Prag. Die Zeit heilt alle Wunden. Dieser etwas klischeebehaftete Spruch mag durchaus zutreffen – wenn auch nicht immer. Noch heute sind gewisse Spannungen zwischen der deutschen und tschechischen Bevölkerung im Grenzgebiet aufgrund einiger unschöner Ereignisse vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg auszumachen. Zwar ist die Versöhnung mittlerweile weit fortgeschritten, dennoch gibt es auf beiden Seiten weiterhin viele Berührungsängste und Ressentiments. Dass sich bei allen Differenzen sowohl die Landschaft als auch die Menschen hüben wie drüben sehr ähnlich sind, betont die tschechische Regisseurin Lenka Ovčáčková nicht nur gegenüber dem Onlinemagazin „da Hog’n“, sondern versucht dies auch in ihrem Film „Tiefe Kontraste“ („Hluboké kontrasty“) darzustellen. Für die 38-Jährige aus Bojkovice ist das Thema „Grenze“ Zeit ihres Lebens von zentraler Bedeutung. Im Hog’n-Interview spricht sie über ihre bisherigen filmischen Werke und ihre Herangehensweise bei neuen Projekten. Außerdem wirft sie einen ganzheitlichen Blick auf das deutsch-tschechisch-österreichische Verhältnis.

Die tschechische Filmemacherin und Regisseurin Lenka Ovčáčková (38) beschäftigt sich in ihren Projekten mit dem Thema Grenze – und das stets auf eine sehr ganzheitliche Art und Weise. Fotos: Stephan Hörhammer/da Hog’n
„Jeder hat einen anderen Bezug zur Grenze, zur Landschaft“
Lenka: Wie bist Du zur Filmerei gekommen? Warum bist Du Regisseurin geworden?
… weil ich die Menschen so gerne mag. Sie faszinieren mich, jeder einzelne ist ein Unikat. Deshalb lege ich in meinen Filmen auch einen besonderen Fokus auf die Menschen. Zugegeben, Interviews sind eine formelle Sache. Meine Aufgabe ist es, einen sinnvollen Ablauf zu schaffen. Deshalb drehe ich auch nie etwas zweimal, weil für mich vor allem die Natürlichkeit des ersten Moments zählt. Alles andere wirkt nur gestellt.
Welche Aufgaben erfüllst Du konkret bei Deinen Drehs?
Ich mache eigentlich alles selber – vom Casting bis zur Kameraführung. Dadurch haben die Menschen so gut wie keine Hemmungen mehr, vor der Kamera zu agieren. Durch Vorgespräche, E-Mail-Kontakt und die Übersendung eines Exposés nehme ich ihnen von vornherein die Angst. Meine Fragen sind zudem nicht statisch, das heißt, es gibt keinen Standard-Katalog, den ich abarbeite. Ich bereite mich auf jeden Interview-Partner gesondert vor, das ist mir sehr wichtig. Denn: Jeder ist anders, jeden interessiert etwas anderes, jeder hat einen anderen Bezug zur Grenze oder zur Landschaft.
Du versuchst aber dennoch, das Gespräch in eine gewisse Richtung zu steuern, oder?
Ich versuche intuitiv wahrzunehmen, was für den jeweiligen Menschen das wichtigste Thema ist. Denn das kann derjenige dann auch am besten erklären. Dadurch merkt man im Film, dass sich die Leute wohl fühlen.
Blicken wir kurz zurück: Wie ist Deine bisherige „Film-Karriere“ verlaufen?
Zum Dokumentarfilm bin ich vor über zehn Jahren gekommen. Thema damals: ‚Přemysl Pitter – Liebet Eure Feinde‘. Vorher hatte ich mit dieser Branche eigentlich gar nichts am Hut. Ich habe Deutsch und Umweltwissenschaften studiert. Das Doktoratsstudium haben ich in Philosophie und Geschichte der Naturwissenschaften gemacht. Durch einen Regisseur, der bei uns an der Uni in Brünn Vorträge gehalten hat, bin ich dann zufällig zum Film gekommen. Er hat mich angesprochen und gesagt, dass er jemanden sucht, der gut Deutsch spricht. Und weil ich mich ohnehin gerade nach einen Ferienjob umgeschaut habe, habe ich sofort zugesagt. Das war der Einstieg.
„Warum ich so gut Deutsch spreche, kann ich nicht genau sagen“
Wie ging es dann weiter?
Nach dieser ersten Erfahrung habe ich die Chance bekommen, im Rahmen eines EU-Projektes einen Dokumentarfilm über die sächsisch-böhmische Schweiz zu machen. Bei den Dreharbeiten habe ich gemerkt, dass das genau mein Ding ist. Damals war ich aber nur Regisseurin. Kamera und Ton hat jemand anderer übernommen. Es folgte ein großes Projekt mit fünf Filmen über die Grenzgebiete Mitteleuropas. Dabei habe ich festgestellt, dass ich wesentlich besser arbeiten kann, wenn ich alleine bin. Ich war viel unterwegs – Ungarn, Slowenien, Österreich, Tschechien, Deutschland. Auf meinen Reisen sammle ich immer sehr viel Material. Und da ist es besser, wenn ich alleine bin. Für einen Film, der eine Stunde dauert, sammle ich rund 40 Stunden Material (lacht).
Danach habe ich an „Freiheitsdrang“ gearbeitet, einem feministisch ausgerichteten Film. Darin beschäftigen sich eine österreichische und eine tschechische Künstlerin mit dem Grenz-Thema. Der letzte Film war dann eben „Tiefe Kontraste“.

„Ich habe noch nie auf einen meiner Filme so viele positive Rückmeldungen bekommen, wie bei Tiefe Kontraste.“
Wie verdienst Du Dein täglich Brot – kannst Du von der Filmemacherei leben?
Ich verdiene mein Geld sowohl mit wissenschaftlichen Arbeiten an der Uni Prag als auch mit Filmen. Und die nächsten Projekte sind schon in Planung. Es wäre natürlich schön, von vornherein stets einen Geldgeber im Hintergrund zu haben, der die Projekte mitsponsert – von irgendwas muss ich schließlich ja auch leben.
Du hast vorher erklärt, dass Du über die Sprache zum Film gekommen bist. Warum sprichst Du so gut Deutsch?
Das weiß ich, ehrlich gesagt, auch nicht so ganz (lacht). Zuerst hatte mich eine ältere Historikerin in meiner Heimatstadt Bojkovice unterrichtet. Das war der Anfang – übrigens noch in der Systemzeit. Dann habe ich im Fach Deutsch Abitur gemacht – und es ging auch im Studium mit dieser Sprache weiter. Später ist dann eben noch die Geschichte der Naturwissenschaften dazugekommen. Dabei habe ich übrigens auch gelernt, die Dinge ganzheitlich zu betrachten.
Kommen wir zu Deinem Werk „Tiefe Kontraste“. Welche Reaktionen hat es nach der Veröffentlichung dazu gegeben?
Ich habe noch nie auf einen meiner Filme so viele positive Rückmeldungen bekommen. Bisher hat es bereits zwölf Vorführungen im deutschen, österreichischen und tschechischen Raum gegeben – natürlich nur an Orten, die auch einen grenzüberschreitenden Charakter haben. Die Besucher, meist ältere Leute, haben sich gewünscht, dass der Film auf jeden Fall auch in Schulen und im Fernsehen gezeigt werden sollte.
„Ich versuche, durch den Film die Versöhnung voranzutreiben“
Generell wird bei „Tiefe Kontraste“ ja ein Thema behandelt, das eher die ältere Generation anspricht, nicht?
Richtig. Eben deshalb möchten viele auch, dass der Film an den Schulen vorgeführt wird. Die Jüngeren wissen nicht mehr viel über die Vergangenheit, das deutsch-tschechische Verhältnis vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein großes Anliegen meinerseits ist es deshalb auch, die Problematik so darzustellen, dass es keinen Alleinschuldigen gibt. Ich versuche, durch den Film die Versöhnung voranzutreiben. Man muss wahrnehmen, was vor, während und nach dem Krieg war – die Vertreibung, das Entstehen des Grenzstreifens, die Sehnsucht nach der Freiheit während der kommunistischen Zeit – und letztlich auch die Wende.
Möchtest Du mit Deinem Film denn auch ein Stückchen die Welt verbessern?

„Ich werde mich wohl bis an mein Lebensende mit der politischen, der wissenschaftlichen und auch mit der uns selbst innewohnenden Grenze beschäftigen.“
Ja, schon. Ich bin Idealist. Primär ist das aber nicht die Motivation für meine Filme. Vielmehr ist es ein Drang in meinem Inneren: Wenn ich mit einem Projekt beginne, möchte ich es auch abschließen. Wobei wir wieder beim Ganzheitlichen sind. Ich werde mich wohl bis an mein Lebensende mit der politischen, der wissenschaftlichen und auch mit der uns selbst innewohnenden Grenze beschäftigen.
Warum fasziniert Dich gerade das Thema Grenze so sehr?
Das ist schwer zu erklären (überlegt) Das trage ich schon immer in mir. Dass ich Deutsch gelernt habe, war eher Zufall, passt aber zum Großen und Ganzen. Vom Charakter her sind sich die Deutschen und Tschechen im Grenzgebiet sehr ähnlich – trotz Sprachbarriere.
Die Sprache ist eine sehr hohe Hürde, oder?
Ja, das merke ich immer wieder. Es gibt schon einige Menschen im Grenzgebiet, die noch nie im jeweils anderen Land waren – weil sie eben die dortige Sprache nicht beherrschen. Hinzu kommt, dass oft die mentale Grenze weiterhin vorhanden ist. Für mich ist das jedoch schwer zu beurteilen, weil ich nicht nachvollziehen kann, wodurch diese Grenze entsteht. Angst spielt wohl noch immer eine große Rolle.
„Es wird nicht mehr so, wie es einmal war“
Ist es Deiner Meinung nach „gerecht“, dass die Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkrieges vertrieben worden sind, nachdem sie zuvor Tschechien erobert und ihrerseits sehr viel Unheil angerichtet hatten?
Nein, das ist natürlich nicht gerecht. Rache bringt nie etwas Gutes mit sich. Dass die Tschechen von Deutschen unterdrückt worden sind, ist genauso wenig gerecht wie die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg. Es hat vorher viele Verbindungen und Freundschaften gegeben, die dadurch plötzlich zerbrochen sind. Natürlich hat es in der Geschichte oftmals Streitigkeiten zwischen den beiden Völkern gegeben, was irgendwie normal ist. Aber ich denke, die frühere Mischung aus dem Deutschen, Jüdischen und Tschechischen war eine Bereicherung für uns alle. Es gibt heute viele Tendenzen dahingehend, dass das wieder so wird.
Wann wird das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Bayerwäldlern und Böhmerwäldlern, wieder so sein, wie es einmal war? Was glaubst Du?
Nie mehr. Dadurch, dass viele Leute weggegangen und viele Dörfer verschwunden sind, ist viel verbindende Kultur und Identifikation verloren gegangen. Es passiert viel in diese Richtung. Die jüngere Generation ist in dieser Hinsicht auch unbelasteter. Es wird besser werden, keine Frage. Aber es wird nicht mehr so, wie es einmal war.
Lenka, vielen Dank für das Gespräch – und alles Gute für die Zukunft.
Interview: Stephan Hörhammer
- Tiefe Kontraste: „Es ist sehr mühsam, ohne Versöhnung zu leben“
- Zur Website von Lenka Ovčáčková
- Zum Trailer von „Tiefe Kontraste“
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