösen gilt.“
Viele hatten begriffen: „Ganz normale Leute wie Du und ich“
Auch die zuvor weit gestreuten Bedenken in der Bevölkerung haben Kerstin Halser zufolge nachgelassen bzw. sich verflüchtigt, nachdem die Neuschönauer gesehen hatten, dass die Asylbewerber „ganz normale Leute wie Du und ich sind“. Die Angst vor dem Unbekannten, dem Fremden, die auch auf der Bürgerversammlung zum Vorschein gekommen war, hätten gewisse Spannungen entstehen lassen. „Das Klima war anfangs – gerade auch im Netz- teilweise verseucht mit rechter Propaganda und Vorurteilen“, ruft sich die 38-Jährige ins Gedächtnis. Nun sei davon so gut wie nichts mehr übrig – „vor allem deshalb, weil die Bevölkerung gesehen hat, dass viele Befürchtungen ins Leere gelaufen sind“. Es sei einer der wichtigsten Punkte in dieser Entwicklung gewesen, jene vorherrschenden Ängste und Meinungsbilder abzubauen. „Wobei uns wir von ‚Neuschönau zeigt Herz‘ von vornherein aus jeglichen politischen Diskussion rausgehalten haben“, wie die gelernte Ergotherapeutin sogleich anfügt. Es ging den Anhängern vorrangig immer nur ums Helfen – unabhängig von Hautfarbe oder Herkunft.
Im Laufe der Zeit habe sich herausgestellt, so Halser, dass sich die Kriminalitätsrate aufgrund der Anwesenheit der Flüchtlinge eben nicht erhöht hatte. Ebenso habe sich gezeigt, dass es sich bei den Asylbewerben fast ausschließlich um freundliche und aufgeschlossene Menschen handele, die froh sind, in Sicherheit zu sein und zur Ruhe zu kommen. „Fast ausschließlich“ deshalb, weil es logischerweise in jeder Ansammlung von Leuten – egal welcher Nation, Religion oder Ethnie sie angehören – Ausreißer gäbe. Hier sei es jedoch wichtig, ganz klare Regeln für ein „Miteinander“ aufzustellen und konsequent zu sein. 150 Flüchtlinge für ein kleines Dorf wie Neuschönau, das sei definitiv eine Herausforderung.
Doch alle zusammen meistern die Aufgabe mit Bravour. „Wir haben mit den Flüchtlingen geübt, wie man sich richtig vorstellt und wie man höflich grüßt – das hat sehr schnell Früchte getragen“, freut sich die 38-Jährige. „Sie wussten ja nichts von unseren Sitten und Umgangsformen.“
Die Asylbewerber seien stets dankbar dafür, dass ihnen diese einfachen Gepflogenheiten mitgeteilt werden, nehmen das Beigebrachte gerne an. Und die Neuschönauer zeigen sich im Gegenzug begeistert davon, dass ihre „kulturellen Gegegebenheiten“ von den Afghanen und Syrern angenommen wurden. So funktionieren die ersten Schritte der Integration. Es gilt, Vorurteile abzubauen, sich aufeinander zuzubewegen. Es klappt. So problemlos, so simpel.
Stephan Hörhammer
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Engagement für „Neuschönau zeigt Herz“
Wer das Projekt „Neuschönau zeigt Herz“ unterstützen möchte, sei es mit Sprachkenntnissen, mit Kleider- und Sachspenden (derzeit werden dringend Schuhe benötigt), gespendeter Zeit oder sonstigen Hilfestellungen, der kann sich bei Kerstin Halser auf der Facebook-Seite „Neuschönau zeigt Herz“ bzw. der Telefonnummer 0151-27540573 melden.
Weiterführende Links:
- Asylbewerber in Neuschönau: 93 Flüchtlinge ziehen ins Sporthotel
- Gefahr von Rechts – „BSA – Freyung-Grafenau“
- Erstaufnahmeeinrichtung: Fragestunde in Neuschönau
- Syrer im 3-Sterne-Hotel: Wie Neuschönau mit den Asylbewerbern zurechtkommt
- Schulung für Ehrenamtliche: So erleichtert man Asylbewerbern die Integration